Archiv der Kategorie: aus-erlesen Bio

Kukum

Veränderungen sind immer mit Schwierigkeiten verbunden. Nun sind diese Schwierigkeiten nicht immer gleich als solche erkennbar. Oft siegen die Abenteuerlust und der Forscherdrang über die Unebenheiten der Situation. Almanda geht – ganz nüchtern betrachtet – ein Risiko ein als sie Thomas folgt. Nicht einfach so! Vielmehr ist es ein tiefe Liebe, die ihr das Vertrauen schenkt, das sie benötigt, um immer weiter zu gehen.

In einem Kanu zog er einmal an ihr vorbei. Immer öfter kreuzten sich ihre Blicke. Und ganz automatisch – manches kann, darf, man nicht erklären – sind Thomas und Almanda ein Paar. Sie spricht nur wenig die Sprache der Innu, zu denen Thomas gehört. Er spricht kaum französisch. Doch die Sprachbarriere ist nicht das, was sie zu sein scheint. Denn sie ist überwindbar.

Immer weiter taucht Almanda in eine ihr fremde Welt ein. Das Kanada, das sie bisher kannte, ist hier draußen ein anderes Land. Die Innu leben mit der Natur. Die Jahreszeiten sind die einzigen Gradmesser. Wenn man Hunger hat, geht man jagen. Aber nur so viel wie man gerade benötigt. Und wenn der Hunger wiederkommt, geht man wieder auf die Jagd. Mit Thomas’ Schwestern gärbt sie Karibufelle. Redet mit ihnen, saugt das Fremde in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser der endlosen Seen, an deren Ufern die Innu leben.

Doch die Idylle bekommt Risse als der natürliche Lebensraum der Innu vom technischen Fortschritt, sprich Maschinen, Fabriken und dem dazugehörigen Lärm inklusive eines neuen Rhythmus empfindlich gestört wird. Die Siedlungen der Innu müssen diesem „Fortschritt“ weichen. Es beginnt eine neue Zeit. Wieder einmal. Doch dieses Mal müssen Almanda und Thomas das Neue gemeinsam bewältigen.

Lange bevor der Fortschritt den amerikanischen Kontinent eroberte, lebten hier Menschen. Unter anderem auch die Innu. Hier verwandelte sich die Asche ihrer Ahnen in nährstoffreichen Boden lange bevor auch nur ein einziger Fremdling jemals amerikanischen (kanadischen) Boden betrat. Michel Jean gibt den so genannten Ersten Völkern mit „Kukum“ eine Stimme, die weithin zu vernehmen ist. So bedächtig Thomas durch den Wald schreitet, so gefühlvoll beschreibt Michel Jean die Lebensgewohnheiten seines Volkes. Es ist die Geschichte seiner Urgroßmutter, die diesem Buch zugrunde liegt. Manchmal wie im Märchen, manchmal so echt die Schlange an der Supermarktkasse treibt die Geschichte den Leser an nicht stehen zu bleiben. Immer weiter zieht es ihn, um zu erfahren, ob es nicht ausreichend ist eine Veränderung im Leben zu erfahren.

Mein hundertjähriger Garten

Biographien zu schreiben, scheint auf den ersten Blick eine einfache Aufgabe zu sein. Nicht so, wenn es um die eigenen Erinnerungen geht. Man schält sich aus dem jahrelang gesponnenen Kokon und spürt den Gegenwind. Brrr! Kalt! Elisabeth Göbel hat sich für das neue Jahr nichts Besonderes vorgenommen. Nur vielleicht ein bisschen schreiben. Aber vor allem faulenzen. Ein guter Vorsatz, den man – und hier kommt wieder der erste Blick! – sehr leicht einhalten kann.

Isses aber dann doch nicht! Ihren Garten ständig vor Augen, den Gedanken ans Faulenzen im Kopf, und dann noch die unbändige Lust zu schreiben. Das passt in kein Überraschungsei! Dann muss es eben in ein Buch passen. Gedacht, gesagt, getan. Und hier ist das Ü-Ei mit dem Triple-Effekt, den sich niemand, der auch nur eine einzelne Zeile las entziehen kann.

Persönliches, Nützliches, Nostalgisches – dieses Triptychon der Neugier treibt Autorin und Leser immer wieder an. Die Eine zum Schreiben, die Anderen zum Lesen. Erinnerungen an die Oma. Hat jeder. Kennt jeder. Was Elisabeth Göbel aber schlussendlich daraus macht – und das ist nur ein Beispiel – lässt keine Fragen offen. Immer wieder kommt der Garten vom Kopf über den Arm und die Hand durch die Tinte aufs Papier. Und immer wieder rufen die sehr persönlichen Erinnerungen beim Leser eigene Gedanken hervor.

Ein Tagebuch zu schrieben, ist die persönlichste Art des Gedankenspiels. Durch die offene Tür schreiten Menschen, die man nicht kennt. Sie fassen Dinge an, die zeitlebens unberührt blieben. Und nun sind sie Teil von vielen Leben. Mit Erstaunen schaut man beim Erblühen zu, nimmt Abschied, wenn die Blätter fallen. Doch auch ohne schmückendes Beiwerk ist die Natur ein Schauspiel ersten Ranges.

Der unscheinbare Titel ruft unterschiedliche Assoziationen hervor. Ist der Garten tatsächlich so alt? Wie alt ist dann die Besitzerin dieser Oase? Bekomme ich Tipps wann ich welche Pflanzen in den Boden setze? Oder ist der Garten einfach nur die Basis allen dessen, was wir säen und ernten? Wer Elisabeth Göbel und ihre Bücher kennt, weiß um ihre Wortspielakrobatik. Sie schlägt keine Salti, sie ist die Conférenciére, die mit einem Lächeln, einem Blinzeln und der Souveränität einer geschulten Meisterin durch das Programm führt, dem man von Anfang an erliegt.

Die Sommerhäuser der Dichter

Was braucht ein Dichter, um sich frei entfalten zu können? Die Ruhe der Abgeschiedenheit oder den Trubel der weiten Welt? So unterschiedlich die Dichter, so unterschiedlich sind auch ihre Sommerhäuser. Bertolt Brecht zog sich mit Helene Weigel nach Buckow bei Berlin zurück. Idyllisch am See gelegen, bürgerliches Ambiente. Soviel Kapitalismus muss ein Kommunist aushalten … in Brechts Fall war es sogar gewünscht. Um sich in der DDR niederzulassen, erfüllte die Staatsführung ihm fast jeden Wunsch. Dem des abgelegenen Sommerhauses auf alle Fälle.

Weitaus feudaler residierte da schon Jean Cocteau vor den Toren von Paris. Bis heute ist der Garten unverändert, in seinen Mauern sind Gemälde von Weltrang zu besichtigen. Cocteau lebte in Milly-la-Forêt siebzehn Jahre. Den Trubel der Metropole holte er sich gelegentlich ins Haus.

Trubel konnte Heinrich Böll in seinem Versteck in der Eifel nicht gebrauchen. Schon gar nicht als 1974 Alexander Solschenizyn hier Asyl fand. Bis heute ist dieses Haus eine Zufluchtsstätte für verfolgte Dichter.

Versteckt, bis heute nicht ohne eine Portion Forscherdrang zu entdecken, liegen die Rückzugsorte von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard sowie von George Bernard Shaw. Ausflüge ins Ländliche waren für Woolf Alltag. Shaw hingegen ließ sich einen drehbaren Arbeitsplatz einrichten, um stets der Sonne folgen zu können. Noch einsamer mochte es Hermann Hesse, der gleich am Eingang mit einem Schild auf seine unbedingte Bitte Abstand zu halten hinwies.

Die meisten Häuser, die einmal das Zuhause eines berühmten Kopfes waren, sind heute als Museen zu besichtigen. Dank der unermüdlichen Arbeit von Stiftungen und/oder Nachfahren sind ihre Refugien zu einem Hotspot der Wissbegierigen geworden. Im Fall von Arthur Rimbaud liegt der Fall etwas anders. Auch hier wieder Idylle soweit das Auge reicht. Doch der streitbare Dichter fühlte sich hier in keiner Weise wohl. Das Licht, die Piefigkeit trieben ihn wieder gen Paris. Über hundert Jahre später wurde es verkauft, der Preis dafür: So um die 50.000 Euro. Munkelt man. Die neue Besitzerin verehrt Rimbaud. Parallelen zwischen ihrem und seinem Leben sind vage vorhanden. Er war und ist für sie purer Rock ’n Roll. Ihr Name: Patti Smith.

Von Tanger über Weimar bis Nidda, von Thomas und Klaus Mann über Günter Grass und Anton Tschechov bis William Burroughs – dieses Buch befeuert die Neugier des Lesers. Die Texte laden ein dem Forscherdrang nachzugeben und dem Einen oder Anderen über die Schulter zu schauen und das zu sehen, was die Dichter einst aufsaugten. Die Resultate dieses Aufsaugens sind weltbekannt. Ein Besuch bei Dichters hilft deren Schriften zu verstehen. Hier hält man einen der originellsten Reiseappetitmacher überhaupt in den Händen!

Oroonoko

Der Erste wird der Nachwelt immer in Erinnerung bleiben. Weil er der Erste war, den Trend gesetzt hat, Türen aufgestoßen und Barrieren nieder gerissen hat. Demzufolge ist Aphra Behn eine der berühmtesten Autorinnen der Welt. Und weil sie ein Buch wie dieses geschrieben hat, dass Mädchen und Frauen wie Jungens und Männer gleichermaßen anspricht, wird sie auch nie in Vergessenheit geraten.

So viel zur Theorie. Die Realität sieht anders aus. Noch! Denn endlich wird sie wieder entdeckt. Die erste Frau, die vom Schreiben leben konnte. Die erste professionelle Autorin. Geboren wurde sie 1640. So lange ist das schon her. Und ihre Geschichte, die des Prinzen Oroonoko (kein Schreibfehler, es geht nicht um den Fluss Orinoco, obwohl der zweite Teil des Buches gar nicht so weit davon entfernt ist, na ja, zumindest auf dem gleichen Kontinent) ist wahr, nach Bekunden der Autorin.

Coramantien ist die Heimat des starken, gut aussehenden, heldenhaften Oroonoko. Heute ist es ein Teil Ghanas. Er ist der Enkel des Herrschers und wird mangels männlicher Nachfahren einmal den Thron erben. Fast wäre er bei einem Angriff ums Leben gekommen. Doch ein getreuer General warf sich in die Flugbahn des vermeintlich tödlichen Pfeils und verlor dabei Augen- und Lebenslicht. Nun will Oroonoko sich bei den Hinterbliebenen des Generals für die generöse Geste entschuldigen und die erbeuteten Sklaven als mildernde Gabe darreichen. Doch soweit kommt es gar nicht. Denn die Tochter des Generals, Imoinda, lässt in ihm den Ehrenmann erwachen. Oder anders gesagt: Er verknallt sich von einem Moment auf den anderen in die ihm durchaus nicht abgeneigte Schönheit. Jetzt nimmt das Drama seinen Lauf. Denn auch der alte König hat ein Auge auf Imoinda geworfen. Durch einen Hinterhalt gerät Oroonoko auf ein Sklavenschiff, das ihn nach Surinam bringt. Damals englische Kolonie. Die Einheimischen wurden zu dieser Zeit nicht versklavt. Man trieb mit ihnen Handel und respektierte ihr Wesen. Durch einen weiteren Zufall kommen die beiden „Königskinder“ wieder zusammen. In Surinam. Oroonoko ist ein geachteter Mann, zwar Sklave, aber mit einigen Privilegien. Seine erhabene Art, sein Auftreten, seine Kraft und auch sein auffallendes Äußeres lassen ihn so manche Schande umschiffen. Er und Imoinda sind wieder ein Paar. Sie ist sogar schwanger. Doch wiederum stehen die Zeichen auf Sturm. Es soll einfach nicht sein…

Aphra Behn lebte zeitweise in Surinam. Sie kannte Oroonoko und schrieb seine Geschichte auf. Alles echt? Irgendwas zwischen ganz sicher und einem stabilen Vielleicht. Sie kannte den Prinzen. Auch seine Geschichte. Dass sie sie niederschrieb war ein Skandal. Noch wagte es jemand gegen die Sklaverei so unverhohlen zu schreiben. Und dann auch noch eine Frau! No, no, no! Erst Jahrhunderte später wurde ihr Werk neuentdeckt. Für Virginia Woolf und die Weltreisende Vita Sackville-West – ihr aufschlussreiches Essay über ihr Idol rundet diese Ausgabe ab – war Aphra Behn Anregung genug selbst zur Feder zu greifen bzw. sie behände zu schwingen. Noch einmal wird die Pionierin unter den Schriftstellerinnen nicht in Vergessenheit geraten.

Ihr Tänzer war der Tod

Dass es kein gutes Ende nehmen wird, wissen wir aus der Geschichte. Dass das Ende unrühmlich, für manche unehrenhaft, auf alle Fälle aber feige und widerwärtig sein wird … damit beginnt Sophia Mott ihren biographischen Roman über Walter Rathenau. Den deutschen Außenminister, der im Juni 1922 hinterhältig von nationalistischen Freikorpssoldaten ermordet wurde. Der Weg dahin war beschwerlich.

Der Roman setzt mitten im Krieg ein, den wir heute als Ersten Weltkrieg bezeichnen. Damals war es „nur der große Krieg“. Rathenau nimmt kein Blatt vor den Mund. Für ihn sind zu erwartende Verluste nur kalkulierbare Posten in einem Spiel, das nur für Wenige als gewonnen erachtet werden kann. Die Mehrheit steht auf der Verliererseite. Das wusste man schon damals – und hält sich bis heute nicht an diese Weisheit!

Walter Rathenau musste sich nie um finanzielle Nöte sorgen. Seine Familie gründete AEG und gehörte schon deswegen zu der Minderheit, die an einem Krieg verdienen und sich selten zur Verliererseite zählen lassen mussten. Freunde hat er nur wenige. Bekannte, Gönner, Wohlgesonnene – oh, davon hatte er massig. Und Feinde! So viele, dass es seine knappe Freizeit ihm nie gestattet hätte sie zu zählen.

In seinem wachen Kopf schwirrten unendlich viele Ideen herum. Zollunion in Europa, Schlachtenkonstellationen, politische Manöver – allesamt abgewiesen. Er fand einfach keine Gönner, keine Unterstützer. Hindenburg und Ludendorf steckten lieber die Köpfe zusammen als den entscheidenden Schritt zu wagen, als dass sie Walter Rathenau Gehör geschenkt hätten. Wegen der finanziellen Absicherung hätte er die Hände in den Schoß legen können und wie der sächsische König Friedrich August III. sich einfach umdrehen und sagen können: „Macht doch Euren Dreck alleene!“. Hat er aber nicht. Machtbewusstsein, Sturheit und der unbedingte Wille etwas zu bewirken ließen ihn nicht ruhen. Auch seine Feinde beobachteten das rege Treiben. Und so kam es wie es kommen musste…

Sophia Mott nutzt das Stilmittel des Romans, um Geschichte nachvollziehbar zu machen. Ob wirklich alles genau so geschah, weiß man nicht. Doch die Folgen, die nachvollziehbar sind, lassen nur wenig Interpretationsspielraum. Unnachgiebig beschreibt sie eine Zeit, die wenig Gloria und noch viel mehr Ungemach hervorgebracht hat. Ohne abzuschweifen, lässt sie eine Zeit wieder auferstehen, die die Grundlage für die Goldenen Zwanziger war. Doch bevor sie ausschweifen konnte, war Walter Rathenau schon Geschichte. Jude, Industrieller, Politiker – die Reihenfolge ist beliebig, da er selbst gegen Juden, Industrielle, Politiker schoss, wenn es ihm passte – Rathenau zu fassen ist schwierig. Ein Wendehals war er bestimmt nicht, vielmehr ein Mann bei klarem Verstand, der ein Ziel verfolgte. Dass ihm nur Wenige dabei folgen konnten, sah er nicht als sein Problem an. Vielleicht war das sein größter Fehler…

Hana

Kindermund tut Wahrheit kund. Das weiß Mira noch nicht. Sie ist selbst noch ein Kind von nicht einmal zehn Jahren. In ihrer Welt hat sie schon einiges erlebt. Als es im Winter langsam beginnt zu tauen, springt sie todesmutig auf eine Eisscholle. Doch statt wie von ihren Freunden geraten, erwischt sie nicht die Mitte der Scholle, sondern den Rand und plumpst unversehens in den kalten Fluss. Mama ist natürlich nicht erfreut. Als Strafe erwartet das wissbegierige Mädchen sicher wieder Erbspüree. Und Papa wird vielleicht sogar den Gürtel rausholen.

Die Zeit vergeht. Eine Typhusepidemie erwischt den kleinen Ort in Tschechien mit voller Wucht. So wenige Jahre nach dem Krieg sind die hygienischen Zustände immer noch katastrophal. An der Hand einer Bekannten, die sie Tante nennen soll, erfährt Mira, dass ihre Mama gestorben ist. Sie hat sie schon länger nicht gesehen, wegen der Ansteckungsgefahr. Nun wird sie sie nie mehr wiedersehen. Auch Papa ist kurze zeit später tot. Das Leben hat gerade begonnen, da fehlen der Kleinen die wichtigsten Eckpfeiler.

Und schon bald steht Tante Hana in der Tür. Eine echte Tante, die große Schwester von Mama. Aber auch die Person in Miras jungen Leben, die ihr pausenlos Rätsel aufgibt. Warum isst sie nicht normal? Dann wäre sie nicht so dünn. Und warum trägt sie immer nur schwarze Kleidung? Der unfreiwillige Umzug zu Tante Hana bringt nicht nur eine räumliche Veränderung. Ihre beste Freundin eröffnet Mira, dass sie nicht mehr beste Freundinnen sein könne. Ihre Eltern wollen das so. Die kleine heile Welt bekommt erste Risse. Risse, deren Ursprung Mira nicht ergründen kann. Auch weil sie gar nicht weiß, was es heißt Jude zu sein. Das soll nämlich einer der Gründe sei, warum sie und ihre beste Freundin nicht mehr zusammen Zeit verbringen dürfen. Sie fragt Tante Hana. Stoisch wie immer, schweigsam wie immer, ein bisschen rätselhaft … wie immer zeigt Hana Mira eine Nummer, die ihr auf den Arm tätowiert ist. Und verschwindet. Jetzt versteht Mira gar nichts mehr. Sie selbst hat keine Nummer auf dem Arm, also ist sie kein Jude. Kindermund tut Wahrheit kund. Erst im Laufe der Jahre soll Mira erkennen, warum Tante Hana die Hana ist, die allen im Ort ein Dorn im Auge zu sein scheint. Alles hängt an diesen vier Buchstaben, die in der Geschichte grundlos für mehr Schaden sorgten als alle Bomben zusammen. Und derzeit wieder für Kopfschütteln sorgen, zum Glück bei den meisten, die es vernehmen müssen.

Alena Mornštajnová nutzt die Kraft ihrer Worte, um der Angst einen Riegel vorzuschieben. Drei Generationen kommen zu Wort, um dem Irrglauben entgegenzutreten, dass mit dem letzten Schuss der Krieg endgültig vorbei sei. Denn das ist er noch lange nicht! Die kleine Mira wird langsam erwachsen und versteht zusehends mehr, was Hana war, und warum sie heute so ist. Ihre Sätze gehen unter die Haut, weil sie keinen Zweifel zulassen. Schnörkellos und unfassbar ehrlich rückt sie perfiden Vorurteilen auf den Leib und entlarvt ihre Sinnlosigkeit mit der erschütternden Logik eines Kindes. Ein Buch, das man lesen muss!

Harriet Tubman

Ann Petry ist erst seit Kurzem (wieder) einem breiten Publikum in den Fokus gerückt worden. Mit „The Street“ und „Country Place“ rückte sie den bedrückenden Alltag der Schwarzen in den USA in den Vordergrund.

Mit „Harriet Tubman“ gibt sie einer realen Figur die Bühne, die ihr zusteht. Harriet Tubman, die als Araminta geboren wurde, war kein rosiges Leben vorbestimmt. Papa, Mama und ihre Geschwister lebten – wenn man das so nennen kann – als Sklaven auf der Farm von Edward Brodas in Dorchester County, Maryland. Verkäufe der Arbeitskräfte waren an der Tagesordnung. Schläge und Willkür der Aufseher ebenso. Wenn im Herbst die Maisernte eingefahren wurde, lockerte sich die angespannte Lage. Es wurde gesungen. Doch wann immer sich die Möglichkeit bot, floh einer der Sklaven von der Farm.

So eine Farm war eine richtige kleine Stadt. Mit Herrenhaus, Feldern, Unterkünften für die Sklaven, Geschäften etc. Ein Besuch der Ostküste wird mit solch einer Information sicherlich zu anderen Eindrücken führen… Die kleine Minta, erlebt schon früh, was es heißt Freiheit herbeizusehnen, auch wenn sie gar nicht so recht weiß, was es bedeutet. Sie hat sie nie kennengelernt. Ohne allzu sehr ins Detail gehen zu wollen, sei erwähnt, dass Ann Petry es exzellent versteht, emotionale Nähe zuzulassen ohne dabei Klischees die Oberhand gewinnen zu lassen. Klar, jeder Leser fühlt mit dem jungen Mädchen, der jungen Frau, der engagierten Kämpferin. Die historische Einordnung am Ende jedes Kapitels hilft Zusammenhänge zu erkennen und die Zeichen der damaligen Zeit (immerhin ist es über zweihundert Jahre her, dass Minta geboren wurde) einzuordnen. Und dass sie das Sklavensystem anprangert versteht sich von selbst.

Harriet Tubman ist real. Es gab sie wirklich. In Kindertagen musste sie mit ansehen wie ihre Mutter schwer verletzt wurde. Ein Aufseher wollte einen fliehenden Sklaven mit einem Gewicht, das man bei Abwiegen benutzt, aufhalten, verfehlte ihn, traf stattdessen die Mutter von Harriet am Kopf. Als erwachsene Frau hatte sie Kontakt zu einer Untergrundorganisation, die Sklaven bei der Flucht in die Freiheit half, der Underground railroad. Und sie wurde ein reges Mitglied dieser Organisation.

„Harriet Tubman“ war eine mutige Frau, die in der Beengtheit ihres Lebens die Mauern, die sie einschränkten Stück für Stück beiseite schob. Um schlussendlich frei sein zu können. Es ist keine Erfindung der Gegenwart, wenn sich Frauen aus ihren Zwängen befreien. Sklavengeschichte(n) kennen wir schon von „Tom Sawyer“ und „Onkel Toms Hütte“. Von Fluchtgeschichten hören und sehen wir fast täglich in Dokumentationen und Spielfilmen, wenn deutsch-deutsche Geschichte erzählt wird. Dieses Buch ist so klar in seiner Aussage, dass es einen erschreckt wie wenig wir bisher über Sklaverei, Flucht und Freiheit wussten im freiesten Land der Welt wussten.

Selig & Boggs – Die Erfindung von Hollywood

„Ich geh nach Hollywood“ – heutzutage ein Synonym für „Ich will Karriere machen“. William Selig hat diesen Satz vielleicht nie so gesagt. Karriere machen wollte er unbedingt und unbestritten. Doch als Filmproduzent in Chicago, wo der Regen und die Wolken einfach keine guten Bilder zu produzieren sind. Schließlich wird immer noch ausschließlich in Schwarz-Weiß gedreht. Francis Boggs, Seligs Regisseur muss öfter abbrechen als weiterdrehen. Das ist mehr als hundert Jahre her. Charlie Chaplin spielt immer noch Vaudeville-Theater, Mary Pickford verzückt nur vereinzelte Zuschauer und der Begriff Effekt besteht nur auf dem Papier. Hollywood ist ein Flecken Land, auf dem Landwirtschaft betrieben wird und der Hintergrund aus etwas Echtem besteht.

Hier schient die Sonne. Und wenn es mal bedeckt ist, dann kommt das vom Gemisch aus Ammoniak und Salzsäure. Das kann man sich in den Mund kippen und qualmt aus allen Löchern. Das ist der einzige Effekt, den man dem Publikum anbieten kann.

Christine Wunnicke gibt dem Mythos Hollywood Zucker, in dem sie mit der Kunst der Literatur dem Streben nach Erfolg im Lichtspielgewerbe einen kraftvollen Anstrich verpasst. Sie reiht nicht einfach nur Anekdoten „aus der guten alten Zeit“ aneinander – sie verknüpft das Schicksal der beiden Filmpioniere mit der Suche nach dem idealen Firmenstandort.

Zwei Männer, die davon beseelt sind dem Publikum das zu geben, was es gar nicht zu suchen vermag. Für Schauspieler werden Merkzettel verfasst – nicht direkt in die Kamera schauen, unnötiges Schminken vermeiden, Fluchen (taubstumme können auch im Lichtspieltheater Lippen lesen) und übertriebenes Kämpfen vermeiden – die sie gefälligst einzuhalten haben. Grundregeln. Die bis heute gültig sind.

Wie ein Wirbelwind fegt die Autorin durch die Geschichte, von der es weniger Aufzeichnungen gibt als man vermutet. Inklusive Mord und Mordversuchen. Denn das Geschäft ist hart umkämpft. Thomas Alva Edison versucht mit aller Macht seine Erfindungen, die meist auch auf Erkenntnissen anderer fußten, vor dem kostenfreien Zugriff Anderer zu bewahren.

Spannend wie ein Krimi, (er-)kenntnisreich wie ein Sachbuch und wunderbar in Szene gesetzt – so stellt sich Christine Wunnickes Erfindung von Hollywood dar. Es gibt keinen Zweifel: Ohne dieses Buch wäre Hollywood ein viel größerer Mythos als es ohnehin schon ist. Sie sägt nicht am Thron. Sie rückt ihn lediglich ins rechte Licht.

Als ich wie ein Vogel war

  1. Juli 1998. In der Manege des Tempodroms in Berlin sitzt ein betagter Mann, dem man die Verwirrung im besten Sinne des Wortes ansieht. Ein lachendes Auge freut sich über den Zuspruch dieses Konzertes, vor und auf der Bühne. Das weinende Auge bricht sich bahn, als es aus ihm herausplatzt, dass man es in Leipzig nicht auf die Kette gebracht hat das Konzert für seinen Sohn in Leipzig stattfinden lassen zu können. Und man – er, Freunde, Weggefährten – hat vieles versucht. Nun findet das Abschiedskonzert für Gerulf Pannach in Berlin statt. Auch symbolträchtig, aber eben nicht die Heimat, die sich so viele wünschten. Zu diesem Zeitpunkt ist der Sänger und Liedermacher, Texter bei Renft ein knappes Vierteljahr tot. Der Krebs hat ihn doch noch besiegen können.

Auf der Bühne steht, was im Namen des Rock in der DDR, fest verwurzelt ist: Maschine, Tony Krahl, die Lütte, Veronika Fischer, Hans-Jürgen Beyer und und und. Sie trauern um einen der Größten ihrer Zunft. Sie lachen, weil sie sich lange nicht gesehen haben. Und wünschen sich einen fröhlicheren Moment ihres Wiedersehens. Die Musik aus ihrer Heimat ist langsam wieder im Kommen. Die Auftritte werden wieder zahlreicher. Doch Gerulf Pannach wird die Wiedergeburt nicht miterleben. Vielleicht hätte er sich das Etikett Ost-Rock-Legende auch nicht gern umhängen lassen. Mehr als zwanzig Jahre zuvor wurde er nicht nur vor die Tür, sondern vor die Mauer gesetzt. Ausgebürgert. Für Ken Loach spielte er einen Mann, der sein Land verlassen muss, und sich auf die Suche nach seinem Vater macht.

Das Buch „Als ich ein Vogel war“ erschien bereits 1999, und ist seitdem vergriffen. Salli Sallmann, Freund Pannachs, Liedermacher, Schicksalsgenosse hat als Herausgeber die Texte Pannachs noch einmal zusammengetragen und um einige Variationen vervollständigt. Mit Hilfe der … Stasi. Ja, der verein, der dafür verantwortlich war, dass Pannach und er sowie viele andere ihr Land verlassen mussten, ihnen der Nährboden entzogen wurde. Denn die Genossen hielten penibel fest, was wer wann wie und wo von sich gegeben hat. So konnten sogar alternative Fassungen ans neuerliche Tageslicht gebracht werden.

In ihnen schwebt immer noch aktuell der Geist der Zeit mit. Die Zeilen sind zeitlos, ohne die Zeit angehalten zu haben. Die immer noch vorhandene Allgemeingültigkeit erschüttert, bestätigt und verwundert den Leser ein ums andere Mal. Gerulf Pannach stach mit seinen Texten ins die Gefühlsblase seiner Zeit, ohne zu ahnen, dass das, was heraustrat jeder Ideologie widerstehen wird. Gehofft hat er es, da kann man sich sicher sein. Lieder wie „Zwischen Liebe und Zorn“ eignen sich nicht als Stadionhymnen, als idealistisches Kampflied sind sie fortwährender Bestandteil unserer Kultur. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Was heute unter der Marke Ostrock vermarktet wird, verdient sicher dieses Siegel. Aber es ist nur der Kern, die populäre Essenz dessen, was auf 108.000 Quadratkilometern den Kampf gegen die Zensur gewonnen hat. Die, die keine Medaille um den Hals gehangen bekamen, rücken in den Hintergrund und sind nur noch einem speziellen Publikum bekannt. Dieses Buch öffnet die Türen für die alten Fans, um sich einmal mehr zu erinnern. Und es ist ein Buch, um einen neuen Publikum eine Zeit näher zu bringen, die immer mehr in die Regale der Geschichte gedrängt wird.

Als Erzähler, als einführende Stimme in die einzelnen Kapitel fungiert Christian „Kuno“ Kunert. Er war nach der Ausbürgerung weiter mit Gerulf Pannach unterwegs. Nach der Wende trat er in mehr oder weniger vollständiger Besetzung wieder mit Renft auf.

Wagnerheldinnen – Wagnerian Heroines

Es gibt wohl keinen Menschen auf der Welt, der von sich behauptet am Abend in die Oper zu gehen, um Wagner zu genießen. Am frühen Abend sehr wohl, aber ab 20 Uhr. Da ist man ja nicht vor 2 Uhr in der Nacht im Bett! Wagners Opern sind kolossal. Brachial, sie hauen einen um. Und sie sind sehr laaaang. Am Komponisten scheiden sich die Geister. Über die Musik – und da sind sich Publikum und Kritiker einig – kann man nicht streiten. Über seine Gesinnung muss man diskutieren. Als Antisemit – zu Recht! – verschrien, als Komponist verehrt. Weltweit treffen sich Wagnerianer, um dem Meister zu huldigen.

Oft werden darüber hinaus die wahren Helden vergessen. Die Darsteller. Sie stehen stundenlang auf der Bühne, spielen Stücke, die eine Zeitlang als unspielbar galten. Sie strapazieren ihre Stimmen bis zur Belastungsgrenze, dass man meint, dass sie es verdient hätten abzugsfrei in Frührente gehen zu dürfen. Kirsten Liese setzt den Wagnerheldinnen mit diesem Buch ein Denkmal. Frauen, die wohl niemals eine Talentshow von innen gesehen haben. Weil sie es einfach nicht nötig haben, sich von quäkigen Stimmen vorführen zu lassen. Wer Wagner singt, hat naturgegebenes Talent und … hat es geschafft! Und sollte bei seinen Leisten bleiben.

Der Intendant der Metropolitan Opera in New York Rudolf Bing verlängerte 1953 den Vertrag mit Helen Traubel nicht, weil sie in den Jahren zuvor Operetten sang. Als Wagnerheldin, bleiben wir bei der von Kirsten Liese eingeführten Bezeichnung, steht man rund um die Uhr unter Beobachtung. Denn fällt die Erstbesetzung aus, ist es fast unmöglich adäquaten Ersatz zu finden. Nicht jede, der laut singen kann, kann Wagner.

Viele der Portraitierten hat die Autorin kennengelernt. In ihren kurzen Portraits, oder besser Huldigungen, vermittelt sie anschaulich deren besondere Gabe und den Geist der Zeit. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten bläst Wagners musikalisches Genie dem Publikum entgegen. Immer wieder gab es Widrigkeiten. Die Sporanistin Marie Louise Dustmann-Meyer sollte um 1860 herum die Isolde spielen. Der männliche Part, Alois Ander hustete sich mehr von Auftritt zu Auftritt, so dass nach siebzig Proben die Aufführung endgültig abgesagt wurde. Unaufführbar lautete das Urteil. Wagner selbst war von der Sopranistin sehr angetan.

Viele derartige Anekdoten machen dieses Buch auch für Nicht-Wagnerianer zu einem lesenswerten Buch, das vielleicht den einen oder anderen Unentschlossenen dazu verleitet seinem Sitzfleisch einen echten Ohrenschmaus zu gönnen. Zwei Pausen Minimum inklusive. Mit diesem Buch werden diese Namen bald schon wieder in aller Munde sein: Frida Leider, Martha Mödl, Dame Gwyneth Jones, Nina Stemme. Auch als Zusatzlektüre zum Programmheft sehr zu empfehlen.