Der Irrweg

Vom rechten Weg abzukommen, heißt nicht automatisch, den falschen Weg einzuschlagen. Lars ist Zivi in der Psychiatrischen Anstalt von Linderstedt. Seine Mutter hat ihn ganz gut im Griff. Meint sie. Dass sie ihren Filius mit ihrer Art ihn zu drangsalieren nicht zwingend auf dem vermeintlich rechten Pfad halten kann, stört sie keineswegs. Lars leidet jedoch unter ihr wie ein frisch geschorenes Lamm im Frühjahrswind.

Der Zivildienst ist für ihn mehr als nur eine Möglichkeit die Zeit zu überstehen bis sich „was anderes ergibt“. Es ist eine Flucht. Dass auch hier in den Werkstätten der Wahnsinn an jeder Ecke lauert, ist ihm klar. Spätestens als ihm bewusst wird, dass die Arbeitstherapeuten, die sich nicht ausstehen können, ihn als Spielball missbrauchen. Sagt der Eine Hü, sagt er Andere Hott. Ein Irrenhaus! Im wahrsten Sinne des Wortes.

Doch Lars fügt sich. Er findet Gefallen daran zu erkennen, wie er die Bewohner des Heims, die Arbeiter, die Angestellten zu nehmen hat. Schnell schließt er sogar so etwas wie Freundschaften. Zum Beispiel mit Hanna. Sie zeigt ihm ziemlich eindeutig und eindrucksvoll, was sie erwartet. Vom Leben, von sich selbst und von Lars.

Ja, diese Hanna hat das Zeug Lars’ Leben komplett auf den Kopf zu stellen oder besser gesagt: In Flammen aufgehen zu lassen! Er ist Feuer und Flamme für sie. Sie für ihn. Sie hat das Rüstzeug, um die ganze Welt, besonders die von Lars – vielleicht so gar die vom Chef, zumindest sein Auto? Wer weiß … – in ein Flammenmeer zu verwandeln.

Lars wurde bisher in seinem kurzen Leben immer gesteuert. Selbstantrieb war ihm bisher fremd. Die Mutter, die keine Möglichkeit ausließ, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Die Zivistelle, die ihm bisher auch kein Glück brachte, sondern zeigte, dass Machtfantasien von tieferer Stelle aus fiesere Auswirkungen haben könne, als wenn sie von Oben kommen. Und dann diese Hanna. Kein Links, kein Rechts. Immer gerade heraus. Immer geradeaus. Was ist eigentlich, wenn man den Irrweg, den man bisher beschritten hat, verlässt? Kommt man dann automatisch auf den richtigen Weg? Oder lauert dann schon der nächste Irrweg?

Mit viel Gefühl und brachialem Wortwitz stellt Martin Lechner dem Leser seine Vision von Linderstedt vor. Linderung kann hier wirklich niemand erwarten. Linderung wovon? Das ist wohl auch die entscheidende Frage. Wenn alles Leid „normal“ ist, wovon soll man dann geheilt werden? Wenn das, was man kennt, nicht nach Linderung schreit, ist die Stätte der Linderung ein weit entfernter Ort. Keine Angst vor großen Gefühlen, keine Angst vor schrägen Gedanken, keine Angst vor Linderstedt – „Der Irrweg“ ist ein Weg, den man nicht verlassen kann, weil er den Leser fesselt. Mit angenehmen Nebenerscheinungen.