Die Nacht mit Nancy

Etwas oder jemanden nach seinem Äußeren zu bewerten, gehört sich nicht. Mit dieser Wohlerzogenheit streift man nun durch eine gut sortierte Buchhandlung nach ein wenig Lesestoff, der für Zerstreuung, Aufregung und Erheiterung sorgen soll. Und plötzlich räkelt sich da jemand vor einem, der in der Lage ist all die guten Vorsätze mit einem Blick über Bord zu werfen. Es ist Mrs. Randin. Nancy sollen wir sie nennen. Das zwinkert sie dem Leser zu, und den Beteiligten im Buch haucht sie es entgegen. Ein Figur wie eine Sanduhr. Verlockende Locken. Und das Negligé ist wie von Zauberhand – upps – über die Schulter gerutscht. Niemals eine Person oder ein Buch nach seinem Einband beurteilen!

Dieses Buch ist der einmalige Freifahrtschein, um das Äußere vorerst einmal siegen zu lassen. Denn Wilson Collison füllt die hübsche Hülle mit nicht minder anregendem Inhalt. Es war eine rauschende Ballnacht, zumindest eine Sommerparty, irgendwann in der 30ern des vergangenen Jahrhunderts, irgendwo in den Staaten. Alle haben sich prächtig amüsiert. Die Hausherrin ist bekannt dafür, dass den Gästen, weiblichen wie männlichen – meist beiden gleichzeitig – alle Räume zur Verfügung stehen. Auch deswegen sind die Parties der Hanleys so beliebt.

Doch dieses Mal ist das Ende nicht absehbar. Nicht so, denn ein Gast hat sich dermaßen erschreckt, dass ein markerschütternder Schrei jedwede Art von Heiterkeit im Keim erstickt. Denn Mrs. Randin, ach nennt mich doch Nancy, hatte unerwarteten Besuch im selbstgewählten Morpheus-Asyl. Wer das war, der ihre Stimmbänder derart strapazierte, kann sie beim besten Willen nicht sagen. Und nun sitzt die ganze Partygesellschaft beisammen und versucht in poirot’scher Manier den Unhold herauszufiltern. Jeder der anwesenden Männer könnte ein Motiv gehabt haben. Und alle das Gleiche… Denn Nancy, die einmalig geschiedene Mrs. Randin, hat den Dreh raus wie man bei Männern jeglicher Couleur im Kopf für Verwirrung sorgt. Außerdem ist sie eloquent und gibt auf Fragen nur so viel preis wie sie es für angemessen hält.

Diese Wortspiele auf höchstem Niveau sorgen für Erheiterung, heizen die Spannung an und regen die Hausherrin in besonderem Maße auf. Doch wer war es denn nun, der den Vamp Nancy so glockenhell erschallen ließ? Ganz ehrlich … das interessiert keinen mehr. Nancy ist Nancy, das muss genügen.

Und es genügt auch wirklich sich ihrem Spiel zuzuschauen. Sie ist eine wahre Heldin. Permanent wird sie von allen Seiten beschossen. Solidarität unter Frauen – das kann sie vergessen. Und dass sich der angeklagte Gentleman als solcher seine Maskerade fallen lässt, ist unwahrscheinlich. Allein im Kampf gegen Vorurteile hat sich Nancy ein hartes Fell zugelegt. Und sie verteidigt es mit Charme, Chuzpe und Contenance. Beifall kann sie nur vom Leser erwarten. Und der kommt prompt und lang anhaltend.