Tief ins Fleisch

Ismaïl hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Er und Médée waren so was wie ein Traumpaar. Beide erfolgreich im Beruf, drei Kinder, Haus – was man halt so braucht, um glücklich zu sein. Doch Routine und der ewige Kampf um die eigene Frau haben ihn zermürbt. Das bildet er sich jedenfalls ein. Besonders nachdem er Meriem kennengelernt hat. Sie arbeitet in der gleichen Klinik wie er. Könnte irgendwann einmal – wenn sie alt genug ist – seine Nachfolge antreten. Doch vorerst wird sie die Nachfolge von Médée antreten… Ohne großartig ein Wort zu verlieren, verlässt er Médée. Sehr zum Zorn seiner Kinder. Ismaïl denkt sich, dass es die beste Lösung ist – für ihn, aber vor allem für Médée. Dass er dabei total daneben liegt, fällt ihm nicht auf. Tief im Inneren weiß er jedoch, dass sein Fortgang, und besonders die Art und Weise, keinen Sieger kennen kann.

Mit Meriem ist alles so einfach, so leicht. So endgültig. Sie verzichtet sogar auf den lukrativen Job in New York. Für ihn! Und da setzt nach und nach das Hirn wieder ein. Er ist sich bewusst, dass er niemals von ihr verlangen kann, ihre Bedürfnisse hinter seine zu stellen. Hat er auch nicht. Zumindest nicht vordergründig. Doch allein schon die Tatsache, dass er Médée verlassne hat, um mit Meriem zusammen sein zu können, ist Druck genug.

Unverhofft tritt eine seiner Töchter auf den Plan. Sie reist aus London an. Samia hatte schon immer eine enge Beziehung zu ihrem Vater. Doch der findet nicht den Mut die Tochter der neuen Frau an seiner Seite einander bekannt zu machen. Meriem ist verletzt. Auch Ismaïl ist nicht ganz wohl. Die eigene Feigheit verstört ihn. Mehr als eine halbherzige Entschuldigung kann er nicht hervorbringen. Das Gestammel lässt Meriem einen Entschluss fassen…

Yasmine Chami berichtet von einer Familie im Marokko der Gegenwart wie es sie zuhauf gibt. Nicht nur in Marokko. Ohne sämtliche Klischees einer so genannten Midlife crisis dieser Familie anzudichten, beschreibt sie den inneren Kampf eines privilegierten Mannes, der alles hat und dennoch das Unerreichte sucht. Ebenso verzichtet Yasmine Chami darauf die Frau, Médée in die Opferrolle zu drängen. Sie ist selbstständig genug, um ihr Leben allein zu meistern. Auch wenn der Verlust des Mannes an ihrer Seite natürlich schmerzt. Schlagworte wie Emanzipation und Selbstbestimmung sucht man ebenso vergebens wie endlose Schuldzuweisungen und sich ewig um sich selbst drehende Egoismen. Hier stehen selbstbewusste Figuren im Vordergrund mit all ihren Macken, ihren Fehlern und ihren Zweifeln. Scheitern ist keine Option – Kämpfen ohne jeglichen Pathos sehr wohl.