Archiv der Kategorie: offenes Asien

Richtig hohe Absätze

Sich verbiegen, um den geraden Weg einschlagen zu können. Su Nuam ist fünfzehn Jahre alt. Und sie arbeitet schon. Als Übersetzerin. Aufgewachsen ist sie in der Nähe von Buenos Aires. Ihr Vater, ein Chinese, wird eines Tages von einem wütenden Mob ermordet. Sie und der Rest der Familie flieht. Nach China, zu den Großeltern.

Auf einmal ist nichts mehr wie es war. Keine nörgelnde Spanischlehrerin, die ihr Vorhaltungen macht, weil sie die Zeitformen nicht einhält – hier ist wichtig zu wissen, dass es im Chinesischen keine Verbformen dafür gibt. Die Freunde sind von einem Tag auf den anderen nicht mehr greifbar. Der Platz, der so trostlos ihr Refugium war, weicht dem hektischen Treiben in der Fremde.

Da kommt das Jobangebot als Übersetzerin für ein Unternehmen zu arbeiten gerade richtig. Und sie ist gut in dem, was sie tut. So gut, dass sie auch auf Reisen mitgenommen wird. Und eine führt sie geradewegs in ihre jüngere Vergangenheit zurück. Der Großvater als Begleiter ist ihr dabei die Stütze, die sie braucht, um nicht von ihrem geraden Weg abzukommen.

Federico Jeanmaire gelingt mit „Richtig hohe Absätze“ das Kunststück Gerechtigkeit in seiner reinsten Form in glaubwürdige politische Unkorrektheit überfließen zu lassen. Natürlich ist das junge Mädchen traumatisiert. Sie musste mit ansehen, wie teilweise sogar Freunde, ihrem Vater das Lebenslicht auslöschen. In Argentinien war sie sich nicht sicher, ob sie Chinesin oder Argentinierin ist. Zurück in China fühlt sie sich als Argentinierin mit chinesischen Wurzeln. Je näher sie dem Flughafen Buenos Aires kommt, desto mehr treten ihre chinesischen Wurzeln wieder hervor. In ihrem Kopf summt es, es klirrt, es scheppert.

Die Reise wird für die Unternehmensdelegation zum Erfolg. Der Deal zum Bau einer Gasleitung kann abgeschlossen werden. Auch dank Su Nuams Mithilfe, die gnadenlos jede Äußerung übersetzt. Ein Handgeld soll ihre Extrabelohnung sein. Und was wird sie sich wohl davon kaufen? Richtig: Schuhe. Aber welche mit richtig hohen Absätzen…

Eine Kurzgeschichte, die den Leser einfach nur amüsiert und von der ersten Seite an in ihren Bann zieht? Ja, und vor allem ein ganz großes Nein. Denn der Reiz der Geschichte liegt zwischen den Zeilen. Su Nuam reist nicht einfach nur zurück nach Argentinien. Sie reist zurück mit ihrem Spanischheft. Das birgt für alle außer ihr ein Geheimnis in sich, das den Leser erst nach und nach auffällt…

Herr Katō spielt Familie

Da kommt man tagein tagaus von der Arbeit zurück ins traute Heim. Einst stand die Frau am Fenster und winkte einem zu. Hier ist man zuhause, hier ist man daheim. Die Jahre verfliegen, Routine stellt sich, das Pflichtbewusstsein lässt einem kaum Raum zur Selbstentfaltung. Und dann der große Schnitt. Nix mehr mit Arbeit, nix mehr mit Winken, nix mehr mit Daheim. Die Frau scheucht einen aus dem Haus. Rente!

Herr Katō kennt das Gefühl. Lange Zeit hat er die ehemaligen Kollegen beneidet. Sie konnten ihre Rente genießen. Jetzt ist er an der Reihe. Doch der Rentneralltag ist trist. Seine Frau tanzt jetzt wieder. Nicht sinnbildlich, sondern in einem Kurs. Und wenn beide zuhause sind, steht er ihr im Weg. Sie schickt ihn raus. Eine Runde drehen, soll er. Was so viel heißt, dreh gleich mehrere … und das ganz langsam.

Bei einer dieser Runden lernt Herr Katō eine junge Frau kennen. Sie ist offen, fast schon ein wenig zu offen. Redet einfach drauf los. Und sieht in ihm einen potentiellen neuen Kollegen. Die Frage „Was schon wieder arbeiten? – Das habe ich doch gerade hinter mich gebracht!“ stellt sich nicht. Denn Herr Katō soll in die Agentur „happy family“ eintreten. Ersatz soll er sein. Ersatz-Bruder, Ersatz-Chef, Ersatz-Opa. Das ist das Geschäftsmodell. Lückenbüßer finden und den Kunden zur Verfügung stellen. Sie brauchen bei einer Feier die ultimative Lobhudelei? „Happy family“ hat den passenden Opa, Chef oder Bruder. Und Herr Katō ist der geborene Ersatz. Ob er nur den stummen Gatten spielen soll, weil der echte eine echte Quasselstrippe ist oder den fürsorglichen, hochgradig erstaunten Opa geben soll – Herr Katō ist die Idealbesetzung.

In seinem eigenen Leben tut sich aber auch etwas. Seine Schwiegertochter ist endlich schwanger geworden. Schon seit einiger Zeit versuchen sie und ihr Mann Nachwuchs zu zeugen. Und auch Herr Katō schafft es endlich einmal Reisevorbereitungen für Paris zu treffen. So viel zu tun und so wenig Zeit…

Milena Michiko Flašar beschreibt in ihrer Geschichte einen Mann, für den Aufgeben nicht in die Tüte kommt. Es läuft nicht alles so wie er es sich vielleicht einmal ausgemalt haben könnte. Doch es läuft. Sofort nach der Rente geht er zum Arzt und stellt mit Erschrecken fest, dass er kerngesund ist. Die Schockwirkung scheint ihn wegen der Überraschung stark zu treffen, umhauen kann sie ihn nicht. Neuer Weg, neues Ziel. Und pflichtbewusst wie eh und je nimmt er den steinigen Weg in Angriff. Die junge Frau, die ihm so schonungslos offen begegnet, ist die Reiseführerin in eine Zukunft, eine Kraftgeberin, die er nie zu treffen gehofft hätte.

Leise Töne von Melancholie geben dieser Geschichte den richtigen Drive. Mit kleinen „Hau-Rückchen“ stubst sie Herrn Katō wieder in die Spur des Lebens zurück. Mit jeder Seite gewinnt Herr Katō sein Lächeln zurück, für das ihm jeder Leser dankbar sein wird.

Gezeichnet

Yozo wurde in die Sorglosigkeit hineingeboren. Sorglos, was das Finanzielle angeht. Seine Familie hat Geld, kann ihm bieten, was er benötigt. Zumindest das, was man mit Geld kaufen kann. Im Familienverbund muss einen Weg finden sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Als Clown die anderen zum Lachen zu bringen, scheint ihm der geeignete Weg zu sein. Mit Erfolg.

Auch in der Schule sind seine Clownerien vom Erfolg gekrönt.

Doch das Leben hat sich einen perfiden Plan ausgeheckt. Yozo soll nicht – wie er es sich wünscht – der gefeierte Maler werden. Exzesse pflastern von nun an seinen Weg. Frauen sind ihm suspekt. Drogen und Alkohol seine ständigen Begleiter.

Der Autor Osamu Dazai – ein Pseudonym – wurde in die Sorglosigkeit hineingeboren. Sorglos, was das Finanzielle angeht. … Moment, das wurde doch eben über Yozo gesagt. Yozo und Osamu sind sich gleich. Wenn nicht sogar dieselbe Person. „Gezeichnet“ gehört in Japan zu den meistgelesenen Büchern. Die Düsternis des Textes wird durch die Vielfalt der Worte ins Unermessliche gesteigert.

Es dauert seine Zeit bis man sich an die Bitternis des Autors, der sich selbst im Vexierspiegel betrachtet, annehmen kann. Dann aber öffnet sich ein Meer der Emotionen, eine Farbenpracht der Einsamkeit für den Leser, der einen nicht mehr loslässt. Bilder, die sich so schonungslos offen hinter wohl geformten Worten verbergen, brechen wie ein Tsunami über den Leser herein.

Yozo / Osamu sind gequälte Seelen in einem starren System. Sie können niemals endgültig ausbrechen. Sie sind zum Scheitern verurteilt. Ohne jede Chance auf Begnadigung. Osamu Dazai unternahm in seinem Leben mehrere Selbstmordversuche. Woran sich scheiterten, ist nicht bekannt. Vielleicht hatte das Leben doch noch eine Hintertür einen Spalt weit geöffnet gelassen?! Doch Osamu Dazai sah das durchdringende Licht nicht, oder wollte es nicht sehen. An seinem neununddreißigsten Geburtstag fand man ihn. Tot. Keine vierzig Jahre alt, doch ein Werk, das seit sechzig Jahren immer wieder neue Leserschaften in seinen Bann zieht.

Coin Locker Babys

Das kann nicht gutgehen! Das wird einfach niemals gut ausgehen können! Es ist der 18. Juli 1972. In China fällt ein Sack Reis um, in Deutschland erreicht eine Frau ihr Rentenalter und in Japan wird Kikuyuki Sekiguchi in einem Münzschließfach entdeckt. Erstes rechnerisch der wahrscheinlichste Fall. Zweites ist rechnerisch bestimmt eingetreten. Drittes jedoch schnürt dem Leser die Kehle zu. Präzise wie ein Skalpell beschreibt Riū Murakami wie eine namenlose Frau sich für eine Tat vorbereitet, die so unbeschreiblich ist. Sie setzt ihr Kind in einem Münzschließfach aus. Wohlbehütet in einem Karton. Und da schwimmt der Leser erst auf den ersten Handvoll Seiten und hat noch weit mehr als fünfhundertfünfzig vor sich!

Kiku kommt zu Nonnen. Sie ziehen ihn groß, genauso wie Hashio Mizouchi, genannt Hashi. Da ihre Eltern nicht bei einem tragischen Unglück ums Leben kamen, bleiben sie eine sehr lange Zeit bei den Nonnen. Bis sich eines Tages ein Paar ihrer erbarmt und sie mitnimmt. Auf eine einsame Insel. Hashi ist es, der Kiku erzählt, wer sie sind, woher sie stammen.

Hashi sucht das Glück in der Isolation. Nähe lässt er nicht zu. Nur Kiku vertraut er. Der jedoch ist ein rechter Spring-Ins-Feld. Er würde lieber heute als morgen ausbrechen und die Welt aus den Angeln heben. Sie wachsen heran. Typische Jungens, die auch mal über die Stränge schlagen. Alles nichts, was nicht woanders auch passiert. Doch tief im Inneren nagt ein Drang. Der Drang ihren Müttern die Rechnung zu präsentieren.

Die erste Registrierkasse finden sie im Giftghetto von Tokio. Hier ist das Tokio der Hypertechnologie gegen das Schwarz der Unterwelt, der Freaks und der Halbseidenen ausgetauscht worden.

Doch Hashi scheint auf einem guten Weg zu sein. Er ist mit einer begnadeten Stimme ausgestattet. Kiku hingegen entwickelt sich zu einem Typen, dem man das Prädikat Rächer auf Anhieb abnehmen würde. Immer wieder trennen sich ihre Wege genauso oft wie sie sich kreuzen werden. Knast, Ruhm, Erfolg und Depression können auch von ihren Partnerinnen nicht aufgehalten werden. Kiku hat sich in Anemone verknallt. Die hat sich extra für ihr Krokodil (!, nein kein Tippfehler) ihre Wohnung artgerecht umbauen lassen. Hashi und Niwa scheinen dagegen so etwas wie ein normales Leben führen zu dürfen. Bis Niwa schwanger ist…

Man braucht schon starke Nerven und Durchhaltevermögen, um diesen Roman zu lesen. Absetzen ist keine Option! Wer einmal die erste Seite überstanden hat, wird sofort süchtig. Datura ist das Elixier, das Kiku antreibt. Was das ist, wird nur verschwommen erklärt. Ein Gift. Ein Gift, das alles andere wie LSD oder Meskalin wie lauwarmes Leitungswasser erscheinen lässt. Ist es wirklich das elysische Delirium, das beide oder einen von beiden erwartet? Oder ist es nur die Frucht der Versuchung? Keiner weiß es, aber der Weg dorthin ist mörderisch!

Mein pochendes Leben

Als Sechzehnjähriger ist das Leben an sich schon eine Herausforderung, die man nicht immer schultern kann. Arum sieht dies mit einer Gelassenheit, die einem Respekt abverlangt. Er ist an Progerie erkrankt. Eine Krankheit, die ihn deutlich älter aussehen lässt als er ist. Und auch sein Körper altert in einem Tempo, das einem der Atem stockt. Nun ist er sechzehn. So alt wie seine Eltern – als Mira Daesu sagte, dass sie schwanger sei. Für die beiden Teenager brach keine Welt zusammen, sie hatten keine Welt, die es aufzubauen galt. Miras Vater sah in Daesu einen Taugenichts, den Mira nicht verdient hatte. Doch genau diese – für Koreaner sicherlich untypische – Laissez-Faire-Haltung beeindruckte Mira. Sie rauften sich zusammen.

Als Arum zwei Jahre alt war, schlug die Diagnose wie eine unheilvolle Bombe ein. Doch Arum entwickelte sich zu einem wissbegierigen Jungen. Er las viel, war aufgeschlossen und intelligent.

Jetzt fordert das Schicksal seinen Tribut. Die Behandlungskosten sind in astronomische Sphären geschossen und kaum noch zu bezahlen. Pfiffig wie Arum ist, bittet, fast schon bettelt er darum an einer Fernsehshow teilnehmen zu dürfen, in der die Zuschauer für die Behandlung eines Patienten spenden können.

Zögernd geben die Eltern ihren Segen. Die Produzenten wittern nach dem Vorgespräch den nächsten Scoop, da Arum so herzlich und unbefangen über sein Leben spricht. Wenige Tage nach der Ausstrahlung bekommt Arum Post. So-Ha schreibt ihm. Auch sie liege, wie mittlerweile auch Arum, im Krankenhaus, Knochenmarkkrebs, wie ihre Mutter. Die Mails werden immer offener, immer vertraulicher. Arum blüht auf. Auch wenn er immer eine längere Zeit auf die Antworten warten muss, ist es für ihn ein Fest endlich wieder von So-Ha lesen zu können. Da ist plötzlich jemand, mit dem er reden kann. Ganz ohne Einschränkungen, ohne Rücksicht nehmen zu müssen den Gegenüber verletzen zu können. Sein Leben hat einen Sinn zusätzlich geschenkt bekommen. Die Haltbarkeitszeit spielt dabei keine Rolle.

Doch die Freude währt nur kurz, denn So-Ha ist ein Phantom…

Ae-Ran Kim hat mit Arum eine Figur geschaffen, die ein Schicksal ereilt hat, das zu Herzen geht. Äußerlich ein alter Mensch, im Herzen jung wie ein Spring-Ins-Feld. Fast scheint es so, als der Junge seinen Eltern die Kraft gibt ihr eigenes Leben endlich auf die Kette zu bringen. Er selbst genießt das Leben, stellt kluge Fragen und wirkt dabei überhaupt nicht altklug. Ein sympathischer Junge, dem man im Innersten seines Herzens nur Gutes wünscht. Und dann wird er so perfide hinters Licht geführt. Ae-Ran Kim spielt nicht mit den Gefühlen des Jungen, sie führt den Leser in ein Land, das auf den ersten Blick so fremd wirkt wie kaum ein anderes. Doch Probleme sind die wahren global players. Krankheiten verursachen überall auf der Welt Schrecken und Unsicherheit. Arum ist sicherlich ein Held, wenn man die Schwere seiner Krankheit mit seiner Sicht auf die Dinge vergleicht. Leichtlebigkeit kann er sich nicht leisten. Doch Aufgeben ist auch keine Lösung. Wie ein Dichter nimmt er jede Herausforderung an. Rückschläge inklusive.

Sri Lanka fürs Handgepäck

Sri Lanka ist der Torwächter zum Paradies. Beim Lesen der ersten Seiten dieses Buches kann man gar nicht anderes denken. Jeder Autor dieser Anthologie bestätigt en ersten Eindruck mit der vollen Wucht seiner Worte.

Die Indigo Street ist das Füllhorn des Lebens. Spielende Kinder, der Krämerladen um die Ecke, die tosende See. Wer als Besucher diese Straße entdeckt, kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass er zwar auch ohne dieses Buch die Straße entdeckt, sie jedoch anders wahrgenommen hätte. Jede Zeile ein Volltreffer, der mitten ins Herz zielt … und vor allem auch trifft.

Und dann, gleich an zweiter Stelle, Hermann Hesse. Auf der Rückreise von Indien machte er Halt in Kandy. Ein Örtchen, das seinen Charme zu verstecken weiß. Doch nicht vor einem wie Hesse. Die nuancenreiche Sprache gibt jedem Grau den Regenbogen zurück. Ist man als Reisender in Sri Lanka, Kandy unterwegs, verleihen seine Worte dem Besucher Flügel.

Wen man wahrscheinlich weniger zu Gesicht bekommt, sind die Wedda. Helmut Uhlig ist dem Geheimnis dieser Ureinwohner auf der Spur. Nur wenige leben noch traditionell und schon ihre Nachfahren wurden von der Gesellschaft geschluckt und leben ein eher modernes Leben. Somit sind seine Zeilen ein echtes Zeitdokument, das jedem Reisenden einen staunenden Blick über den Tellerrand gewährt.

„Sri Lanka fürs Handgepäck“ – wie die gesamte Reihe – erlaubt tiefe Einblicke in ein Land, das so weit weg erscheint. Jedes Kapitel verjagt mit Wohlklang das Grau des Fremden und taucht es in ein farbenprächtiges Spektrum der Neugier. Mehr als nur kleine Tupfen von Wissen, die dem Leser das Gefühl geben Sri Lanka schon länger zu kennen, obwohl dieser maximal mit dem Finger auf dem Globus das Land gestreift hat.

Einem Reiseband kann man vertrauen, wenn es darum geht die Reise nach Höhepunkten zu sortieren. Schließlich will man ja nichts verpassen. Doch Zahlen, Wegweiser und nützliche Tipps sind nur die eine Seite der Reisemedaille. Sinngemäß in ein Land eintauchen kann man aber nur mit Büchern wie diesem. Als Leser profitiert man von den Eindrücken der Autoren. Und sie waren meist nicht nur als Vierzehn-Tage-All-Inclusive-Pauschalisten am Büffet, sondern sind ihrer Neugier gefolgt. Sie verfolgen einen anderen Ansatz als der einmalige Besucher der Insel. Wenn dann noch landestypische Erzählungen, de jahrhundertelang nur mündlich übertragen wurden in einem Buch erscheinen, ist man dem Eintauchen in eine fremde Kultur schon näher als man denkt. Reiseband – unbedingt zu empfehlen. Aber nur in Verbindung mit diesem Buch im Handgepäck!

Kampuchea

Die Angeklagten haben kein Verständnis für ihre Situation. Befehlsempfänger waren sie. Dass durch sie Millionen Menschen starben, tun sie als statistischen Akt ab. Nur einer bereut: Duch. S-21, das war sein Arbeitsplatz. Als Schule der Kolonialherren aus Frankreich einst errichtet, war es in den knapp vier Jahren der Roten-Khmer-Herrschaft die berüchtigte Folterkammer der Herren der Organisation. Er scheint wirklich zu bereuen. Doch wer kann schon in die Seele eines Menschen schauen…

Angka, die Organisation war das seelenlose, gesichtslose, regungslose Faktotum von Bruder Nr. 1, Bruder Nr. 2 und den anderen Revolutionsführern in Kambodscha. Die Organisation befahl, alle mussten folgen. Wer stolperte, fiel erst recht. Widerworte wurden mit dem Tode bestraft. Alles auf Anfang war die Devise. Kein privater Besitz, keine Ärzte, keine Bildung, keine Bücher, kein Radio. Nichts. Städte wurden ausgelöscht, das Landleben als einzige Form des Zusammenlebens geduldet. Einheitskleidung als notwendiges Übel.

Patrick Deville reist nach Kambodscha, in seine Geschichte, zu Menschen, zu Opfern, zu Tätern – nach Kambodscha, das unter der Knute der Roten Khmer sich Kampuchea nannte. Zahlreiche kleine Kapitel fügen sich im Laufe des Lesens zu einem großen Ganzen zusammen, einem Mosaik aus Farben und Blut.

Schon immer faszinierte das Land die Forscher. Ein gewisser Henri Mouhot ging eines Tages auf Schmetterlingsjagd. Dabei stieß er sich erst den Kopf und später auf das sagenumwobene Angkor Wat. Wie in einem Zeitraffer reist Patrick Deville durch Kambodscha und gibt in Anekdoten das Schicksal des Landes wider. Wie ein Windspiel flattern die Ereignisse von Seite zu Seite. Schlagzeilen, die nie außer Landes kamen wechseln mit erschütternden Berichten.

„Kampuchea“ berichtet aus einem Land, das so nicht mehr existiert, das jedoch in der verhältnismäßig kurzen Zeit seiner Existenz mehr verlor als andere Länder jemals aufbauen werden können. Bis heute sind die Spuren der Roten Khmer spürbar. Angst und Verunsicherung sind hilfreiche Partner bei der Unterdrückung. Sie wieder zu entfernen, und ein wenig Normalität einkehren zu lassen, wird noch dauern.

Patrick Devilles Buch ist ein Zeitzeugnis und eine Liebeserklärung zugleich. Erschütternd, lebensbejahend, kenntnisreich – ein Buch, das man gelesen haben muss.

Schönheit ist eine Wunde

Dewi Ayu war vor ihrem Tod die bekannteste Hure in Halimunda. Sie gebar drei Töchter. Alle bildhübsch und – wie sie selbst über ihre Töchter sagt – als die Drei wussten wie man die die Knöpfe an der Hose eines Mannes öffnete, verschwanden sie aus dem mütterlichen Haus. Einen Vater kannten alle Vier nicht. Den brauchten sie auch nicht. Dewi Ayu war sich genug für die ihren Nachwuchs. Kurz vor ihrem Tod bekam sie eine vierte Tochter. Die war ganz anders als ihre älteren Geschwister. Schwarz wie Pech, war nicht nur ihr Haar, sondern ihr gesamter Körper. Ihre Nase glich der eines Schweines. Hässlich kam es zur Welt.

Einundzwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Und nun findet Dewi Ayu, dass es an der Zeit ist ihre Letztgeborene endlich kennenzulernen. Sie erhebt sich aus dem Grab. Dabei erschrickt sie einen kleinen Jungen, der sich vor Schreck in die Hosen macht. Sie zeigt sich Schönheit, wie sie die Jüngste genannt hat. Die wartet ihr ganzes Leben darauf, dass sie dem Prinzen begegnet, der sie von ihrem Fluch der Hässlichkeit befreit.

Von Rosinah, der Hebamme, die Schönheit vor einundzwanzig Jahren zur Welt brachte und nun in Dewi Ayus Haus wohnt, erfährt sie, dass Schönheit lesen und schreiben kann, sie ist fleißig und geschickt. Wer ihr das alles beigebracht hat, bleibt für alle Beteiligten ein Rätsel. Ein Fluch scheint auf der matriarchalischen Familie zu liegen. Dewi Ayu hat nur einen Wunsch: Diesem Fluch auf den Grund zu gehen.

Es beginnt eine Reise durch ein Indonesien, das es so gar nicht gibt. Oder doch? Magie spielt im Leben der Menschen eine wichtige Rolle. Dass sie so stark in den Vordergrund tritt haben wir Eka Kurniawan zu verdanken, der mit seinem Erstling sofort an die Spitze der Beliebtheitsskala der Autoren gesprungen ist. Bissiger Humor, der ab der ersten Zeile den Leser in seinen Bann zieht. Eka Kuriawan liebt jede einzelne Figur seines Romans. Diese sind beseelt vom Leben und dem, was es für sie bereithält.

„Schönheit ist eine Wunde“ steckt voller Überraschungen. Die einzelnen Schicksale der Menschen sind bedrohlich, angsteinflößend, aber auch hoffnungsvoll und spannend. So tiefgründig und ironisch, dass es fast schon wehtut, wenn man das Buch beendet hat, beschreibt der Autor seine Heimat aus der Sicht der Menschen, denen der Fortschritt nur kurzzeitigen Aufschwung versprechen kann. Sind sie verzweifelt? Nein! Zwischen Phantasie und Realität suchen sie nach dem bisschen Glück, das ihnen zusteht, für das sie aber einen hohen Preis bezahlen müssen.

Von Istanbul nach Hakkari

Von Istanbul nach wohin? Hakkari? Wo ist das denn? Und schon zappelt man am Haken! Die Neugier ist geweckt. Man nimmt das Buch, blättert ein wenig darin herum und … ist hin und weg. Eine literarische Rundreise vom Bosporus im Nordwesten in den tiefen Südosten Anatoliens, dorthin, wo Touristen die goldenen Fünf-Sterne-Armaturen gegen das Abenteuer eintauschen.

Das besondere an diesem Buch ist die lange Reise, die nicht nach Autoren oder Themen gegliedert ist, sondern der Reiseroute folgt. Klar, Startpunkt ist im Schmelztiegel Istanbul, der seit Jahrhunderten, ach was Jahrtausenden nämlich genau das ist. Hier treffen sich Menschen aus aller Welt, vermischen ihre mitgebrachte Kultur mit der hier vorherrschenden und kreieren am laufenden Band den Fortschritt, den so viele fürchten.

Es wäre frevelhaft eine einzelne Geschichte hervorzuheben. Wie etwa die von Elvan, der nach dem Puffbesuch im Hamam seinen Schlüssel verliert. Ganz ehrlich, man müsste doch annehmen, dass der Schlüssel an einer anderen Stelle in der Stadt Bursa abhandenkommt, oder?! Und so streift man mit Yasar Kemal durch Istanbul, mit Tarik Dursun K. durch Izmir, erkundet mit Orhan Duru in Bodrum das Geheimnis einer riesigen Flasche und wandert mit Migirdic Margosyan das Heidenviertel von Diyarbakir.

Jede Geschichte ist ein Kleinod, das behutsam gelesen werden will. Alle Geschichten stammen aus einer Türkei, die – nach Atatürks Willen – sich dem Westen öffnet. Der Islam ist noch allgegenwärtig, aber keine Staatsreligion. Frauen sind bereits gleichberechtigt, die Schrift lateinischen Ursprungs. So wollte der große Reformer sein Land auf den nächsten Schritt vorbereiten und einschwören. Das ist ein knappes Jahrhundert her.

In dieser Zeit hat sich viel getan. Davon berichten die Autoren in diesem Buch. Mal launisch, mal euphorisch, mal heimatverbunden, mal melancholisch, doch immer mit der Liebe in der Schreibhand. So facettenreich der Ausgangspunkt der Reise, so bunt sind die Geschichten unterwegs. Ein Kaleidoskop der Vielfalt.

Die Deutschen und ihre Kolonien

Deutschland und seine Kolonien. Wenn man Großbritannien, Spanien und Frankreich betrachtet, spielte Deutschland keine große Rolle im Verteilungskampf der Mächte um die Welt. Nur jeder 40 Quadratkilometer  der kolonialisierten Welt hieß Fritz. Es gab zehnmal mehr Johns.

Schon im 17. Jahrhundert gab es Landstriche in Tobago in der Karibik und in Westafrika am Gambia-Fluss, die in deutschem Besitz waren. Aber sie als Kolonien zu bezeichnen ist irreführend. Da könnte man auch behaupten, dass so manche Autobahnraststätte Kolonie eines Fast-Food-Giganten wäre (auch wenn es sich vielleicht so anfühlt, ist dem nicht so).

Von 1884 an besaß Deutschland dreißig Jahre lang Kolonien. Wer bei Oma und Opa auf dem Dachboden stöbert, findet vielleicht manchmal noch Zigarettenbildchen, die mehr als klischeehaft das Leben in Deutsch-Südwest (Namibia), Deutsch-Ostafrika (Tansania), Kamerun, Togo, den Marshall-Inseln, Samoa, Tsingtau oder Neuguinea zeigen. Mit dem Ersten Weltkrieg war dann Schluss mit dem Weltenspielgehabe. Und so ertragreich und vor allem nachhaltig war „das Engagement“ dann auch wieder nicht. Kein Chinese aus dem Nordosten wird heute noch über deutsche Hinterlassenschaften erzählen können. Zumindest nicht so vielfältig wie ein Inder über den Five o’clock tea, der er selbst noch als Kind erlebte.

Fernab jeder aktueller Befindlichkeit sind die Autoren bestrebt einen umfassenden Überblick über das kurzzeitige deutsche Kolonialreich zu berichten. Sie schaffen es. Mit einfachen Worten und durch die schnörkellose Darstellung von Zusammenhängen, die erst durch dieses Buch zutage treten. Die Vorstellung, dass eine exzellent strukturierte Armee mit Pauken und Trompeten bzw. Kanonen und Gewehren die Bevölkerung niedermetzelte und anschließend das schwarz-weiß-rote Banner in den Boden rammte, dass Blut aus ihm quoll, ist veraltet und größtenteils falsch. Ja, es gab Verbrechen gegen die Menschenwürde. Unentschuldbar! Aber im Großen und Ganzen wurde das deutsche Kolonialreich am Verhandlungstisch geboren. Auf der so genannten Kongo-Konferenz. Ein reichliches Dutzend Länder, bzw. deren Vertreter saßen über Landkarten, mit Lineal und Zirkel wurden Einflussbereiche bestimmt, wieder verworfen, und neuangelegt. Es wurde gestritten, taktiert und sich gegenseitig gratuliert. Nur die, um die es ging, blieben außen vor, wurden nicht einmal eingeladen. Ein ganz perfides Spiel.

Über hundert Jahre ist es her, dass kleine bunte Bildchen, den Einheimischen die Fremde näherbrachten. Wenn auch mit einem verklärten, die Realität verleugnenden Blick. Reisen in diese Länder – Namibia erfreut sich seit Jahren ungebrochener Beliebtheit bei Fernreisen ins südliche Afrika, dem einzige Land, in dem wirkliche Spuren hinterlassen wurden, wie auch immer man das bewerten will – tut ein Blick in die Geschichte gut, vieler Orten tut er Not. Den Autoren ist es zu verdanken, dass Spurensuche nicht immer mit einem schlechten Gewissen enden muss. Sie haben sich einen Maulkorb auferlegt, was Wertungen betrifft, und konzentrieren sich nur auf das, was niedergeschrieben wurde und in Archiven zu recherchieren ist. Informativ und eine echte Bereicherung für jeden Bücherschrank der Geschichte.