Salzruh

Das FDGB-Ferienheim Rudolf Breitscheid in der Altmark hat auch schon besser Tage erlebt. Und genauso wie der von den Nazis im KZ Buchenwald umgekommene pazifistische Sozialdemokrat Breitscheid ist auch die Pension Bertholdi, wie das Ferienheim heute heißt, in Vergessenheit geraten. Jedoch nicht ganz in Vergessenheit geraten, in verschieden Städten gibt es noch die Rudolf-Breitscheid-Straße oder den nach ihm benannten Platz. Und so ist es auch hier in der Trostlose: Alles hat noch den mittlerweile schmierigen DDR-Charme.

Und die He(e)rbergsmutter ist eine echte Matrone. Oda Prager sieht man exakt vor sich: Streng nach hinten gekämmtes Haar, Kittelschürze, Nylon Strümpe, die kurz unter der Schürze das fleischige Knie freigeben. Sie trägt ganz sicher eine Warze im Gesicht, das auf einer Kinoleinwand, in der Nahaufnahme jedes sprießende Drahthaar in den Fokus rücken. Alle bleiben drinnen. Wegen Schutzmaßnahmen. Das ist mal ’ne Ansage. Und Oda Prager lässt keinen Zweifel daran, dass jedes dieser präzise gewählten Worte ernst gemeint ist. Zuwiderhandlungen werden erst gar nicht erwähnt. Und somit liegen mögliche Bestrafungen allein in der Phantasie der Herbergsinsassen.

Nun ist es so, dass die Pension mitten im Wald liegt. Salzruh wird das Ganze hier genannt. Die dicht an dicht stehenden Bäume schlucken wahrscheinlich jedes Geräusch. Geräusche der Freude, des Entdeckens, aber auch der Angst und des Schreckens. So viel steht schon mal fest.

Die Alterstruktur des Gäste sowie deren scheinbare Charaktere spielen der diktatorischen Oda Prager unzweifelhaft in die Hände. Mittleres bis gehobenes Alter, oft Rentenbezieher, sesselpupsende Tabellenausfüller, auf sich selbst was einbildende Quasi-Intellektuelle – kurzum: Die versammelte schweigende Mehrheit, die lieber permanent die Lippen zusammenbeißt als einmal die Luft zwischen ihren Zähne entweichen lässt. Ein Glücksfall für Oda Prager? Wohl eher nicht! Sie ist die geboren Schlüsselverwalterin. Wortkarg, menschenscheu und misanthropisch. Ihr sind die Meinungen anderer so was von egal, dass niemand ihr zutraut überhaupt eine Meinung bilden zu können. Mitläufer, die Verschwiegenheit in Person. Und diese Person hat nun die Macht über die neun Tische im Haus.

Wagt es jemand sich ihr zu widersetzen? Wenn ja, wer und mit welcher Konsequenz. Man belauert sich und lauert auf das Startsignal zur Flucht. Flucht wohin? Und was ist, wenn die Schutzregeln doch erst gemeint sind? Ohne jedwede Information sind die „Gäste“ gefangen in der Ungewissheit, hin und her schaukelnd zwischen „Ich will doch einfach nur Urlaub machen“, „Der wird’ ich’s zeigen“ und Schwanzeinziehen.

Susan Kreller erfindet das Genre Grusel neu. Hier fliegen keine Phantasiegestalten durch die staubigen Gänge. Auch Zauberkräfte sucht man – Gott sei Dank – vergebens. Es ist das perfide Spiel mit der Angst und der Ungewissheit als willfährigen Handlanger. „Salzruh“ lässt den Leser auch nach dem Zuklappen noch lange nicht in Ruh!