Die Straße zum 10. Juli

Vorsicht! Wenn Sie jetzt dieses Buch aufklappen, sind sie verhaftet – besser gesagt: Gefangen! Sie vergessen am besten alles um sie herum. Geben sich Nona Fernández hin und verschmelzen mit den Zeilen ihres Romans „Die Straße zum 10. Juli“. Anders überleben Sie dieses Buch nicht!

Auf der Straße zum 10. Juli stand einst ein Polizeirevier. Viele gingen hinein, nur wenige wieder hinaus. Juan, die kleine Leo, die Ubilla-Brüder, Greta. Sie waren damals eine verschworene Gemeinschaft. Traten ein für Gerechtigkeit. Damals im Gymnasium.

Heute gehen sie ihrer Wege. Juan geht wohl den extremsten Weg. Alles, was einmal war, zählt nicht mehr. Frau weg, Job weg, Juan … auch weg. Auf einmal. Kurz zuvor sorgte man sich noch um ihn. Ein Baulöwe bietet ihm eine ungeheure Summe für sein Geburtshaus. Eine Versicherungsvertreterin scheint sich sehr rührend um ihn zu kümmern. Aus seiner Akte – sie hat über jeden eine Akte, jeden! – liest sie, dass eine gewaltige Veränderung in seinem Leben voranschreitet. Doch alle Telefonate gehen ihm nur auf die Nerven. Er will sich nicht helfen lassen. Dann steht noch einmal Lobos, der Baulöwe vor der Tür, auf dem Dach, mit schwerem Gerät. Und Juan? Juan ist weg.

Greta ist auf der Suche. Auf der Suche nach Juan, nach der Puzzleteilen der Vergangenheit. In der Straße zum 10. Juli wird jeder fündig, der Puzzleteile sucht. Ein Ersatzteil-El-Dorado für alle, deren Wagen nicht mehr anspringt. Die Vergangenheit zusammensetzen geht hier am besten. Zumindest, wenn man nur Teile sucht.

Juans Verschwinden, die Nähe zur Colonia Dignidad, die perfiden Machtverhältnisse in Chile wirft Autorin Nona Fernández in einen großen schwarzen Kessel und rührt kräftig im Hirn des Lesers herum. Was ist echt, was Einbildung? Die Grenzen verschwimmen. Immer tiefer zieht sie die Akteure und die Leser in den Strudel der Ereignisse.

Die Colonia Dignidad war eine vom Deutschen Paul Schäfer gegründete Sekte, die Menschen bestialisch quälte, missbrauchte und unter dem Schutz der Junta Chiles, aber auch der deutschen Botschaft stand. Jahrelang waren die Machenschaften Schäfers und seiner Handlanger bekannt – unternommen wurde nichts. Selbst der freiheitsliebende Ex-Bundespräsident Joachim Gauck brachte es nicht fertig das Versagen der Behörden einzuordnen.

Die Gruppe um Greta, die sich wieder formiert hat – oder ist es alles nur Einbildung wie die Zwiegespräche mit dem verschollenen Juan? – beschließt dem Loch mit Tür einen Riss zu versetzen.

Nona Fernández ist eine Meisterin der Sprachbilder. Greta, die Ersatzteile sammelt, um den Bus von damals wieder flott zu bekommen, der ein Symbol der Einigkeit der Gruppe darstellt oder Juan einfach so verschwindet, um sich dann nur Greta wieder zu zeigen – sie alle fügen sich erst auf der letzten Seite zu einem großen Ganzen zusammen. Geduld und die Unterdrückung des Würgereizes (die Schilderungen der Zustände in der Colonia Dignidad lassen einfach niemanden kalt) gehören zur Grundvoraussetzung dieses Buch lesen zu können. Als Belohnung winkt ein Leseerlebnis, das so noch nie, ansatzweise nur vereinzelt, zu erhaschen war. Ein Thriller im Gewand einer historischen Aufarbeitung mit allen Zutaten, der die Erwartungshaltung mehr als übertrifft!