Das Mundstück

Bei der Vergabe von sportlichen Großereignissen wie Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften fragt man sich des Öfteren nach den Gründen, warum gerade dieses Land oder diese Stadt ausgewählt wurden. Dass dabei immer der finanzielle Aspekt mehr als nur das Zünglein an der Waage war, ist nicht von der Hand zu weisen. Wie war das im Juni 2012? Polen und die Ukraine richten die Fußball-EM aus. Zwei Länder, deren Nationalmannschaften zwar nicht zum Fallobst für die vorherrschenden Größen im europäischen Fußball gelten, aber an diese beiden Länder hätte man niemals zuerst gedacht. Es wurde ein Fest für alle Beteiligten, schlussendlich. Und besonders die Ukraine rückte erstmals in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Kiew kannten viele. Auch Donezk war dank dem Verein Schachtjor Donezk bekannt. Aber Charkow (russisch) bzw. Charkiw (ukrainisch) kannte doch kaum jemand. Für ein paar Wochen, ein drei Vorrundenspiele war sie für jeweils neunzig Minuten der Nabel Europas. Die Millionenstadt fristet nun aber wieder ein Mauerblümchendasein.

Eine österreichische Fremdsprachenlektorin soll einen Reiseband verfassen. Dass es sich hierbei um die Autorin Bianca Kos handelt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Fiktion und Realität treffen in „Das Mundstück“ auf exzellente Weise aufeinander. Die Suche nach Stoff für den Reiseband darf der Leser miterleben. Und bekommt so einen Einblick in das Leben einer Millionenstadt im Osten Europas, die blühen kann, es aber nicht darf.

Die Lektorin ergibt sich in ihr Schicksal. Arbeiten in einem Land, das ja eigentlich gar nicht so weit weg ist von zu Hause. Aber vor Ort sind die Unterschiede gravierend. Bürokratische Hürden sind da noch die lösbarsten. Sollte man meinen. Doch schlussendlich sind es genau die, die ihren Aufenthalt prompt und endgültig beenden werden. Es sind die Kleinigkeiten, die den Alltag so beschwerlich machen. Schuhe beim Schuster abgegeben, Anzahlung geleistet und … den Laden, die Baracke, die Hütte einfach nicht mehr wiederfinden. Sie ist einfach weg. Einfach so! Oder die Studenten, die ihr anvertraut wurden. Disziplin – mangelhaft! Stoisch wollen sie lieber lauschen als selbst aktiv zu werden. Und wenn sie sich regen, dann alle auf einmal und alle durcheinander.

„Das Mundstück“ ist nicht für einen Werbeprospekt der Stadt Charkiw geeignet. Die Liebenswürdigkeit der Menschen, hat man sich ihnen endlich nähern können, ist eine Erwähnung außerhalb der Stadt auf alle Fälle wert. Hier ist nicht alles perfekt. Im Gegenteil. Ebenso lässt das Engagement etwas zu ändern zu Wünschen übrig. Dennoch ist dieses Buch ein Muntermacher für die ermüdeten Ukraine-Nachrichten-Seher unserer Zeit. Mit Witz und Empathie der Autorin kommt man der ukrainischen Seele auf die Spur.