Der Oslo-Report

Überall auf und in der Welt gibt es regeln, an die man sich zu halten hat. Man mokiert sich nicht über den Vorgesetzten, wenn er siebzehn Fehler in eine vier Zeilen lange Email einbaut. Oder die Iren beharrlich als Irländer bezeichnet. Andererseits sind Regeln auch manchmal dazu da, um gebrochen zu werden. Wenn perfide Systeme Menschenwohl – und dabei sind die Ausmaße unerheblich – bedroht sind, muss man dem Menschenverstand den Regeln des gesitteten Umgangs den Vorzug geben.

November 1939. Seit zwei Monaten marodiert die braune Kriegsmaschine durch das verschreckte Europa. Menschen werden verschleppt, verprügelt, vergast. Häuser brennen, ganze Landstriche dem Erdboden gleichgemacht. Die Wahrheit stirbt bekanntlich zuerst im Krieg. Und so verwundert es bedauerlicherweise wenig, dass ein kriegsentscheidender Bericht mit mehr Skepsis betrachtet wird als mit der freudigen Neugier eines begeisterten Kindes, das als einziges ein Spielzeug in den Händen hält, um das es jeder beneidet.

Die britische Botschaft am Drammensveien 19 in Oslo erreicht ein Umschlag mit mehreren Seiten höchstbrisanten Materials. Da schreibt jemand von Torpedos, die sich an Schiffe heften können, um sie zur Explosion zu bringen. Ferngesteuerte Flugzeuge, präzise Sprengstofflandungen abwerfen können. Radareinrichtungen, die aus bisher ungekannter Entfernung nahende Flieger erkennen. Kriegsschiffe von enormer Größe. Langstreckenbomber, die bald schon in gigantischer Anzahl zur Verfügung stehen können. Und der Absender? Unbekannt! Ist ja klar. Welcher Verräter unterschreibt schon garantiert lebensgefährdende Papiere?! Ist man auf der anderen Seite amused, begeistert, dem „Hurray“ näher als dem „Oh my god!“? Stirnrunzeln, Abneigung, Zweifel bestimmen die Szenerie. Seit wann kommt etwas Gutes aus dem Dunkelreich vom Kontinent? Ja, die Ausführungen sind detailliert. Vielleicht zu detailliert. Zu oft schon ist man vermeintlich gut gemeinten Aktionen auf den Leim gegangen. Erst vor Kurzem wurde eine gut vorbereitete Aktion mit einer schallenden Ohrfeige zunichte gemacht. Das dem Deutschen heutzutage vorgeworfene Übervorsichtigsein greift unter den englischen Lamettagenerälen um sich. Lieber nicht allzu euphorisch sein. Das ist bestimmt eine Falle!

Der Verfasser des Oslo-Reports war jahrzehntelang ein Phänomen. Er selbst gab sich nicht zu erkennen. Der Report verschwand in staubigen Archiven. David Rennert zieht mit seinem Buch den Hut vor einer mutigen Tat eines mutigen Mannes, dessen Name mittlerweile bekannt ist, der aber nur wenigen auserwählten Historikern ein Begriff sein dürfte. Der Physiker Hans Ferdinand Mayer spannte mit Handschuhen ein knappes Dutzend Seiten Papier in die Schreibmaschine, die man ihm freundlicherweise im Hotel Bristol in Oslo lieh. Nichts, aber auch gar nichts, sollte auf den Hochverräter hinweisen. Es klappte nur zum Teil. Mayers Wissen um die deutsche Kriegsmaschinerie blieb unentdeckt. Die Chance den Krieg, und somit unerträgliches Leid, bedeutend früher zu beenden, wurde vertan. Erstes war ein Glücksfall, Zweiteres eine Blamage. Dieses Buch gehört in die erste Kategorie: Ein Glücksfall, dass der Autor sich diesem Thema widmete.