Radiozeiten

Zwei immer wieder totgesagte Medien in Einem: Das Radio, dem schon vor zwanzig Jahren (schon damals nicht zum ersten Mal) der baldige Tod vorausgesagt wurde und das Buch, dem seit dem Beginn des digitalen Zeitalters der Nahtod mehr als nur eine Vorahnung angedichtet wird. Hier gehen sie eine Allianz ein, die jedem Unkenrufer einen ganz fetten Strich durch die Rechnung macht.

Radio ist Kino im Kopf. Lässt man den üblichen und zu weit verbreiteten Dudelfunk mal außen vor, so sind es doch die Reportagen von wirklichen Großereignissen, die selbst im Digitalen die Besucherraten in die Höhe schnellen lassen. Kein Fußballfantum ohne Herbert Zimmermanns „Tor, Tor, Tor, Tor!“. Und das erschreckend ergreifende „It’s crashing…“ von Herbert Morrison vom 6. Mai 1937 sorgt heute noch als Klingelton für Furore. 6. Mai 1937? Morrison? Und schon wieder ein Herbert? Lakehurst, New Jersey. In wenigen Augenblicken soll die Neue Welt von der neuesten Errungenschaft der Alten Welt leibhaftig ergriffen werden. Die Hindenburg, genauer gesagt das Luftschiff LZ 129 Hindenburg soll gleich auf amerikanischem Boden landen. Der Zeppelin soll und wird die Welt verändern. Doch das mit Helium gefüllte Flugobjekt geht binnen Sekunden in Flammen auf, um alsbald in selbigem Meer zu versinken. Live on air: Der Reporter Herbert Morrison. Seine Stimme überschlug sich als der Himmelgigant in nie gekannter Geschwindigkeit in einen Feuerball verwandelte. Das konnte niemand ahnen. Und kein Reporter der Welt konnte sich darauf vorbereiten. Authentisch – als Vorführbeispiel in Journalistenseminaren unerlässlich. Heutige „Irgendwas-Mit-Medien-Kameragesichter“ nennen das „Emotion pur“.

Stephan Krass – ob der Name Programm ist? – lässt die Jubelstunden der Radio Days noch einmal aufleben. In seinen Essays entmystifiziert er das immer noch schnellste Medium der Welt. Ein Medium, dass nur über ein Sinnesorgan wahrgenommen wird, und den gesamten Körper in Wallung versetzen kann. Durch Musik. Durch Geschichten. Hier entsteht Tag für tag, Stunde für Stunde eine Welt, die uns zeitweise in den Bann zieht, das Eine oder Andere vergessen lässt und im Gegenzug Dinge in den Vordergrund rückt, die man im schlimmsten Fall verpasst hätte. Aber auch ein Medium das genau aus diesen Gründen das ideale Spielfeld für Manipulation war, ist und immer sein wird. War es vor knapp hundert Jahren noch die Göbbelsschnauze, die für kleines Geld die Propaganda der braunen Fehlgeleiteten die Massen indoktrinierte, so sind es heute oftmals Podcasts von „Künstlern“, die mangels Auftrittsmöglichkeiten ihre Lebensweisheiten als Dogma ihren Fans anbieten. Der Bogen von anno dazumal – sagen wir einhundert Jahre?, als aus dem Voxhaus in Berlin das erste Unterhaltungsprogramm im Hörfunk durch den Äther knisterte – bis zum heutigen astreinen, rauschbefreiten Singsang ist gewaltig. Stephan Krass reitet diesen Bogen mit Begeisterung, die ansteckt. Lesen Sie – so ist Radio!