Boulevard des Philosophes

Immer ganz nah am Geschehen, nichts hinzugefügt, aber noch weniger etwas ausgelassen. So kann man in zwei Sätzen diesen Rückblick, die Biographie, diese Ehrerbietung vor dem Vater beschreiben. Aber zwei Sätze reichen nun mal nicht aus, um dieses Buch, das vor mehr als einem Jahrhundert erschien – und nun endlich wieder auf Deutsch erhältlich ist – einzuordnen.

Biographen ist es in die Wiege gelegt Daten und Fakten der Reihe nach aufzuzählen. Wer hat wann das erste oder letzte Mal dies oder das getan. Heraus kommt allzu oft eine Tabelle in Prosaform, die sich zwar gut lesen lässt, jedoch das Wesen der beschriebenen Person nicht erfasst. Kaum hat man mal den Olymp der Charts erklommen, stehen schon die ersten Schreiberlinge auf der Matte, die jede Einzelheit aus dessen Leben genauestens kennen und daraus Profit schlagen wollen. Oft klappt das. Doch den Gipfelstürmer kennt man immer noch nicht.

Ganz anders in diesem Buch. Georges Haldas – fast vergessener Schweizer Poet – legt mit diesem Buch nicht nur Zeugnis ab. Er beschreibt seinen Vater als einen gebrochenen Mann. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war Kephalonia die Heimat des kleinen Georges. Dann wanderten die Eltern in die Heimat der Mutter, die Schweiz, Westschweiz, aus. Hier begann für den Vater ein Leidensweg, den er zeitlebens nie mehr verließ. Als Buchhalter schlug er sich durch, um die nötigen finanziellen Mittel aufzutreiben. Als Ausländer war er ständigen Sticheleien ausgesetzt. Als gebildeter Mann war er nicht mehr gefragt. Selbst im eigenen Hause nicht.

Oft drohte er aufzubrechen, in den norden, nach Spitzbergen. Nur, um Ruhe zu finden. Gen Süden, Griechenland, Kephalonia zog es ihn hingegen nicht. Die Heimat war ihm fremd geworden.

Der kleine Georges sah dem Trauerspiel unverstanden zu. Erst im Alter begriff er den Vater samt Schmerz und Zorn. Daraus erwuchs dieses Buch, das an Intensität kaum zu überbieten ist. Den einen oder anderen großen Knall sieht man als Leser vielleicht kommen. Doch er kommt in Etappen und bröckchenweise. Das macht es sehr angenehm in diesem Buch von einer Kindheit zu lesen, die lange zurückliegt – Georges Haldas wurde 1917 geboren. Immer wieder ertappt man sich dabei diesen einen großen Knall vermeintlich überlesen zu haben. Beim Zurückblättern merkt man einmal mehr, dass dieser nicht vorhanden ist. Das ganze Buch ist dieser ersehnte Knall. Und wenn man ganz leise ist, aufmerksam liest, dann bemerkt man ihn schon während des Lesens.