Zerrissene Leben

Als sie zwischen zwei Weltkriegen geboren wurde, wussten sie noch nichts von ihrer besonderen Situation. Sie kannten den Weltkrieg nicht, und ahnten noch nichts von dem, der noch kommen wird. Sie bekamen jedoch sehr wohl mit, dass die Welt im Umbruch ist. Nicht zum letzten Mal in ihrem Leben.

„Zerrissene Leben“ führt achtzig Menschen, achtzig zeitzeugen zusammen, die in der Weimarer Republik geboren wurden. Vor Ihnen lagen nur ein paar Jahre einer zarten Demokratie, der braune Sumpf, und je nach Wohnort eine weitere Diktatur, die des Proletariats, wie es immer propagiert wurde oder der demokratische Aufschwung mit wirtschaftlicher Hilfestellung der Amerikaner. Erst viel später gab es wieder ein Land, das sie Heimat nennen durften. Nicht getrennt durch Stacheldraht und ideologische Verbrämung. Durch das Leben dieser achtzig Deutschen ging mehr als einmal ein Riss. Der Historiker Konrad H. Jarausch hat ihren Rissen eine Stimme gegeben und in diesem Buch einen Ort des Gedenkens gegeben.

Dieses Buch ist keine achtzig Kapitel umfassende Abhandlung wie achtzig verschiedene Menschen ihr komplettes Leben in der Nachbetrachtung einschätzen. Es ist die Biographie eines Landes, das das zwanzigste Jahrhundert prägte wie kaum ein anderes, das fast schon im Jahrzehnte-Rhythmus neue Formen annahm und das bis heute zwiegespalten ist. Und die wurde von Konrad H. Jarausch zwar niedergeschrieben, erzählt wurde sie aber von glühenden HJ-lern, geflüchteten Juden, Regimekritikern, Akademikern, Arbeitern. Sie alle rangieren in keinem Ranking, konkurrieren nicht um die Zeilenanzahl, sie sind gleichberechtigte Erzähler, Verbündete im Geist, egal, ob sie Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung waren oder Telefonistin, ob sie in Deutschland blieben oder emigrierten. Das macht dieses Buch so besonders.

Die Herkunft soll keine Rolle spielen. Wer die Herkunft als erwähnenswert ansieht, begeht schon den ersten Fehler. Er unternimmt den ersten Schritt zur Verfälschung. Konrad H. Jarausch tappt nicht in diese Falle. Ihm gelingt mit einfachen Worten Geschichte zu schreiben. Ihm standen alle Türen offen. Archive überließen ihm großzügig ihre Schätze. „Zerrissene Leben“ gehört zu den herausragendstenen Büchern im Geschichtsregal.