Alle gehen fort

Nieve schreibt Tagebuch. Und zwar seit dem Tag, an dem sie in ihrem Leben den ersten großen Bruch wahrnahm. Das sorgenfreie Leben bei Mami, einer Radiojournalistin, die nach einem Kriegsreportereinsatz in Angola nicht mehr dieselbe sein konnte, ist vorbei. Sie muss zu ihrem Vater ziehen. Zeitlich begrenzt zwar, doch ohne Aussicht, dass das erzwungene Exil sich in Normalität zurückverwandeln könnte.

Denn ihr Vater, Mitglied einer Theatergruppe, ist ein brutaler, versoffener Schläger. Die von ihm ihr zugefügten Wunden brennen nicht nur auf, sondern vor allem unter der Haut. Konspirative Telefonate mit Mami sind Fluch und Segen zugleich. Segen, weil die Mutter ihr Hoffnung gibt, sie in ihrem Tun bestärkt. Fluch, weil sie geheim bleiben müssen und sparsam gesät sind. Doch der Vater übertreibt es. Nieve wird ihm wieder entzogen, all seine Kontakte nützen ihm nichts mehr. Nieve geht wieder zurück zu ihrer Mutter.

Ihr Tagebuch war der einzige Freund, den Nieve jemals alles anvertrauen konnte. Die kubanische Revolution war gerade mal ein reichliches Jahrzehnt alt als die geboren wurde und nicht mal ein Vierteljahrhundert später beginnt Nieve die Seiten mit Leben zu füllen. Zuerst kindlich-naiv, später sorgenvoll mit all den Nöten, die einen Teenager plagen können.

Auch das Verhältnis zur Mutter wird kompliziert. Rebellion und Aufbruch gehen im Wechselbad der Gefühle Hand in Hand. Nieve sucht Anschluss unter den Mitschülern an ihrer Kunstschule. Doch auch hier kann sie sich nicht entfalten. Freunde und Bekannte, einer nach dem anderen verlässt sie, verlässt das Land. Die Hoffnung, dass auch sie jemandem folgen kann, ist nur ein schwaches Licht am Ende eines verdammt langen Tunnels.

Nieve bleibt, sie bleibt ohne sich anzupassen. Im Inneren lebt die Rebellion weiter. Nach außen verschließt sie sich. Ihr Tagebuch – das weiß sie inzwischen ganz genau – bleibt ihr Refugium der Selbstbestimmung. Die Welt um sie herum versinkt im Dreck, in Korruption, Willkür, dumpfer Regelmäßigkeit – doch Nieve ist zu stark, um der Realität den Rück zuzuwenden.

Wendy Guerra zieht den Leser mit jeder Zeile immer weiter auf ihre Seite. Fühlt man anfangs mit dem schutzlos dem brutalen Vater ausgelieferten Mädchen, so schöpft man neue Hoffnung, wenn aus dem aufgeweckten Mädchen eine junge Frau wird, die um ihre verlorenen Freunde trauert, dennoch ihren Stolz verlieren wird. Das steht fest. Nieve ist im gleichen Alter wie Wendy Guerra. Parallelen sind sicher nicht zufällig. Ein autobiographischer Roman über ein Kuba, das nicht so recht ins Bild der Hochglanzprospekte passen will, dass aber die Sehnsucht der Kubaner auf Vortrefflichste beschreibt.