Aline

Ein Schweizer Bergdorf am Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier oben ist man nicht dem lieben Gott näher, weil es schon immer so war, sondern liegt generell dem Paradies zu Füßen. Die Sonne brennt gerade in den Sommermonaten erbarmungslos hinab. Im Aus dem Staub des Weges schält sich für Julien, der gerade das Gras mit der Sense mäht Aline heraus. Siebzehn Jahr, blond, sommersprossig. Diebeiden kommen ins Gespräch. Bald schon macht er ihr den Hof, schenkt ihr Ohrringe, sie büchst des Abends öfter mal aus, was ihrer Mutter Henriette überhaupt nicht schmeckt. Was will man machen, wenn die Liebe die Fauna in der Körpermitte zum Beben, zumindest aber jedoch zum Kribbeln bringt.

Auch Julien, der Sohn des Ammanns, in der Schweiz der Bürgermeister, ist ganz hin und weg von Aline. Vor allem gefällt ihm aber die Vorstellung die Macht zu besitzen Aline dirigieren zu können. Ein Spaß für den Hallodri, der den Wert einer Liebe und die seines (zukünftigen) Besitzes nicht zu schätzen weiß. Denn die Liebe des armen Dinges (Aline) ist größer als seine Zuneigung zu einer Person je sein kann. Er nimmt sich, was er braucht. Sie bekommt … ein Kind. Von Julien. Welch Glück! Welch Glück? Was für ein Glück? Das Kind ist unterwegs, ist da. Und Julien ist weg.

In solch einer misslichen Lage hilft nur noch die Familie. Hier wird man aufgefangen. Doch Aline hat auch hier eine Niete in der Lotterie des Lebens gezogen. Henriette ist nicht nur nicht erfreut über den unerwarteten Familienzuwachs, sie weist Aline auch gleich die Tür. Das ganze Dorf zerfetzt sich das Maul über das ungebührliche Benehmen von Aline. Von Julien, diese bittere Medizin hat Aline schon geschluckt, ist erst recht nichts zu erwarten. Er hatte seinen Spaß, von Verantwortung will er nichts mehr wissen. Die Dorfgemeinschaft ist sich einig, wenn der Großpapa des Bastards die wichtigste und einflussreichste Person im Ort ist, fließen aus seinem Munde nur Wahrheit und Reinheit. Aline ist allein mit der Frucht ihrer Lenden. Am Ende ihres Martyriums ist sie aber noch lange nicht. Das soll sich noch viel tragischer gestalten …

Charles-Ferdinand Ramuz gehört zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern französischer Zunge. Sein Konterfei ziert den 200-Franken-Schein. Mit seinem Roman „Aline“ haderte er. Schon kurz nach der Erstfassung überarbeitete er ihn immer wieder, kürzte, feilte am Stil. Das Ergebnis zieht den Leser van Anfang an in seinen Bann. Die so wunderbar unschuldige, naive Aline und der sicher keinen Deut intelligentere Julien sind Personen, die man mag. Bis Julien sein wahres Gesicht zeigt. Ein feiger Jüngling, der sich hinter dem Rockzipfel der Mama verstecken kann so lang er will und der sich der unbedingten Zuneigung Papas sicher sein kann. Und Aline? Völlig entblößt sieht sie einer Zukunft entgegen, die keine Fröhlichkeit erlaubt. Der klare Stil Ramuz‘ schafft einen Mikrokosmos einer schweizerischen Dorfgemeinschaft, die sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Leser werden in einen Sog aus Idylle und Verachtung gezogen, aus dem man nicht so schnell entkommt.