Zeitfieber

Höchste Zeit, dass mal jemand ein Buch darüber verfasst. Und nachdem Simon Garfield sich mit Briefen und Karten auseinander gesetzt hat, nimmt er sich nun dem umfangreichen Thema Zeit an. Ja, Zeit … ähm, was kann man dazu schon groß sagen? Habe ich oder habe ich nicht! Bin ich in Eile oder lass den Tag so an mir vorüberziehen. Jaaa, der Ansatz ist nicht schlecht. Doch Simon Garfield wäre mit seiner Sicht der Dinge der Liebling aller Journalistikdozenten auf der ganzen Welt. Eine Überraschung jagt die Andere! Versprochen!

Simon Garfield fängt mit einem Unfall an. Als er mit seinem Sohn vom Saisoneröffnungsspiel von Chelsea gegen Leicester (vor der fulminanten Meisterschaft der Foxes) mit seinem Sohn nach Hause radelt, stößt er mit einer Passantin zusammen. Und was hat das mit Zeit zu tun? Muss er sehr lange auf die Ambulanz warten? Vor seinem geistigen Auge läuft der Unfall noch einmal in Zeitlupe (!) ab. Das war der Ursprung dieses Buches.

Von nun an sprintet der Autor durch die Geschichte, hangelt sich von Fakt zu Fakt, von Anekdote zu Anekdote. Er erzählt von rasanten Zugfahrten und Fahrplänen, die von nun an unser Leben bestimmen. Und kramt so manch wunderliches Ding aus der Klamottenkiste. Wer weiß schon noch, dass die Französische Revolution fast mehr Einfluss auf unser Leben gehabt hätte als sie es ohnehin schon hat? Ganz eifrige Köpfe wollten den Tag in zehn Stunden unterteilen. Die ersten Uhren wurden schon in Auftrag gegeben. Diesen Gedanken muss man erst mal auf sich wirken lassen …

Und weiter geht’s. Beethoven – Musik – LPs – CDs. Eine logische Kette. Beethovens Neunte ist je nach Laune des Dirigenten so um die vierundsiebzig Minuten lang. Passt also genau auf eine … CD. Und das nur, weil der Sony-Chef, der die Entwicklung der CD vorantrieb, dieses Stück so liebte. Eine LP konnte pro Seite nur 22 Minuten fassen. Im Radio haben die meisten gespielten Lieder eine Länge von drei Minuten, maximal dreidreißig. Radio Edit nennt man das dann. Und viele Nachrichtenchefs sind immer noch der Meinung, dass Nachrichten im Radio nach Einsdreißig beendet sein müssen. Mehr verkrafte der Hörer nicht.

Die Zeit, sie rennt, und sie bestimmt unseren Alltag. Stimmt nur fast. Denn wir selbst halten uns an den Messgeräten fest als ob es um unser Leben ging – das ja bekanntlich auch endlich (und vor allem messbar) ist. Die Zeit kann stillstehen – symbolisch und auch nur für einen Moment. Ein Schnappschuss kann ein Zeitzeugnis sein. Aus Gründen der Zeitersparnis werden SMS und Twitter-Nachrichten mit Abkürzungen verfasst. Bei der Arbeit werden exakt die Ankunftszeit und das Arbeitsende festgehalten. Zeitlose Mode ist eine Erfindung der Macher. Ach man könnte so viel über die Zeit schreiben, um selbige sinnvoll zu nutzen. Simon Garfield hat dies getan. Die Zeit vergeht wie im Fluge, mit einem Lächeln oder einem Staunen im Gesicht liest man die über dreihundert Seiten. Immer wieder stockt man, runzelt die Stirn, blättert noch einmal zurück, will dass das Buch nie endet.