Ich bin ein Laster

Zwanzig Jahre sind Agathe und Réjean schon ein Paar. Sie die sensible Frau an seiner Seite, die Rockmusik mag – er der Anpacker, der bei französischem Folk ins Schwärmen gerät. Sie haben sie arrangiert. Was auf den ersten Blick wie pure Langeweile aussieht, entpuppt sich alsbald als Eheerhaltungsmaßnahme auf höchstem Niveau.

Agathe weiß, dass Réjean niemals zum Angeln fährt, wenn er sagt zum Angeln zu fahren. Sie nimmt es hin. Immerhin klappt es im Bett vorzüglich, besser denn je. Und sein Spleen immer das neueste Chevy Modell fahren zu müssen, naja, daran hat sie sich gewöhnt. Kurz vor ihrem 20. Hochzeitstag jedoch kehrt Réjean nicht mehr vom Angeln zurück. Sein heiß geliebter Wagen (zumindest solange bis das Update draußen ist) steht mutterseelenallein am Straßenrand. Der Picknickkorb ist unberührt. Die heile Welt, so wie sie sie kennt, beginnt zu bröckeln.

Das Leben muss weitergehen. Agathe sucht sich einen Job bei Stereoblast. Wer alte Elektronik in achtbare Münze verwandeln will, ist hier richtig. Umsatzqueen ist hier Debbie. Sie bringt Lahme zum gehen, verwandelt Elektroschrott in wohlklingende Töne und ist für Agathe der Rettungsreifen, den sie sich nicht mal im Traum erwünschte. Starthilfe ins neue Leben. Auch ein Mann steht schon fast auf der Matte von Agathe. Martin heißt er. Zunächst zögernd, ist er ihr bald näher als ihm lieb sein kann. Was Agathe nicht weiß, er und sie teilen ein und denselben Schmerz.

Auch Réjean beginnt ein neues Leben. Er ist nicht tot! Das vermuten nur alle. Leider weiß er das nicht. Denn seit dem seltsamen Unfall ist sein Gedächtnis so neblig wie die Gebirgszüge der Anden, so löchrig wie ein Schweizer Käse und er ein völlig anderer Mensch. Körperlich war schon immer eine imposante Erscheinung. Das mochte Agathe an ihm. Auch das weiß er nicht mehr. Er würde sie nicht mal mehr erkennen, wenn sie vor ihm stünde. Nicht einmal, wenn sie ihm seinen Namen ins Gesicht schreien, ihn abgöttisch küssen würde. Er würde es nicht verarbeiten können. Was heißt hier „könnte“? Er kann es nicht als es ihm passiert…

„Gegensätze ziehen sich an“, „Was sich liebt, das neckt sich“ oder ähnliche Weisheiten schießen dem Leser beim während des Lesens durch den Kopf. Doch Michelle Winters unternimmt nichts, um diese Klischees auch nur ansatzweise zu bedienen. Und schlittert man unversehens in einen Abgrund hinein, den man nicht kommen sah, den man gern in Kauf nimmt, der ein abruptes Ende nimmt. Die kolossale Kunst einer ungewöhnlichen Beziehung Würze zu geben und dabei die Schärfe zu nehmen, gelingt der Autorin mit Bravour, so dass einem nur eines übrig bleibt: Das Buch noch einmal zu lesen! Und noch einmal und noch einmal und noch …