Carapax

Eine Reise nach Rom soll es sein. Ganz allein. Ohne Pierre, ihren Gatten. Und ohne die Kinder. Auch ohne Nina, ihre Schwester. Maddalena fühlt es in jeder Faser ihres Körpers. Sie muss nach Rom. Was für viele Reisewütige ein „ganz normaler Vorgang“ ist, ist für Maddi eine Notwendigkeit ungeahnten Ausmaßes.

Schon immer war sie die Beherrschte, die große Schwester, die, die alles gesagt bekommt, die sich alles anhören muss. Jetzt ist sie einmal an der Reihe. Doch den genauen Grund ihrer Reise wird sie sich noch erarbeiten müssen. Sie weiß nur: Sie muss nach Rom.

Stets ist sie für alle da. Ihren Mann, einen Diplomaten. Das hübsche Anhängsel. Gute Miene zu jedwedem Spiel. Für die Kinder, klar, kein Zweifel. Und für Nina. Die sie pausenlos mit Nachrichten bombardiert, ungeachtet von Zeitverschiebung und Plänen der Schwester in Europa. Nina, das sprunghafte, nur ein paar Monate jüngere Pendant zur überlegten Maddi. Nina ist es auch, die ihre Beziehung zu Brian, ihrem Partner beenden will. Es ist wie ein Fanal für Maddalena. Sie erinnert sich zurück in ihre Kindheit. Als die Mutter sich mit einem Kuss verabschiedete und für immer weg war. Spontane Besuche inklusive. Damals als Papa die Wohnung in Rom kaufte, jemanden einstellen wollte, als Betreuerin für die Mädchen. Als Mama nicht da war. Schon damals war klar: Maddalena und Nina sind so verschieden, dass man es kaum fassen konnte, dass sie tatsächlich Schwestern sind. Maddis Erinnerungen haben scharfe Konturen. Ninas Leben hingegen ist verschwommen wahrnehmbar. Maddis zögert noch sich selbst anzuerkennen. Nina ist sich ihres Tuns bewusst. Und dennoch trägt die jeweils Andere die Konsequenzen der Entscheidungen der Schwester.

Der Name Ginzburg wiegt in Italien, in Europa schwer. Sie ist die Tochter des Historiker Carlo Ginzburg und Enkelin von Natalia Ginzburg, der intellektuellen Stimme der Frauen Italiens nach dem Krieg. Ein Erbe, das schwer wiegen kann. Mit scheinbarer Leichtigkeit erlaubt sie dem Leser Einblick zu nehmen in die Gefühlswelt einer Frau, die Pflichtbewusstsein als eben dieses begriff, darin jedoch nie einen Nachteil sah. Schritt für Schritt emanzipiert sie sich von dieser Rolle, ohne auch nur einmal die schmerzhaften Erinnerungen außer Acht zu lassen als ihre Mutter sie alle verließ. Zwei Schwestern, die sich erst jetzt richtig vereinen werden. Oder ist alles ganz anders?