Archiv der Kategorie: aus-erlesen historisch

Jean

Teil Zwei der Trilogie von Frédéric Brun über seine Eltern. Und wer „Perla“ (seine Mutter) gelesen hat und nun den gleichen Tenor erwartet, wird überrascht sein. Denn Perla hat Auschwitz überlebt „dank“ Adolf Mengele ohne ihm auch nur den Hauch von Dankbarkeit schuldig zu sein. Vater Jean sind viele dankbar, und das zurecht und ein Leben lang. Jean Dréjac ist jedem Freund des französischen Chansons ein Begriff. Er ist eine Legende! Er sang, schauspielerte, und textete für alle, die den Chanson zu dem machten, was er war, ist und sein wird. Mit Edith Piaf war er eine Zeit lang liiert. Gilbert Becaud überschlug sich vor Freude über die Ehrung seines Freundes Dréjac. Georges Brassens, Mireille Matthieu, Dalida waren mehr als nur dankbare Abnehmer seiner Kunst.

In Athen erfährt Frédéric Brun vom Tod seines Vaters. Verzweifelt versucht er einen Platz im nächsten Flieger nach Frankreich zu bekommen. Im Fernsehen muss er tatenlos zusehen, wie seelenlose Nachrichten vom Tode des großen Chansoniers verlesen werden.

Er kann es besser! Er hat Fragmente einer Autobiographie. Und er vollendet, was dem Vater nicht gelungen ist. „Jean“ ist eine Liebeserklärung an den berühmten Vater. Normalerweise enden solche Sätze mit „.., der so selten für ihn da war“. Doch diese Familie ist nicht normal. Und das im positiven Sinne! Der Erfolg als Sänger und Texter führten Jean Dréjac (ein Pseudonym aus den drei Vornamen) rund um die Welt. Oft auch hinter den eisernen Vorhang, lange bevor die Rostflecken rissig wurden.

Vater Jean war immer da. Und der Sohnemann auch. Bei Tennisturnieren, bei Konzerten, bei Auftritten, bei Tourneen. Der vermeintlich golden Löffel im Mund war niemals mehr als ein Türöffner. Die Familie war sich ihrer Sonderstellung bewusst. Diese auszunutzen, lag allen mehr als fern. Deswegen ist diese Biographie über den berühmten Vater so umfassend liebens- und lesenswert, dass es keine Ausreden gibt.

Wer „Perla“ liebte, wird „Jean“ verschlingen. Und sich tierisch auf den dritten Teil freuen.

Balkon mit Aussicht

Muss man noch von Paris schwärmen? JA!!! Immer wieder und wieder. Es gibt unzählige Bücher, in denen die Liebe zur Stadt der Liebe eindrucksvoll zu Papier gebracht wurde. Und jetzt kommt noch eines hinzu. Jedoch keine gewöhnliche Lobhudelei mit den „besten Tipps“ für dies und das. Sondern eine Liebeserklärung an eine Stadt, in der die Autorin nicht nur viele Jahre lebte, sondern eine Stadt, die sie aufgesogen hat und die sie aufgezogen hat.

Für Brigitte Schubert-Oustry war Paris ein halbes Jahrhundert nicht nur Obdach, es war ihr Leben. Sie ist deswegen und wegen ihrer unnachahmlich berührenden Sprache die ideale Reisebegleiterin durch die Stadt an der Seine. Als Neuling sollte man dieses Buch als Zweit-, Parallel- oder Zusatzlektüre im Gepäck haben. Denn Brigitte Schubert-Oustry ist keine typische Zeigetante, die nach Links und Rechts verweist, um der hinterher trabenden Masse so viel wie möglich zu zeigen, sie steigt mit dem Leser ins Herz der Stadt.

So nachdrücklich die meisten Urlaubserinnerungen sind, so austauschbar sind sie in den meisten Fällen. Da die Autorin hier in Paris jedoch nicht ihren Urlaub verbrachte, sondern hier wirklich lebte, hinkt der Vergleich mit den meisten Reiseimpressionen. Eine echte Madame Concierge erlebt man nicht als Touri, der mit der Kamera um den Hals baumelnd dem nächsten einzigartigen Motiv hinterherjagt, und dabei die wahre Schönheit der Stadt übersieht. Das sind die wahren Originale. Und sie sind eine aussterbende Spezies. Concierge sein bedeutet alles (!) zu wissen, jeden zu kennen… und zwar bis ins kleinste Detail. Ohne dabei natürlich mit dem Wissen hausieren zu gehen oder die entsprechende Person damit zu behelligen. An ihr, an ihm kommt niemand vorbei. Sie sind die gute Seele, aber auch der schärfste Wachhund der Stadt. Und Brigitte Schubert-Oustry erzählt ausgiebig von ihren Begegnungen mit diesem Menschenschlag.

Genau wie vom immer seltener werdenden Hausfest. Das ist eigentlich keine Pariser Erfindung oder gar ein wiederkehrendes Fest. Findet es allerdings einmal statt, und man ist eingeladen (als Touri fast unmöglich) dann erlebt man Paris wie es wirklich ist. Man kann natürlich auch dieses Buch lesen… Das ist fast so echt wie das Hausfest selbst.

Mit und in diesem Buch schaut man nicht verstohlen durchs Schlüsselloch – die Autorin öffnet bereitwillig jede noch so verschlossen scheinende Tür mit einem Handstreich. Man fächert sich den Duft der Stadt zu, atmet tief ein und ist im Handumdrehen mitten in einer der aufregendsten Städte der Welt. Es gibt sie noch, die Geheimnisse von Paris. Man muss sie ab sofort nicht einmal mehr suchen. Sie liegen ordentlich sortiert vor einem.

Istrien, Kvarner Bucht

Istrien verströmt nicht erst seit dem Ende des Eisernen Vorhangs einen Hauch von Süden, Abenteuer und ehrlicher Erholung. Schon vor Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten wusste man, dass hier Urlaub urig, nachhallend und eindrucksvoll sein kann. Eingerahmt vom Golf von Triest und dem Golf von Venedig – das allein sind schon wohlklingende Namen – und östlich der Kvarner Bucht liegt ein Fleckchen Frieden, der immer noch Geheimnis in sich birgt. Und sie sich gern individuell entreißen lässt. Istrien ist nichts – das interlinguale Wortspiel muss sein – ist eine Fehlinterpretation des Namens. Istout würde es eher treffen… Aber lassen wir die sprachlichen Übergriffigkeiten.

Liegt der Fokus für die nächste Reise erst einmal in der nördlichen Adria, kann die Antwort auf die Frage nach dem Wohin nur mit Istrien beantwortet werden. Wenn man die geballte Ladung Urlaub haben möchte. Baden? Ein dickeres Ja kann es kaum geben. Wandern, Klettern, per pedes die Welt erkunden? Der dicke Zwilling vom Bade-Ja macht sich mit einem fetten Grinsen vor dem fragenden Gesicht des Fragenstellers breit. Leckeres Essen? Die Mutter der beiden genannten Jas baut sich drohend vor einem auf und fragt, ob das wirklich ernst gemeint sei. Zuhause beim Kroaten sich den Bauch voll schlagen und dann nicht wissen, dass es hier das reichhaltigste Essen links und rechts der Adria gibt?! Was braucht man noch im Urlaub? Ruhe. Auch wenn man manchmal ein bisschen laufen/fahren muss, auch die findet man ohne Umschweife in Istrien.

Nur vier Fragen, die allesamt mit Ja beantwortet werden. Jetzt muss man nur noch wissen, wo genau, was genau, wann genau zu erkunden ist. Und hier kommt der Reisebuchautor Matthias Jacob ins Spiel.

Sein Reiseband ist das Faustpfand der Erinnerungen. Der Detailreichtum seiner Ausführungen ist immens. Wie der Abschnitt über Grožnjan. Ein kleines Städtchen, das komplett befreit ist vom Autolärm und –gestank. Seit fast einem Jahrtausend kennt man den Ort. Demzufolge urig ist das Ambiente. Und modern zugleich, wenn man durch die zahlreichen Galerien schlendert. Fast schon verschwenderisch mutet es an, wenn man liest, dass es hier 42 Galerien gibt … bei ca. 200 Einwohnern! Da bekommt der Begriff familienfreundlich eine ganz andere Bedeutung. Doch auch für Badenixen und Klippenspringer hat Matthais Jacob ein Füllhorn der Austobemöglichkeiten im petto. Alle geheimen Badestellen hier aufzuzählen wäre eine Metusalemaufgabe.

Was vor allem auffällt an diesem Buch, ist die durchdachet Struktur des Reisebandes. Kurze, knackige Absätze, alles, was wichtig ist, wird farbig hervorgehoben. Vor- und Zurückblättern wird hier zum dauerhaften Aha-Erlebnis. Die zahlreichen Abbildungen und Kartenausschnitte machen die Entscheidung für den einen oder anderen Ausflug nehmen einem sicher nicht die Entscheidung ab, aber sie vereinfachen die Durchführung. Istrien wird mit diesem Band zu einem astreinen Urlaubserlebnis!

Amazonia

Was haben Alexander von Humboldt, Jules Verne und Klaus Kinski gemeinsam? Ihr Ruhm ist eng mit dem Amazonas verbunden. Der Eine durchstreifte den Dschungel, mit diesen Erkenntnissen konnte der Zweite einen faszinierenden Roman schreiben und der Dritte fühlt e sich hier wie der König der Welt, vor und neben der Kamera. Der Amazonas zieht alle in seinen Bann. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis (endlich!) Patrick Deville auch dem Amazonas-Fieber verfiel.

Einmal mehr nimmt er den Leser mit ins Dickicht der Unwissenheit, um mit der Machete der Neugier und dem Drang nach Abenteuern das Licht der Erkenntnis zu finden. Es wird eine Entdeckungsreise der persönlichen Art. Denn viele der Pflanzen und Tiere, die – meist nur hier – vorkommen, wurden schon einmal entdeckt. Aber eben noch nicht von Patrick Deville.

Vielmehr liegen ihm aber die Begegnungen am Wegesrand am Herzen. So versinkt er in der Geschichte der Stadt Manaus mitten im Herzen Brasiliens, dort, wo der Amazonas in schier unendlicher Breite Siedler dazu brachte sich niederzulassen. Heute eine schwitzige Metropole, die in Sachen Quirligkeit den Hafenstädten am Atlantik und am Pazifik in Nichts nachsteht. Und das obwohl sie tausende Kilometer von jedwedem Meer entfernt ist. Hier steht das dschungeligste Theater der Welt, hier herrscht eine Lebendigkeit, die weder durch extreme Luftfeuchtigkeit noch exorbitante Kriminalität beeinflusst wird.

Immer wieder kommt Patrick Deville mit Menschen zusammen, die das Schicksal hier her verschlagen hat. Botschafter, Glücksritter, Einheimische, die ihre Nachbarschaft noch nie verlassen haben. Sie alle zeichnen dem Autor und somit auch dem Leser ein Bild einer Landschaft, das so farbenfroh ist, dass man geblendet ist von der Pracht der Eindrücke. Von Hernán Cortés über die ersten Siedler bis zu Werner Herzog, der wie kein anderer (Verrückter) dem Dschungel und dem Fluss ein Denkmal setzte, stapft Patrick Deville durch die Geschichte dieser Region, um Behutsam ihre Geschichten aufzudecken. Schon nach wenigen Seiten ist man ein Fan. Fan von dieser einzigartigen Landschaft, die dem Verfall preisgegeben wird. Fan von Patrick Deville – sofern man es nicht schon lange ist, schließlich führen seine Bücher Leser seit Jahren durch das Kambodscha der Roten Khmer, das Mexiko Leo Trotzkis, das Afrika bedeutsamer Forscher und und und – weil er es versteht Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. So eine Forschungsreise macht man am Liebsten mit Patrick Deville!

Mein Meister und Bezwinger

Da sitzt er nun der arme Kerl! Vor dem Untersuchungsrichter. Hat gar nichts getan. Und muss rede und Antwort stehen. Und einen Namen hat er auch nicht. Den braucht er auch nicht! Denn er weiß alles! Er kennt Vasco. Und er kennt Tina. Und Edgar. Aber den will er eigentlich gar nicht kennen. Und er weiß, was der Revolver von Verlaine und das Herz von Voltaire mit der ganzen Misere zu tun haben. Und er kann reden, schwelgen, fabulieren, faszinieren, verwirren.

Sein Gegenüber aber auch. Er wirft nicht die Flinte ins Korn, wenn die Ausführungen mal ausufern. Er kennt die Tricks und Kniffe der Literatur. Der Richter ist nicht minder belesen als sein Zeuge. Nur beim Thema Haiku hat er Nachholbedarf. Meister und Bezwinger? Nein, nein, nein. Der Titel dieses unfassbar eindrucksvollen Buches bezieht sich nicht auf Richter und Zeuge oder gar Richter und Angeklagten. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Verlaine. Und da kommt auch der Revolver ins Spiel. Einst Tatwerkzeug, jetzt Museumsstück.

Vasco und Tina sind knallverliebt. Ineinander. Tina hat jedoch Edgar die Ehe versprochen. Nicht nur, weil sie die Mutter ihrer Zwillinge ist. Und nun ist alles im Umbruch. Der Bibliothekar mit der Liebe zu seltenen – und alten – Schriften und die Schauspielerin, die stundenlang Verlaine und Rimbaud (re)zitieren kann. Das ideale Paar? Das ideale Paar! Mit einer Wucht, die Ketten sprengen kann. Mit einer Gewalt, die Mauer zerbröseln lässt. Aber eben nur zusammen. Vasco sitzt allein in seiner Zelle. Und der Richter will verdammt nun endlich wissen, was da passiert ist!

Doch der Zeuge kann nur Fakten heranschaffen. Die Interpretation muss der Richter sich selbst erarbeiten. Und der Leser? Na der ist der Schlaueste von allen…

François-Henri Désérable schickt alle Beteiligten auf eine wilde Reise durch die Literatur. Die verhängnisvolle Liaison von Verlaine und Rimbaud als Bretter, die die Literaturwelt bedeuten sind die Planken eines wackligen Kahns, der teils schon gekentert ist. Die gischtpeitschende See der Eifersucht und Irrationalität ist glitschig und nicht zu zähmen. Es gibt keinen Bezwinger der Wellen, der sie meisterhaft in ruhige Fahrwasser leiten kann. Eine Dystopie? Ach, mit Analysen sollte man sich beim Lesen nicht beschäftigen. Denn hier werden auf gar wundersame Weise Altes und Neues in ein phantasievolles Korsett gesteckt, das sich im Winde wiegt wie ein zarter Grashalm.

Auch wer nicht zwingend die Tragik hinter dem Herzen Voltaires versteht und die Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud kennt, kommt beim Lesen schnell auf den Geschmack welch Freude es bereiten kann umzublättern.

Geheimsache Italien

Würde dieses Buch von einem Journalisten, einem Fanatiker, einer Rampensau, die nur das Scheinwerferlicht sucht, geschrieben worden sein, dann wäre dieses Buch nicht mehr als ein Aufschrei ohne Substanz, das alsbald auf dem Wühltisch der Buchhändler landen würde. Doch hier schreibt einer, der es wissen muss. Giuliano Turone war Richter am Kassationsgerichtshof, Professor für Investigationstechniken und nahm an den Prozessen am Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag gegen die Kriegsverbrecher im Jugoslawienkrieg teil. Und – damit ist es endgültig bewiesen, dass er kein blindwütiger Agitator ist – er leitete die Untersuchungen gegen die Loge P2 und war Mitglied der Antimafiakommission.

Auch ohne viele Vorkenntnisse – wer dieses Buch bewusst auswählt, ist automatisch mit einer Portion Grundwissen ausgestattet – kommt man (kopfschüttelnd) schnell auf seine Kosten, wenn man sich für politische Intrigen und deren Strippenzieher interessiert. Detail- und lehrreich führt Giuliano Turone den Leser in eine Zeit, in der Italien (wieder einmal) vor einer Umwälzung stand. Schon lange waren in dem Land Mächte am Werk, die lange Zeit unbehelligt ihrem Tagwerk nachgehen konnten, weil die eigentlichen Machthaber weit weg waren. Weit weg in jedwedem Sinne. Stichwort Mafia. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Angst vor den Kommunisten größer als die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Lieber mit der Mafia paktieren als Moskau einen fruchtbaren Boden zu bereiten, war die Devise.

Im Laufe der Jahre waren derart viele Mächte am Werk, dass es einer weiteren Macht bedurfte, die diese Kräfte bündelte. P2, Propaganda Due, war diese Macht, die in der Lage war Italien – in ihrem Sinne – in die richtigen Bahnen zu führen. Ursprünglich eine Freimaurerloge, also humanistisch, aufklärerisch geprägt. Zu ihr gehörten Mafiosi, Politiker (bis hin zu Ministerpräsidenten), Polizisten, Intellektuelle, Kleinkriminelle, Kirchenleute – kurzum: Der so genannte repräsentative Querschnitt der Bevölkerung. Sie vertuschten Verbindungen, ließen Akten vernichten, planten Attentate und Entführungen, ballten eine unvorstellbare Macht in ihren Reihen. Sie waren auf einer Stufe der Machtgier angelangt, in der Geld keine Rolle mehr spielt. Und das obwohl ihre Sparschweine wegen Fettleibigkeit ihren Aktionsradius erheblich einschränken mussten.

Schlagworte, die dieses Buch als Eckpfeiler benutzt sind die Entführung von Aldo Moro und das Bombenattentat am Bahnhof von Bologna zu nennen, weil sie medial die größte Aufmerksamkeit auch in Deutschland erhielten. Mit Akribie wühlt sich der ehemalige Richter Giuliano Turone durch einen schier unendlichen Berg von Akten und Beweisen, ordnet sie – was allein schon unmenschlich erscheint ob der gigantischen Menge – und serviert dem Leser ein Menü, das einem die Kehle zuschnürt. Bloße Verschwörungstheorien? Mitnichten, auch wenn immer noch versucht wird alle Argumente mit einem Handstreich hinwegzuwischen. Nicht umsonst hatte Silvio Berlusconi P2 als eine Art Gentleman-Club bezeichnet…

Bei der Lektüre von „Geheimsache Italien“ liegen kopfnickendes „Si“ und erschreckendes „Oh no“ so eng beieinander, dass einem manchmal schwindelig werden kann.

Schlösser der Loire

Es ist schon ein besonderes Erlebnis in der Nacht an der Loire entlang zu fahren. Ringsum nur die ungetrübte Dunkelheit. In der Ferne sind kleine Lichtpunkte zu sehen. Das sind sie – die Schlösser der Loire. Funkelnd wie Edelsteine in der Nacht.

Des Tags sind sie nicht minder beeindruckend. Doch wo anfangen zwischen Tours und Angers? Wie kommt man da hin? Was darf man unter gar keinen Umständen verpassen? Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen sie alle. Darüber wird nicht diskutiert! Heike Bentheimer hat den einen, ultimativen Reiseband zu diesem einzigartigen Ensemble royaler Pracht geschrieben. Über 450 Seiten lang. Und jede Seite ein Märchen, das Wirklichkeit werden kann. Eine Tour der Impressionen, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen werden. Und wer auf die motorisierten vier Räder gern verzichten möchte … kein Problem: Die Loire ist Radwanderland. Berge sucht man hier vergebens, was die Alterspanne der Pedalisten sehr breit fassen lässt. Und wer will, kann sich sogar das Gepäck von A nach B, von B nach C etc. transportieren lassen. Hier ist wirklich alles möglich.

Ob nun zu Fuß, auf zwei schmalen oder vier fetten Rädern oder gar in der Luft – die Reise an den Ufern der Loire wird zum Sinnesrausch erster Klasse. An dieser Stelle wird nicht auf ein einzelnes Schloss eingegangen. Die Auswahl erschlägt den Leser schlichtweg. Denn nicht nur die großen Hallen einstiger Macht, sondern auch die kleineren, teils Lustschlösser genannten, „Behausungen“ sind mehr als nur eine Einkehr wert.

Architektonisch ist jedes ein Juwel. Mal muss man näher herantreten, mal erschließt sich die Pracht erst bei der Beschau der Details. Wer will kann ja mal die Türme und Türmchen oder die Anzahl der Fenster zählen – ein dicker Block ist ratsam.

Dieser Reiseband steht den Schlössern in nichts nach. Eine Schatztruhe voller Reichtümer, die man vielleicht so erwartet hat. Aber wenn man sie vor sich sieht, ist man trotzdem bafferstaunt. So soll es ja auch sein. Beeindruckend ist im Buch die nicht minder aufsehenerregende Fülle an Tipps rundherum und zwischen den Perlen der Loire. Fakt ist, dass eine Reise entlang der Loire mit zahlreichen Abstechern zu den Schlössern, den Gartenanlagen, den Parks, inklusive Abbiegen nach Links und Rechts, den lukullischen Ereignissen, den phänomenalen Eindrücken mehr als nur ein Fotoalbum füllen kann. Es wird eine Reise sein, die man nie mehr vergisst. Auch dank dieses Reisebandes.

Grazie a voi

Schon die Andeutung des Begriffes Migration bringt eine gewisse Schwere ins Gespräch. Mit Bedacht wählt man seine Worte, nickt zustimmend oder … im schlimmsten Fall … tut unumwunden seine Abneigung kund. Ob man es nun hören will oder nicht: Migration war schon immer ein Thema. Die Landbevölkerung zog es in die Städte – Migration. Und wer es sich leisten will und kann, den zieht es in die ländliche Idylle. Auch das ist Migration.

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts zog es tausendfach Italiener in die Schweiz. Hier wurden Arbeitskräfte gesucht, besonders in der aufstrebenden Textilindustrie und im nachfolgenden Gewerbe. Rund ein Jahrhundert später zog es abermals Italiener in die Schweiz. Die Heimat lag am Boden, mühsam errichtete man wieder eine Demokratie, gab sich eine neue Verfassung. In der Schweiz „war die Welt noch in Ordnung“ – kein bis kaum Kriegsschäden, überdurchschnittliche Löhne. Nur das Frauenwahlrecht war noch nicht installiert. Doch der wirtschaftliche Druck überwog so manches, was man niemandem wünscht. Willkommenskultur war sporadisch vorhanden.

So entwickelte sich eine Migrationskultur, die in diesem Buch eindrucksvoll, ungeschönt, ungefiltert „das Leben der Fremden“ für die Ewigkeit festgehalten hat. Nix grandezza und bella vita. Vielmehr harte Arbeit, fremde Sprache, neue Lebensbedingungen. Aber auch ein Lächeln auf den Lippen sich selbst ein Leben aufbauen zu können. Und die Lieben daheim – in Italien – daran teilhaben zu lassen. Auch ohne täglichen Kontakt – das Handy und Telefonflatrates gab es noch nicht!

Es ist die Schlichtheit, das Normale der Fotos, das so beeindruckt. Näherinnen in St. Gallen, Vereinsleben, aufm Bau, beim Pflastersteineverlegen in sengender Hitze oder in Schale geworfen, um dem Alltag einmal die elegante Schulter zu zeigen – jede Seite, jedes Bild ein untrügliches Abbild des ganz normalen Lebens der Italiener in der Schweiz.

„Grazie a voi“ – wer sagt das? Die Neuen oder die Eingesessenen? Wer bedankt sich bei wem? Sicher ist, dass ein grazie nicht nötig, aber gern gehört ist. Und wenn man zwischen den Erinnerungen herumstöbert, ist es sowieso egal, wer wem ein grazie schuldet. Immer wieder blättert man ein paar Seiten zurück, sich noch einmal zu vergewissern, was man gerade gesehen hat oder meint übersehen zu haben. Ob nun in nostalgischem Schwarz-Weiß oder typischen überfärbten Colorfoto-Charme – man erliegt im Handumdrehen diesen Bildern. Grazie!

Grenzland – Borderlands

Wenn ein Märchen mit „Es war einmal …“ beginnt, wähnt man sich in sicheren Gefilden, freut sich auf eine phantastische Reise … mit happy end. Die Geschichte eines Volkes mit „Es war einmal …“ in Verbindung zu bringen, ist mit Vorsicht zu genießen. Denn dieses „war“ ist mit Schmerzen, Leid und Respektlosigkeit eng verwoben. Die Grenzen verschwimmen hier nicht, sie sind klar ersichtlich und mit keiner Silbe unumkehrbar.

Die kleinen Städte – jiddisch Schtetl – im Osten Europas waren einmal Zentren jüdischen Lebens. Hier lebte man fernab der eigentlichen Heimat, baute sich über Generationen eine neue Heimat auf. Behielt die Traditionen bei, pflegte sie, hegte sie, bildete sie weiter aus. Man fügte sich ein, passte sich an, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Bis man es musste. Bis man vertrieben wurde. Bis man … gejagt, verjagt, gefangen, deportiert, ermordet wurde. Und das nur, weil man an einen Gott glaubte, den die Täter nicht folgen konnten. Weil man einer jahrtausende alten Hetzjagd ausgesetzt war, die für viele Grund genug war, selbige fortzusetzen. „Einfach so“, weil man es konnte, weil es von Oben erlaubt, ja sogar befeuert wurde.

Der Fotograf Christian Herrmann reist zu diesen Orten in der Ukraine, in Belarus, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Er sucht diese Orte, findet sie und dokumentiert – künstlerisch auf höchstem Niveau und in bestechender Klarheit – was nicht mehr eindeutig zu erkennen ist. Nur wer genau hinsieht, erkennt die teils kläglichen Reste einer Kultur, die präsenter ist als manch verklärter Irrgänger es sich eingestehen will. Es sind kleine Kuppeln, Häuserfassaden, ganze Straßenzüge und plattgemachte Orte, die er mit seinen Bildern in die erste Reihe zieht.

Ab und an sind noch Schriftzeichen zu erkennen. Mahnend von der Restaurierung der Gegenwart unberührt gelassen. Manchmal sogar erneuert und in die Moderne transferiert. Detailaufnahmen decken für den Betrachter explizite Details auf, die der so niemals erkennen könnte.

Offensichtliches, wie jüdische Friedhöfe, die wegen ihrer dichten Fülle immer noch als solche zu erkennen sind, stehen kleinen versteckten Schätzen gegenüber, so dass man sicherlich beim nächsten Rundgang, auch durch die eigene Stadt einmal genauer hinschauen wird. Wenn Grabinschriften erst und gerade durch hervorbrechende Flora zu neuem Leben erwachen, ist das mehr als nur ein Bild. Hier steckt eine Symbolkraft im Objekt, die noch lange anhalten wird.

Der Kunstgriff dieses Buches liegt in der Erläuterung der Bilder. Kein bedeutungsschwangerer Text stört den Bildrundgang. Ein am hinteren Buchrücken eingehangener Appendix setzt die Abbildungen in den passenden Kontext. So wird der Eindruck der Bilder durch nichts abgelenkt. Dieses Nichts ist derart nachhallend, dass man sich ihm nicht verschließen kann. So soll es sein!

Rot, sagte er

Bei einem Museumsbesuch kann es einem schon mal passieren, dass man sich in ein Bild hineinziehen lässt. Irgendeine Faszination geht vom Farbenspiel aus, die Komposition erregt einen, das Motiv fesselt den Betrachter, die Ausmaße, die Ausleuchtung haben etwas an sich, das einen nicht loslässt. Jetzt möchte man noch tiefer in dieses Bild eintauchen. Will wissen, woher es kommt, was den Maler dazu bewegte. Wie sind die Verbindungen zwischen Maler und Objekt? Wer sich diese Fragen schon einmal gestellt hat, findet in diesem Buch einen wahren Freund.

Volterra, die alte etruskische Stadt, die in ihrer Geschichte so manche herbe Niederlage einstecken musste, ist der geographische Mittelpunkt dieser Geschichte. Hier lebt Angel Mariani. Künstlerin und Katermutter. In der Zeitung liest sie vom tragischen Ende von Eremo. Kein besonders geselliger Einwohner der Stadt. Eigentlich gar kein Mensch, der die Gesellschaft anderer suchte. Aber immer freundlich. Ein guter Zuhörer. So richtig kannte ihn niemand. Woher er kam, was ihn hierher verschlug, was er machte – keiner kann eine rundum zufrieden stellende Antwort geben. Und doch wer er immer da. Einem Glas Wein war er nicht abgeneigt. Immer nur eines. Und immer vom Feinsten. Das erfährt Angel aber erst nach einer Erfahrung, die ihr noch lange im Kopf herumschwirren wird.

Sie hat also vom Tod Eremos gelesen. In der Zeitung waren dank der eines Filmteams (sie drehen eine Serie über die Medici, der Familie, die Volterra den Garaus machen wollte) exzellente Fotos zu sehen. Da liegt er in der Schlucht. Der Mann, den jeder erkannte, den aber niemand wirklich kannte. Angel geht dieses Bild nahe.

In der Pinakothek sucht sie Ablenkung. Rosso Fiorentinos Deposizione, die Kreuzabnahme lässt sie tief in die Szenerie einsteigen. Der Meister hat sich selbst darin verewigt. Ein Fingerzeig. Tragische Szenen. Die flammenden Farben. Angel ist tiefer bewegt als sie es sich anfangs eingestehen kann. Tränen kullern über ihre Wangen. Das ist neu für sie. Ja, sie ist Künstlerin. Sie ist besonders sensibilisiert für derartige Empfindungen. Aber so stark hat sie sich noch nie wahrgenommen. Kann es sein, dass Eremo in diesem Bild ihr erschienen ist? Gar nicht mal mystisch oder gar esoterisch, nein echt, wahr, real. Angel beginnt zu erst in ihrem Kopf zu kramen, um herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Nach und nach sieht sie einen Zusammenhang in dem Dreieck Volterra – Fiorentino – Eremo…

Klaudia Ruschkowski könnte den Leser durch ein Museum führen und ihm die Geschichte einiger Bilder erklären. Sie könnte auch aus dem Seelenleben einer Künstlerin erzählen. Oder die Geschichte eines rätselhaften Mannes. Oder eine kleine Kulturgeschichte der Toskana. Sie entscheidet sich für alles! Alles in einem Roman. Ganz sanft lässt sie ihrer Heldin Platz, um sich zu schütteln und der Situation Frau zu werden. Was dann geschieht, haut nicht nur sie, sondern die gesamte Leserschaft um. Ein Feuerwerk, das dem geforderten Rot des Künstlers in Nichts nachsteht!