Wir sind dann wohl die Angehörigen

Seit dem Frühjahr 1996 lässt sich Johann Scheerer noch unlieber aufwecken als zu vor. Denn an einem Märztag überraschte ihn seine Mutter, dass sein Vater entführt worden sei. Zwanzig Millionen Mark wollten sie haben, die Polizei nach Möglichkeit außen vor lassen. Jan Philipp Reemtsma war kein normales Entführungsopfer. Ihm gehörte ein Tabakimperium, dass er geerbt hatte. Das wussten die Entführer, und deswegen hatten sie sich ihn ausgesucht. Seine Anteile hatte er aber schon Jahre zuvor verkauft und war als Publizist tätig, der in der Kunstwelt einen klangvollen Namen hat.

Ein bisschen Wild-West-Romantik könnte man meinen, wenn man hört, dass ein Angehöriger über den Entführungsfall nun, nach zweiundzwanzig Jahren, ein Buch veröffentlicht. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Fast schon nüchtern distanziert kramt Johann Scheerer in seinem Gedächtnis die Tage im Frühjahr 1996 heraus. Gerade mal dreizehn Jahre war er als zum ersten Mal seine heile Welt Risse bekam. Risse, die bis heute unterschiedlich intensiv sichtbar sind.

Einen Tag zuvor paukte Johann noch für eine Latein-Klausur. Zusammen mit dem ungeduldigen Vater, der nur allzu oft seine Nase in Bücher steckte, und der auch nicht gerade vor Latein-Grammatik-Wissen strotzte. Jetzt ist alles anders. Die Polizei ist im Haus. Mehrfach, vielfach, rund um die Uhr. Inklusive der Familienbetreuer für die Angehörigen.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“, ein schnöder Spruch, der die hanseatische Gelassenheit widerspiegelt, die jedoch tief im Inneren von Angst, Ungewissheit und Furcht zersetzt wird. An Schule und die Latein-Klausur ist derzeit nicht zu denken. Die Entführer melden sich. Klar und konzentriert. Amateure sind das keineswegs.

Immer wieder scheitern Geldübergaben. Freunde und Familie sind für die Angehörigen da. Nur ein paar Dutzend Stunden soll alles dauern – es werden fast fünf Wochen. Wochen, in denen Jan Philipp Reemtsma in einem Keller angekettet sind und sein Bewegungsradius der eines Zollstocks ist. Für die Familie ist es ein Segen, dass sie das Geld mehr oder weniger schnell auftreiben kann. Hoffnung keimt auf. Doch die Entführer sind vorsichtig, extrem auf der Hut. Lauert auch nur ein Funken Gefahr, brechen sie die Übergabe ab. So scheitern mehrmals Übergabe. Der Funke Hoffnung scheint gar bald zu ersticken. Und Johann. Keine Schule. Besuch bei Verwandten. Fingerübungen auf der Gitarre. Chips. Gedanken über sein Verhältnis zum Vater, den er beim Vornamen nennt. Und Briefe des Vaters an die Familie. So viel lassen die Entführer zu. In dreiundreißig Tagen wird er vom Sohn zum Angehörigen.

Die Geschichte ist echt. Nichts erfunden, nicht hinzugedichtet. Sieben Menschen waren unmittelbar an der Entführung beteiligt. Vater, Mutter, Sohn sowie die vier Entführer. Hintermänner, Freunde und weitere Angehörige nicht mit eingerechnet. Johann Scheerer klagt nicht an. Weder die Entführer, noch die Polizei, die nicht immer richtig gehandelt hat (was heißt schon richtig in einer derartigen Situation?). Er lässt mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten das Geschehene noch einmal Revue passieren. Er ist reifer geworden, hat Familie. Der Schnellschuss ist nicht sein Ding. Analysiert und reflektiert holt der die Vergangenheit zurück, ohne dabei gekünstelt die Schleusen ins Tränental aufzudrehen. Gelungener Rückblick auf ein Stück deutscher Geschichte, auf das so viele mit Freuden gern verzichten können.