Gesang für die Verlorenen

Kamerun in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Kolonialmächte England und Frankreich versuchen – nach ihren eigenen offiziellen Angaben – das Land in eine gesicherte Zukunft entlassen zu können. Nach ihren Regeln. Doch es regt sich Widerstand. Die UPC, Union der Völker Kameruns, Frontschild im Kampf für die Freiheit will einen raschen und vor allem gewaltlosen Übergang in die Unabhängigkeit. Ruben Um Nyobé – der im Buch wie des Damokles‘ Schwert der verheißungsvollen Freiheit über allem schwebt – ist ihr Anführer. Als die Partei Mitte der 50er Jahre verboten wird, muss er zusammen mit seinen Gefolgsleuten in den Untergrund gehen.

Soweit die Fakten. Hemley Boum fügt der Geschichte eine weitere Geschichtensammlung hinzu. Ein Weggefährte Nyobés ist Amos. Er ist verliebt in Esta, doch ihre Liebe steht unter keinem guten Stern. Denn Esta ist schon einem anderen versprochen. Ihre Tochter Likak, die sie allein erzieht, was an sich schon ungewöhnlich genug ist, ist ein aufgewecktes Mädchen. Sie hat genauso ihren eigenen Kopf wie ihre Mama Esta. Sie lässt sich nichts vorschreiben. Dabei bleibt sie immer liebenswert und angenehm offen. Ein Charakter, den man nur selten antrifft. Außerdem ist eine Art Hexe im Geheimbund Ko’ô. Hier treffen sich die Frauen des Ortes, um sich auszutauschen und um ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

Doch der Frieden in der UPC, im Land und im Dorf ist fragil. Neid und Missgunst sind die erbittertsten Feinde des Fortschritts. Ein Seitenwechsel geht schneller von vonstatten als den Köpfen der Bewegung lieb sein kann. Der schnöde Mammon sorgt für Verwirrungen bei vielen und für Enttäuschungen auf Seiten der Unabhängigkeitskämpfer.

Esta und Amos gemeinsamer Weg ist jäh beendet als die zu viele Kameraden die Seiten gewechselt haben.

Pierre Le Gall ist die Giftspritze im Fleisch der Dorfgemeinschaft. Er sieht den gesellschaftlichen Veränderungen mit Skepsis entgegen. Den Menschen in dem Land, in das er als Unterdrücker kam, traut er wenig bis gar nichts zu. Seine Abneigung zeigt er offen. Seine Taten sind widerwärtig. Doch auch seine Tage sind gezählt.

Ausnahmsweise darf man mal ein Buch mit dem Ende beginnen. Denn hier sind die familiären Verflechtungen der handelnden Familien grafisch in einem Stammbaum dargestellt. Hat man sich mit den außergewöhnlichen Namen angefreundet, liest man sich in einen Rausch, aus dem man nie mehr aufwachen will. Wer mit wem, warum? Ein Höllenritt durch die Geschichte Kameruns und einen echten Freiheitskampf auf allen erdenklichen Ebenen. Erstaunlich wie frei die weiblichen Figuren in diesem Buch sich entfalten. Sie sind die wahren Heldinnen, für die der titelgebende Gesang als Marschmusik erdacht wurde. Sie schreiten stolz und unbeirrt voran. „Gesang für die Verlorenen“ steigert sich mit jeder Seite mehr in ein Geflecht aus Traditionen, progressivem Kampf bis hin zur teilweisen Aufgabe. Das Ende des Buches löst so manches entstandene Problem auf. Nämlich dann, wenn längst verschollene Figuren durch vier Fotografien und einen nicht enden wollenden Brief endlich ihren Frieden machen können und aus den Vergessenen präsente Helden erwachsen.