Kaddisch für Babuschka

Zufall oder Schicksal? Die Großmutter der Ich-Erzählerin, die gerade über einem Roman über eben diese Großmutter sitzt, ist gestorben. Im fernen Lemberg, dort, wo die Ich-Erzählerin geboren wurde. Es ist lang her, dass sie die Stadt, die so viele Namen trug – Lviv, Lwow, Leopolis – gen Berlin verlassen hat.

Der Roman kann warten, muss warten. Die Reise gerät zur Rückschau auf ihr eigenes Leben, das der Großmutter, aber auch zu einer Recherchereise für ihren Roman. Mit aller Gewalt prallen zwei Welten aufeinander. Realität und Fiktion verschmelzen in den Kämpfen mit der Mutter, der Trauer und der Gegenwart zu einem Fragment über die eigene Identität.

Babuschka, die Großmutter, war die ruhige Seele der Kindheit. Jetzt, auch wenn sie schon lange nicht mehr im Leben der Autorin körperlich präsent war, drängt sie zurück ins Rampenlicht. Traditionell werden nach jüdischem Brauch die Leichname sofort unter die Erde gebracht. Zeit verlieren, heißt Erinnerungen zu verlieren.

Die Straßen der Geburtsstadt sind ihr vertraut, vertrauter als niemand anderen sonst. Spaziergänge, das Lichterspiel der Wohnungen – sie sind wieder da. Als ob nichts gewesen wäre. Und dennoch ist diese Stadt, die dem Krieg im Osten der Ukraine von außen zusehen muss, eine fremde Welt. Zu sehr ist Berlin die neue Heimat.

Die eigene Herkunft ist nun mehr denn je greifbar. Jüdisches Leben in Lemberg ist kaum noch vorhanden. Der Alltag und Vertreibung haben ihre Spuren hinterlassen. Babuschka ist nicht mehr. Sind nun alle Brücken hierher, in die Kindheit abgerissen? Werden sie je wieder aufgebaut werden können?

Die Romanheldin Hannah darf ihre Babuschka noch kennenlernen. Die Ich-Erzählerin nutzt sie als Vehikel der Erinnerung. Doch Hannah und ihre Schöpferin sind eins.

Eins mit der Erinnerung zu sein bedeutet für Martina B. Neubert „Kaddisch für Babuschka“ schreiben zu können. Tief gerührt, nachdenklich, bestürzt, nachgiebig sprengt sie die Mauern, die einmal gebaut wurden. In Rückblenden erinnert sie sich an Babuschka und führt sie durch ihre Romanheldin Hannah zurück ins Leben.