Nur das Geistige zählt

Wenn jemand fünfundneunzig Jahre alt geworden ist, kann er nicht nur viel erzählen, sondern hat sich das Attribut „Niemals aufgeben!“ redlich verdient. Meta Erna Niemeyer kennt heute kaum noch jemand. Ré Soupault ein paar ausgewählte Kunstinteressierte. Ihre Erinnerungen strotzen nur so vor Lebensfreude und Lebensmut, dass Madame Soupault sich ihren Platz in der Geschichte bald wieder zurück erobern wird.

Sie begleitete fast das komplette 20. Jahrhundert hindurch das Leben diesseits wie jenseits des Atlantiks. Aus der pommerschen Provinz ins thüringische Weimar katapultiert, gehörte sie den Bauhaus-Absolventen, deren Namen vielleicht nicht in erster Reihe standen. Ihre Dozenten hielten große Stücke auf sie. Ludwig Mies von der Rohe gestaltete später noch ihre Büroräume und Ateliers als sie als Verlagsmitarbeiterin in Paris weilte. Doch die Nazis machten ihrer Karriere einen Strich durch die Rechnung. Über Marseille gelangte sie nach Tunesien.

Da war sie schon die Frau an der Seite von Philippe Soupault, der in Tunis einen Widerstandssender als Gegenstück zum faschistischen Radio Bari gründete. Auch dafür kam er ins Gefängnis. Ré Soupault blieb immer an seiner Seite, hielt durch. Durch ihren Einsatz und den von anderen durften die beiden bald Tunesien verlassen. Über Algier ging es in die neue Welt, New York war ihre erste Anlaufstelle.

Eine ausgedehnte Weltreise durch Südamerika lässt den Krieg, der immer noch in Europa herrscht, ein wenig in Vergessenheit geraten. Als dieser vorbei ist, ist auch die Ehe von Philippe und Ré zunächst einmal unterbrochen. Doch die Zeiten sind hart. Als Deutsche im Land der Sieger hat sie wenig Chancen. Sie über nimmt die Wohnung von Max Ernst. Muss jedoch einsehen, dass die Mieten in New York für sie nicht bezahlbar sind. Doch aufgeben gilt nicht. Wer mit André Gide Schach gespielt hat, sich von Antoine de Saint-Exupery Fliegergeschichten anhörte und die Schriften von Romain Rolland übersetzen kann, den haut so schnell nichts um. Mittlerweile lebt Ré Soupault in der Schweiz, erhält ein karges Einkommen. Ohne die Unterstützung derer, die sie einst unterstützte, wäre sie am Ende…

Am Ende sind die Memoiren dieser einzigartigen Frau mit der letzten Seite des Buches noch lange nicht. Es ist das Jahr 1949. Ein halbes Leben. Ein Fortsetzung ist also mehr als gewünscht und sicher in absehbarer Zeit erhältlich. Sie Selbstverständlichkeit, mit der Ré Soupault ihr Leben annahm, ringt höchsten Respekt ab. Immer wieder kommen einem Gedanken in den Kopf, wie es wohl gewesen wäre, wenn Ré Soupault nur ein paar Jahrzehnte später geboren wäre. Ohne Krieg, ohne Einschränkungen für Frauen, ohne staatlich unterstützte Ressentiments gegenüber Ausländern. Gegenwärtig hat man das Gefühl, dass Letzteres schon wieder salonfähig werden kann…