Archiv für den Monat: Juni 2016

Mit dem Zeppelin nach New York

U_5884_1A_ZEPPELIN.IND11

Ein beliebtes Spiel ist Entfernungen oder Volumen zu schätzen. Klar, einen Liter kann jeder anzeigen. Eine Milchtüte bzw. Tetra-Pack kennt schließlich jeder. Aber wie sieht es mit 200.000 Kubikmetern aus? Schwer anzuzeigen und noch schwerer sich vorzustellen. Das ist das Volumen, das der Zeppelin Hindenburg als Gasreservoir mit sich führte. Zweihundertfünfzig Meter lang und Durchmesser von einundvierzig Komma zwei Meter. Das sind Dimensionen, die man Kilometer entfernt schon wahrnimmt.

So in etwa ergeht es auch dem 14jährigen Werner Franz als er als Schiffsjunge auf dem Riesenflieger 1936 anheuert. Nach Rio soll es gehen. Und die Überfahrt dauert fast zwei Wochen. Aktuell werden deutsche Olympioniken mit dem Flugzeug nur ca. einen halben Tag unterwegs sein. Soviel zum Abschätzen.

Mit großen Augen erkundet er die fliegende Zigarre. Brücke, Kombüse, Aufenthaltsräume – Rauchsalon, so was gibt’s heute auch nicht mehr – erforscht er mit kindlicher Neugier. Höhepunkt der Reise ist die Vorüberfahrt der Graf Zeppelin, einem weiteren Luftschiff, das in entgegengesetzter Richtung unterwegs ist. Das Treffen über dem offenen Meer erfolgt so nah, dass sich die Gäste zuwinken können. Dann kommt der Mai 1937. Deutschland ächzt unter dem Joch der Nazis. Die Hindenburg macht sich bereit für die große Überfahrt nach New York. Schneller als ein Schiff zu sein gilt es. Alles muss reibungslos ablaufen. Nur so wird das Unternehmen wasserstoffgefüllte Luftschiffe auch in Zukunft erfolgreich sein. Auf der anderen Seite des Atlantiks erwartet man gespannt die Ankunft des Zeppelins. Unter anderem ist Reporter Herbert Morrison dabei, der mit seiner flehenden Stimme bis heute, knapp achtzig Jahre später, immer noch Gänsehaut hervorruft. Werner kann sich in letzter Sekunde retten.

Sein Urenkel findet eines Tages die Mütze des Uropas auf dem Speicher des Großvaters und fragt ihn aus. Der hatte die Mütze schon längst vergessen, nicht jedoch die Geschichte seines eigenen Vaters.

Die verheerende Katastrophe vom 6. Mai 1937 in Lakehurst beendete mit einem zweiunddreißigsekündigen Feuerball die Ära der Zeppeline. Ein echtes Abenteuer, das man so heute nicht mehr erleben kann. Dieses Buch ist in Zusammenarbeit mit dem Zeppelin Museum Friedrichshafen entstanden, wo die Geschichte der Luftschiffe immer noch lebendig gehalten wird. Dieses Buch ist der richtige Appetitmacher auf solch einen Ausflug. Technische Details werden in kleine Infokästen erläutert, Skizzen und Zeichnungen zeigen die unglaublichen Ausmaße der Zeppeline deutlich auf. Das Buch ist vor allem für Kinder und Jugendliche gedacht, doch auch so mancher Erwachsener wird fasziniert sein. Entweder, weil er die Zeppeline noch nie live gesehen hat oder weil er zu den Wenigen gehört, die sie noch fliegen sahen.

Das sizilianische Mädchen

Das sizilianische Mädchen

Diego Galdino ist Barista aus Rom. Da hört man so einige skurrile Geschichten. Da liegt es nah diese zu einem Roman zu verknüpfen. „Das sizilianische Mädchen“ ist so eine Geschichte.

Der Ort Siculiana in Sizilien ist bekannt für ein ganz besonderes Naturschauspiel. Wenn die Schildkröten schlüpfen gibt es ein wildes Gestrampel in feinen Sand. Dann ,wenn die geschlüpften Schildkröten gen Meer streben. Hier ist Lucia aufgewachsen. Wohlbehütet, ohne Sorgen. Weder finanziell noch seelisch. Nonna Marta ist ihre engste Vertraute, Rosario der Mann, den sie einmal heiraten wird. Das steht fest. Auch er aus gutem Hause. Ob arrangiert oder nicht, die Hochzeit wird einmal die ganze Region bewegen.

Doch vorher will Lucia einmal raus aus der gewohnten Umgebung. Raus in die Welt. Rom soll es sein. Und ein Volontariat bei einer Zeitung ist die Fahrkarte in die Freiheit. Voller Neugier und offenen Auges setzt sie behutsam die ersten Schritte in ihr neues, auf drei Monate begrenztes Leben. Die Klatschbasen der Redaktion amüsieren sie mehr als sie sie ernst nimmt. Auch der Chef ist ganz nett. Nur ihren neuen Kollegen lernt sie erst nach einiger Zeit kennen. Clark Kent, heißt er. Wie Superman! Auch dass sie den gleichen Beruf haben – Journalist – verwundert Lucia kaum. Im Gegenteil. Alles passt. Clark ist ein echter Superman. Das muss sie sich eingestehen. Es ist alles so verwirrend, nicht einmal Marta kann sie davon erzählen. Schließlich wartet in der vertrauten Heimat Rosario. Wenn Nonna Marta wüsste… Sie kann Rosario nicht leiden. Beziehungsweise ist sie felsenfest davon überzeugt, dass Lucia einen Besseren verdient hätte. Rosario ist einfach nur langweilig und uninspiriert.

Lucia nimmt ihr Herz in die Hand und reist nach Sizilien. Nach Siculiana. Zu Rosario. Um ihm zu sagen, dass ihre Zukunft nicht die seine sein kann. Und Clark? Der bleibt zu Hause in Rom. Hält die Füße still. Nur kein Aufsehen erregen. Lucia will und muss das allein durchziehen. Doch die Sehnsucht überwiegt und Clark versucht Lucia anzurufen. Nichts! Keine Reaktion. Kein Lebenszeichen! Also bleibt Clark nur eine Möglichkeit: Selbst in die Höhle des Löwen zu reisen. Mit einer Notlüge kann er sich sogar bei Nonna Marta einnisten. Was ihn allerdings in den nächsten Tagen und Wochen entgegen schwappt, ist mehr als nur das liebliche Planschen der Babyschildkröten. Es ist ein ausgewachsener Skandal, in dem er und Lucia immer mehr zu den Hauptakteuren werden…

Diego Galdino schafft es schon nach wenigen Seiten den Leser für seine handelnden Personen zu begeistern. „Eine Herz und eine Krone“ trifft auf lebendige Urlaubsatmosphäre, so dass man sich schon nach kurzer Zeit im warmen Sand an Siziliens Küste wähnt.

Gebrauchsanweisung für Schottland

Gebrauchsanweisung für Schottland

Gleich der erste Satz gleicht einem Aktualitätsdonnerwetter: Schottland ist nicht England! Wenn man das nur ein paar Tage nach dem Brexit-Referendum (bei dem Schottland mit ansehnlicher Mehrheit für „Bremain“ gestimmt hat) liest, weiß man, wie der Hase läuft. Schottland ist anders, und eben nicht England.

Mit besonderer Leidenschaft widmet sich Autor Heinz Ohff dem schottischen Witz. Der wäre ohne England und Engländer nicht denkbar. Doch kleine Nickligkeiten erhalten die Freundschaft. Und bei einem

Dram, tot, nip oder spot lässt sich die Unterschiedlichkeit am besten vergessen. Die vier Begriffe sind nichts anderes als ein Synonym für einen „Schluck“ Whisky, ohne „e“ vor dem Ypsilon. Das bleibt den Amerikanern vorbehalten!

Auch kulinarisch ist Schottland nicht gerade der originäre Reisegrund. Haggis, das optisch oft fragwürdige, geschmacklich – je nach Anbieter – durchaus schmackhafte Mahl, ist so was wie die Currywurst in Deutschland. Gibt‘s überall. Schmeckt aber nicht überall gleich (gut). Sollte, nein, muss man probieren. Heinz Ohff hat sich bei seinen Aufenthalten in Schottland überzeugen lassen. Doch meint er auch, dass es nicht gerade als Kompliment gilt, Schottland über den Haggis zu definieren. Wir Deutschen wollen ja auch nicht nur auf Currywurst reduziert werden…

Doch nicht nur die Engländer bekommen von den Schotten (den Scots, Scotch wird scottish getrunken – so viel Zeit muss für die Grammatik bleiben) gern mal eines verbal drübergezogen. Auch untereinander gibt es mehr oder weniger ernstgemeinte Querelen. So wie die zwischen Edinburgh und Glasgow. Oberflächlich betrachtet ist das an Einwohnern weit überlegene Edinburgh die Stadt zum Anschauen, Glasgow mit etwas mehr als der Hälfte der Einwohner die Macherstadt. Architekturanregungen gingen von hier in die ganze Welt hinaus. Die Glasgow School of Art ist erst auf den zweiten Blick eine Augenweide. Wer die Möglichkeit hat, sie von innen zu erforschen, sollte das Angebot annehmen.

Bei all den Rivalitäten, die Heinz Ohff aufzählt, bekommt man beim schnellen Überlesen den Eindruck, dass hier der Wettkampf zu Hause ist. Doch der ehemalige Feuilletonchef umgeht geschickt wort- und detailreich den Fauxpas den Schotten Kampfeslust zu unterstellen. War Schottland bis vor Kurzem noch das El Dorado der Allwetter-Bekleidungsjünger, die per pedes Schottland ursprünglich und sanft erurlauben wollten, so gibt der Autor hilfreiche Tipps für Schottlandjungfrauen als auch tiefergehende Ratschläge für alte Schottlandrecken. Schottland ist mehr als nur grünbeweidete Hänge und Burgen, trinkgelageartige Abende und gewöhnungsbedürftiges Essen. Wenn der abgenutzte Spruch zutrifft, dass an irgendeinem Platz der Welt Tradition und Moderne aufeinandertreffen, dann ist es wohl in Schottland. Wer England kennt, wird hier ein weiteres Kapitel in der Britain-Ablage einrichten.

Halt Dich an Deiner Liebe fest

Halt Dich an meiner Liebe fest

Man stelle sich vor, dass es im deutschen Fernsehen ein Castingshow gibt, die die Nachfolger von Ton Steine Scherben sucht. Einmal kurz schütteln! Prrrh! Noch einmal! Ein näselnder Juror fragt: „Wer bist Du? Woher kommst Du? Was machst Du?“ Und dann steht da einer in Baggy pants, ein Totenkopf mit Glitzersteinchen auf dem Shirt, offene Sneaker und behauptet er sei Punk. Jeder Zuschauer, der schon völlig verdreckt im Ratinger Hof in Düsseldorf  Pogo zu den „klängen“ von ZK getanzt hat oder in irgendeinem Dorfgasthof Amateurbands bei ihren ersten Bühnenerfahrungen eine Bierflasche an den Kopf geworfen hat, bricht nun in schallendes Gelächter aus. Das soll Punk sein? Agit-Rock womöglich? Um Himmels Willen. Die Ära ist vorbei. Sie existiert nur noch in den Erinnerungen. Und in Büchern.

Gert Möbius hat nun ein Buch herausgebracht, dass an einen der bekanntesten, eine der schillerndsten Personen, einen wahren Poeten der Aufruhr erinnert: An Ralph Möbius, seinen Bruder. Vielen, vielleicht sogar den meisten, ist er als „König von Deutschland“, Rio Reiser bekannt.

Seine Eltern ermöglichten ihm und seinen beiden Brüdern soweit und sooft es ging alles. Eng waren maximal die Lebensverhältnisse, die Gedanken durften immer frei geäußert und vor allem gelebt werden. Schon früh waren die Möbius-Sprösslinge als Theaterleute erfolgreich. In einer Beat-Oper sollte Drafi Deutscher die Hauptrolle spielen, wurde aber abgelehnt, weil er sich vor Gericht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verantworten musste. Wie die Zeiten sich ändern…

Der steile Karriereaufschwung kam, ungewollt und garantiert nicht geplant, mit Ton Steine Scherben. Gleich mit der ersten Single „Macht kaputt was Euch kaputt macht“ wurde die Band zum musikalischen Taktgeber der aktiven politischen Szene. Sie waren auch Feindbild für alle, die sich im zufriedenen Schaukelstuhl der noch nicht gänzlich aufgearbeiteten deutschen Geschichte einigelten.

Gert Möbius versucht Distanz zu halten – es gelingt nicht immer. Was gut ist! Einem Bruder, einem jüngerem Bruder, ein literarisches Denkmal zu setzen, funktioniert nur mit Emotionen. Und so kommen Anekdoten zum Vorschein, die dem Leser bisher verborgen blieben. Als Bindeglied zwischen Bekannten und Neuem fungieren die Zeilen aus den Erinnerungsbüchern Rio Reisers. Auch Gert Möbius kann so manches beisteuern. Beispielsweise wie ihn Otto Schily, ja, der Otto Schily, über den Tisch ziehen und einen Vertrag unter selbigem verschwinden lassen wollte. Jahre später, als Gert Möbius das Tempodrom eröffnete, und die Scherben spielten, half Rio Reiser eben diesem Otto Schily über die Absperrung zu klettern. Wie die Zeiten sich ändern…

„Halt Dich an Deiner Liebe fest“ ist nicht einfach nur eine Biografie, ein Erinnerungsstück an einen Künstler, der vor zwanzig Jahren viel zu früh gestorben ist. Dieses Buch setzt Himmel und Hölle in Bewegung, damit Verehrer Rio Reisers nicht länger als blinde Passagiere mit dem Kopf durch die Wand gehen. Gert Möbius nimmt den Leser mit für immer und dich, um bei Junimond dem König von Deutschland zu huldigen. Wer die Geschichten für alles Lüge hält, bewirbt sich zwischen Null und Zero auch bei Castingshows, um als Nachfolger von Ralph Christian Möbius berühmt zu werden.

Rendezvous in Paris

C-k-Baum_Rendezvous in Paris-3.indd

Manchmal reicht ein winziger Moment aus, um das Leben umzukrempeln. Und dann wieder alles in den Originalzustand zu versetzen … ein sinnloses Unterfangen. Das klappt nie!

Es ist Dienstagabend. Irgendwo in Berlin wird getanzt, gelacht, geschmust. Die Tennismeisterschaften sind vorbei, der Sieger gekrönt und mittendrin tanzen Frank, der amerikanische Geschäftsmann, und Evelyn, die Frau des Landgerichtstrates, gedankenverloren miteinander. Nur noch Minuten, dann muss Frank den Zug nach Paris besteigen. Minuten, die beide zwischen Hoffnung, Skepsis und momentanem Glück schwanken lassen.

Soll es das nun gewesen sein? Eine kurze, glückliche, verheißungsvolle Zeit in den Armen eines Fremden? Soll es das nun gewesen sein? Eine kurze, glückliche, abenteuerliche Zeit in den Armen einer Frau, die so sehr nach mehr zu lechzen scheint? Soll der Abend schon zu Ende sein? Droht nun wieder der Alltag mit dem lästigen Prozess, der so zu schaffen macht?

Drei Menschen: Evelyn, Frank und Kurt, Gatte von Evelyn. Alle Drei erleben ein und denselben Tag. Jeder hat seine Sichtweise, auf das Jetzt und die Zukunft. Jeder hat seine eigenen Sorgen und Nöte.

Evelyn wagt den Sprung ins kalte Wasser. Frank hat sie zu sich gelotst. Sie in Paris. Ihr Gatte im Gerichtssaal, die Kinder wohlbehütet daheim. Frank voller Vorfreude in Paris, seine Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern laufen schwierig, aber sie laufen. Ist Evelyn nur der amüsante Zeitvertreib zwischen Verhandlungen und Vertragsunterzeichnung?

Wie in einem Tagebuch seziert Vicki Baum die wenigen Tage, die Evelyns Leben so stark veränderten. Jeder der Beteiligten – Evelyn, Frank und Kurt – wird zum Chronisten des Zerfalls. Für Kurt ist Evelyn auf dem Lande bei Marianne, der energischen Freundin Evelyns. Frank und Evelyn genießen anfangs die gemeinsame Zeit. Doch sie sind rational genug zu wissen, dass ihre amour fou ein rasch nahendes Ablaufdatum hat. Es sei denn, …

Wer schon immer mal einen echten Liebesroman – mit allen seinen Höhen und Tiefen – lesen wollte, kommt mit „Rendezvous in Paris“ voll auf seine Kosten. Kein Kitsch, sondern ausgefeilte Szenarien umgarnen den Leser und lassen ihn erst wieder los, wenn das Buch zugeklappt wird. Wer Vicki Baums Roman liest, ist versaut für die nachkommenden Werke. Es ist schwer an ihr emotionales Sprachgewitter heranzukommen.

Telling Time Kalender 2017

 

Telling Time 2017

Wer (bzw. was), wenn nicht die Zeit, soll uns erzählen? Vom Miteinander der Menschen, Kulturen, Religionen. Mehrdad Zaeri ist Illustrator und mit Marie Wolf hat er dem Buch Martin Bubers „Ich und Du“ ein bzw. vierundzwanzig eindrucksvolle Gesichter gegeben. Zwei Bilder pro Monat, die man selbst wählen kann. Denn jeder Monat wird komplett angezeigt, hat aber zwei Bilder. So kann man jeden zwischen Tagen die Bilder tauschen oder nach zwei Wochen oder oder oder …

Doch der Kalender ist kein reines Tagesanzeigeobjekt mit grafischer Aufarbeitung. Die Bilder sind der Hauptbestandteil des Kunstwerkes. Das Buch „Ich und Du“ stammt aus dem Jahr 1923. Martin Buber war Religionsphilosoph. Ihm ging es um den Dialog der Menschen, um sich kennenzulernen und einander zu verstehen. Denn nur, wer sich mit dem Anderen auseinandersetzt, kann ihn auch verstehen. Wie aktuell das Thema nach fast einhundert Jahren immer noch ist, wird jedem klar, der mit offenen Augen die Welt geht. Selbst die, die Augen vor Vielem verschließen dürfte das klar sein.

Mit jedem Umblättern – ob nun jeden Tag oder im Wochenrhythmus – wird dem Dialog ein Bildstatement gesetzt. Der gebürtige Iraner Mehrdad Zaeri und Marie Wolf, die in Berlin Kommunikationsdesign studierte, setzen Textpassagen aus „Ich und Du“ in Bilder um. Mit jedem Betrachten kommt man der Thematik näher. Immer wieder entdeckt man neue Facetten des Themas und setzt sich so mal bewusst, mal unterschwellig damit auseinander.

Flucht und Vertreibung sind mehr als nur ein Sommerthema, um die Saure-Gurken-Zeit zu überbrücken. Für aktive Politiker ist es die Herausforderung, die sie mehr oder weniger gut annehmen (können). Es ist Wahlkampfthema, Populismusfutter und der Grund für Zerwürfnisse ungeahnten Ausmaßes.

Da tut es gut, wenn Künstler wie Mehrdad Zaeri und Marie Wolf leise Töne anschlagen. Siepoltern nicht gleich los, schwingen nicht einmal ansatzweise die Radikalenkeule, sondern beweisen einmal mehr, dass die Feder um einiges schwerer wiegt als die Axt. Mit unterschiedlichen Stilen, sofern ein Laie das beurteilen kann, mal karikaturistisch, mal farbenfroh, mal bunt, mal strikt in Schwarz und Weiß interpretieren sie die abgedruckten Auszüge aus „Ich und Du“. In jedem Bild werden ganze Romane erzählt. Picknick im Wald, Flussfahrten, Kaffeepausen – das Zusammenleben findet nicht nur statt, wenn man es benennen kann. Keine Angst vor großen Tieren! Jeder, egal wer er ist, woher er kommt, was er vorhat, ist es wert, dass man sich mit ihm beschäftigt. So sollte man auch diesen Kalender eine Chance geben. Nicht jeden Tag wird man minutenlang davor verharren und sich fragen, was der Künstler damit aussagen wollte. Aber wenn man nur einmal pro Bild kurz innehält und in die Welt von Mehrdad Zaeri und Marie Wolf eintaucht, wird man merken, dass Kunst doch nicht so unverständlich ist wie sie oft verschrien wird.

Styleguide Paris

Styleguide Paris

Einen Styleguide zieht man zu Rate, wenn man merkt, dass der eigene Style nicht mehr ganz … mmmh sagen wir mal … passt. Eine Stadt wie Paris, eine Stadt, die für jeden Touristen auf den ersten sich als Selbstläufer darstellt, eine Stadt, die sich immer wieder neu erfindet, braucht keinen Styleguide. Oberflächlich betrachtet mag das stimmen. Aber was ist mit denjenigen, die „auf der anderen Seite stehen“? Die, die Paris besuchen? Wenn man die tennisbesockten Sandalenträger in der Warteschlange am Eiffelturm sieht, haben die einen Styleguide mehr als nötig.

Dieses Buch ist für alle Parisbesucher, denen das Überangebot an extravaganten Hotspots die Sprache verschlägt. Und für diejenigen, die den Parisaufenthalt als Höhepunkt des Jahres ansehen. Bloß nichts verpassen! Auf gar keinen Fall irgendetwas vermissen müssen in der schönsten Zeit des Jahres.

Da ist man endlich in Paris. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages in Montmartre genießen, am besten mit einem Croissant in der Hand. Doch wo bekommt man die besten Croissants? Wo den besten Café? Am besten frischgebrüht, mit frisch gerösteten Kaffeebohnen. Elodie Rambaud ist Pariserin, Fotostylistin. Dem Namen und dem Beruf nach die ideale Beraterin in Sachen Style und Paris. Sie ist der Styleguide Paris, wenn es um Essen, Einkaufen und Liebe geht. Egal wie lange man in Paris verweilt, mit diesem Buch ist man bestens ausgerüstet, um wirklich nichts zu verpassen.

Gleich zu Beginn des Buches gibt die Autorin eine kleine Anleitung wie man ein Wochenende in Paris verbringen kann. Kann! Elodie Rambaud gibt Ratschläge, keine sie macht keine Vorgaben! Wer länger belieben kann, blättert weiter und hüpft wohlgemut von Tapetenladen Diptyque zum Maison M, einer Boutique mit ausgewählten Schreibwaren, die es sonst nirgends in Paris gibt, um dann im Yveline Kurioses zu entdecken. Unterwegs kann man im Mahatsara allerlei Buntes und Nützliches aus Afrika bestaunen und shoppen. Oder im Pour vos beaux yeux sich von der Brillenvielfalt verzaubern lassen.

Sicherlich sollte ein Urlaub dazu dienen sich zu erholen. Die einen tun dies, indem sie tagelang am Strand faulenzen. Andere kraxeln lieber Berge hinauf und wieder hinab. Als Städtebesucher erliegt man leicht der Versuchung durch die Shops der Stadt zu tingeln und hier und da sich mit dem „Nötigsten“ einzudecken. Und wie überall ist die Gefahr groß sich nichtssagenden Tinnef ins Reisegepäck zu stopfen, den man zuhause eh bloß versteckt. Der Styleguide Paris ist die Präventivmedizin für alle, die gar zu schnell im Rausch der Zeit dem Rausch des Konsums verfallen. Nicht das „mehr“ ist besser, sondern „besser“, „origineller“ lautet das Gebot der Stunde. Globalisierten Mainstream findet man in diesem Buch nicht. Jeder einzelne vorgestellte Ort ist ein Symbol für Paris, seine Eigenständigkeit als Marke stellt Paris auch mit seinen extravaganten, einzigartigen Shoppingaltären, die die Flaniermeilen der Citytripper links und rechts nicht nur füllen, sondern Paris immer wieder neu kreieren.

Die gekonnte, eigenwillige Aufmachung des Buches verführt zu mehr als dem bloßen Herumblättern. Ein Bildband im Taschenformat, der eine zweite Welle der Impressionen in Bewegung setzt.

Der letzte Granatapfel

Der letzte Granatapfel

Freundschaften pflegen können, Freundschaften ein Leben lang pflegen können, ist nur auf dem Papier heutzutage eine Leichtigkeit. Die sozialen Medien machen es möglich. Aber echte Freundschaften fußen nicht auf Worten und Emoticons, sie werden erst durch Taten zu dem, was sie sind. In einer Welt, die ganze Völkerstämme auf Wanderschaft gehen lassen, Familien schmerzhaft auseinanderreißen, existieren echte Freundschaften oft nur noch in Erinnerungen und bestehen aus Emotionen.

Muzafari Subhdam und Jakobi Snauber waren einst dicke Freunde. Sie teilten alles. Als Heranwachsende auch den Kampf. Als Peschmerga, kurdische Freiheitskämpfer, standen sie Seit an Seit, und stiegen in die Führungsriege auf. Trotz aller Martialität pflegten die beiden eine tiefe Freundschaft.

So beginnt das Buch „Der letzte Granatapfel“ von Bachtyar Ali. Muzafaris Subhdam sitzt im Gefängnis, einem Schloss. Ein Schloss wie es sich die beiden Freunde einst ersehnten. Irgendwo im Nirgendwo, umgeben von der namenlosen Wüste. Jakobi Snauber schickt ihm regelmäßig kleine Briefchen. Einundzwanzig Jahre geht das nun schon so. Gefangen im Ort seiner Träume. Träume, die keine mehr sind. Nach und nach verblassen auch die Erinnerungen an Damals. Damals als Muzafari und Jakobi ein Herz und eine Seele waren. Die Poesie der Worte, die Bachtyar Ali dem ewigen Gefangenen in den Mund legt, wird nur durch die Zahl Einundzwanzig (einundzwanzig Jahre Einöde, einundzwanzig Jahre Gefängnis, einundzwanzig Jahre Sand) mit der Realität verwoben.

Der Autor meint es gut mit dem kurdischen Grafen von Monte Cristo. Er lässt ihn aus der Isolation entkommen. Wieder mit Jakobi Snauber zusammentreffen. Und vielleicht auch mit seinen Kindern… Den nuancenreichen, wortgewaltigen, poetischen Part übernimmt ab hier Mohamadi Glasherz. Das Meer hat ihn an den Strand gespült. Zu zwei Schwestern, deren Namen Weißer Wind und Weißes Königsmeer bedeuten.

Auch Mohamadi ist auf der Suche. Wie Muzafari sucht er sein Paradies. Doch Mohamadi scheint dem Ziel nicht so weit entrückt zu sein…

Wer im unendlichen Heer der Flüchtenden der Erde nur die Gier nach dem scheinbar materiell besseren Leben sieht. Wer ihnen lediglich die Furcht vor Repressalien und Kugelhagel als „Ausrede“ für Flucht zu gesteht, wird mit diesem Buch eine weitere Komponente für Heimweh und Flucht in seine Überlegungen einbeziehen müssen. Flucht ist immer auch ein Weggehen von Heimat. Heimat nicht als Ort, wo man herumstromert und zufrieden den Tag verlebt. Heimat als emotionaler Anker des eigenen Selbst. Die Vertreibung aus dem selbst geschaffenen Paradies ist die schlimmste Folter von allen. Davon berichtet Bachtyar Ali in „Der letzte Granatapfel“. Es sind keine außergewöhnlichen Worte, die dieses Buch zum literarischen Highlight des Sommers 2016 machen. Es ist die gefühlsvolle Zusammenführung selbiger zu einem gefühlvollen Teppich aus Emotionen, Poesie und dem Drang nach Erlösung ohne menschliches Heldentum. Alle handeln konsequent und versichern sich herzensgut und aufrichtig ihrer Liebe. Die Aktualität der realen Geschichte macht die fiktionale Geschichte greifbar und wühlt mit jeder Zeile das Leserherz auf.

Manet – Sehen

Manet sehen

Bild – Skandal – Revolution … wie geht’s weiter? Manet! Edouard Manets Bilder waren zeitlebens ein Aufreger. Doch man konnte sich der Anziehungskraft der Werke nicht entziehen. Kritiker und (einstige) Freunde gerieten sich regelmäßig in die Haare, wenn Manet ausstellte.

Schon Mitte der 60er Jahre des vorletzten Jahrhunderts fanden in Paris regelmäßig Salons statt. In denen stellten die Künstler ihre Exponate aus. Tausende Exponate. Wer auffallen wollte – und Manet wollte auffallen – musste sich schon was Besonderes einfallen lassen. Edouard Manet traf den Nerv der Zeit. Und vor allem den der Betrachter. Ein wohl gesonnener Kritiker traf den Nagel auf den Kopf, als er meinte, dass es immer ein Bild im Salon gibt, das heraussticht. Und das sei immer ein Bild von Manet.

Noch bis zum 4. September 2016 kann man dies in der wieder eröffneten Kunsthalle Hamburg überprüfen. Denn hier sind alle herausstechenden Bilder versammelt. Der begleitende Bildband / Katalog ist ein Füllhorn an Wissen zum Wegbereiter der Moderne. Kann der Besucher dem Blick der Exponate standhalten? Wenn ja, hat man den Titel der Ausstellung „Manet – sehen“ schon verinnerlicht und nach der Lektüre vollständig verstanden.

Wie bedeutend Manet ist, lässt sich nicht allein schon an der Liste der Leihgeber erahnen: Die Bilder stammen aus Paris, Sao Paolo, Boston, Zürich Stockholm, Chicago, Essen und vielen anderen Städten der Erde. Das Buch ist kein Leichtgewicht! Weder wortwörtlich noch sinnbildlich.

Wem Manet bisher nicht viel (außer dem Namen nach etwas) sagte, wird schon auf den ersten Seiten ein Déjà-vu erleben. Viele Bilder sind dermaßen im kollektiven Gedächtnis eingebrannt, dass man sie als kulturelles Welterbe ansehen kann. Nur der Produzent ist einigen unbekannt. Eine Nackte im Park mit zwei Männern, die sie betrachten, mit ihren Reden. Sie schaut lieber auf die, die nicht im Bild zu sehen sind, sondern davor stehen. „Picknick im Freien“ – würde auch heute noch Regungen beim Betrachter hervorrufen, wenn man Model und Maler im Park sehen würde. Nur, dass eben heute tausende von Handy-Fotos gemacht werden würden und in Klatschmagazinen darüber berichtet werden würde…

Die Autoren des Bildbandes sezieren das künstlerische Schaffen Edouard Manets ohne ihn dabei zu verletzen. Mit chirurgischer Präzision tragen sie Schicht für Schicht ab, um den Besuchern das Werk unzensiert nahezubringen. Eindrucksvoll berichten sie von den Schwierigkeiten, denen Manet, der Künstler mit dem ausgeprägten Ego, sich gegenüber sah. Es waren die Blicke, die Manets Werke so aufrührerisch erscheinen ließen. Künstler – Modell, Modell – Modell, Modell – Betrachter. Portaits im Maßstab Eins zu Eins lassen das gängige Verhältnis von Groß und Klein verschwimmen. Man geht an ihnen vorbei, achtlos. Um im gleichen Moment wieder umzukehren, und noch einen zweiten, dritten, vierten Blick zu riskieren. Das Risiko lohnt sich!

Wenn die Ausstellung Anfang September endet, ist der Nachklang immer noch spürbar. Manet ist immer eine Reise, einen Besuch wert. Dieser Bildband wird zukünftigen Besuchern nicht die Neugier auf kommende Ausstellungen nehmen, sondern vielmehr Appetit machen Edouard Manet in seiner Komplexität aufzusaugen.

Rost

Rost - Guy Helminger

Effehzweiodrei! Nochmal? Eff Eh Zwei O Drei. Oder einfach nur Rost. Es dauert eine Weile um aus Eisen und Sauerstoff eben diesen Rost herzustellen. Ein spannender Prozess .. für Chemiker … und alle, die genug Zeit haben dies zu beobachten. Da kann so einiges passieren.

Im Gegensatz zum chemischen Prozess der Transformation, ist der Weg der Protagonisten dieser Kurzgeschichten allerdings um einiges spannender! Zum Beispiel ein Junge, der kühn und keck behauptet eine Berühmtheit zu sein. Alle sind verwundert. Nehmen ihn auf den Arm. Der und berühmt. Sie fühlen sich sicher, ihres Sieges sicher. Bis er seine Behauptung effektvoll untermauern kann.

Oder: Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Gras. Lauschen dem Wachsen der Grashalme. Eine weitere Person ist für Sie sichtbar. Alles ist weiterhin ruhig – Achtung Spoiler-Alarm! Es bleibt auch ruhig! Doch dann kommt irgendwie der Surrealist in dem Fremden durch. Buñuel und Dalì lassen grüßen!

Guy Helminger lässt den Leser zappeln. Und als versierter Preise-Angler lässt er ihn auch nicht mehr vom Haken. Für die Geschichtensammlung „Rost“ erhielt Guy Helminger unter anderem den Prix Servais, den Förderpreis des Landes Baden-Württemberg.

Wenn einem das Schicksal ereilt, muss man sich ihm stellen. Guy Helminger lässt dem Leser viel Spielraum für das, was dem Schock, dem Unerwarteten, dem Bösen folgen kann. Ihm geht es um das davor. Menschen sehen es auf sich zukommen, nehmen es wahr. Doch die Verarbeitung dessen, was da anrollt, dauert. Zu lange! Alles ist so ungewöhnlich, dass man es gar nicht in seiner Gesamtheit erfassen kann. Abwehrmechanismen greifen nicht, da alles so neu ist. Und es kommt wie es kommen muss: Aus, futsch, vorbei! Das Leben hat eine Kehrtwende gemacht und sich das eine oder andere Mal aus dem Staub gemacht.

Der Effekt steht am Ende des Umwandlungsprozesses. Die Zuspitzung des Konflikts ist das fortwährende Spannungsmoment. Ganz im Sinne der asiatischen Weisheit „Der Weg ist das Ziel“. „Rost“ ist der Weg ins Ungewisse, Guy Helminger ist der Wegbereiter, der Leser ist der nicht immer still bleibende Beobachter. Da werden selbst glücksselige Wasserschweine aus ihrer Lethargie gebracht…