Kampuchea

Die Angeklagten haben kein Verständnis für ihre Situation. Befehlsempfänger waren sie. Dass durch sie Millionen Menschen starben, tun sie als statistischen Akt ab. Nur einer bereut: Duch. S-21, das war sein Arbeitsplatz. Als Schule der Kolonialherren aus Frankreich einst errichtet, war es in den knapp vier Jahren der Roten-Khmer-Herrschaft die berüchtigte Folterkammer der Herren der Organisation. Er scheint wirklich zu bereuen. Doch wer kann schon in die Seele eines Menschen schauen…

Angka, die Organisation war das seelenlose, gesichtslose, regungslose Faktotum von Bruder Nr. 1, Bruder Nr. 2 und den anderen Revolutionsführern in Kambodscha. Die Organisation befahl, alle mussten folgen. Wer stolperte, fiel erst recht. Widerworte wurden mit dem Tode bestraft. Alles auf Anfang war die Devise. Kein privater Besitz, keine Ärzte, keine Bildung, keine Bücher, kein Radio. Nichts. Städte wurden ausgelöscht, das Landleben als einzige Form des Zusammenlebens geduldet. Einheitskleidung als notwendiges Übel.

Patrick Deville reist nach Kambodscha, in seine Geschichte, zu Menschen, zu Opfern, zu Tätern – nach Kambodscha, das unter der Knute der Roten Khmer sich Kampuchea nannte. Zahlreiche kleine Kapitel fügen sich im Laufe des Lesens zu einem großen Ganzen zusammen, einem Mosaik aus Farben und Blut.

Schon immer faszinierte das Land die Forscher. Ein gewisser Henri Mouhot ging eines Tages auf Schmetterlingsjagd. Dabei stieß er sich erst den Kopf und später auf das sagenumwobene Angkor Wat. Wie in einem Zeitraffer reist Patrick Deville durch Kambodscha und gibt in Anekdoten das Schicksal des Landes wider. Wie ein Windspiel flattern die Ereignisse von Seite zu Seite. Schlagzeilen, die nie außer Landes kamen wechseln mit erschütternden Berichten.

„Kampuchea“ berichtet aus einem Land, das so nicht mehr existiert, das jedoch in der verhältnismäßig kurzen Zeit seiner Existenz mehr verlor als andere Länder jemals aufbauen werden können. Bis heute sind die Spuren der Roten Khmer spürbar. Angst und Verunsicherung sind hilfreiche Partner bei der Unterdrückung. Sie wieder zu entfernen, und ein wenig Normalität einkehren zu lassen, wird noch dauern.

Patrick Devilles Buch ist ein Zeitzeugnis und eine Liebeserklärung zugleich. Erschütternd, lebensbejahend, kenntnisreich – ein Buch, das man gelesen haben muss.