Archiv für den Monat: September 2016

Die Spur des kleinen Prinzen

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Auf dem Papier hat es Julius Wortschmidt geschafft: Eine exzellente Anstellung bei einem Pharmakonzern in den USA, eigene Abteilung. Er ist im Hamsterrad der Zahlenoptimierung gefangen und dreht an seinem eigenen Rädchen. Er fasst Arbeitsprozesse in zahlen und verkauft sie an Leute, die sie sowieso gleich wieder vergessen. Da kommt der Bewerber Paul Anders wie gerufen. Auch Deutscher, aus dem gleichen Bundesland, an der gleichen Schule gewesen wie Wortschmidt, die gleiche Theater AG besucht. Und die gleiche Leidenschaft für „Der kleine Prinz“. Wortschmidt kann sogar noch ganze Passagen auswendig. Doch Anders bekommt den Job nicht – kein neuer Freund im Firmengewand.

Dennoch: Der kleine Prinz bzw. die Erinnerungen daran, setzen in Julius Wortschmidt etwas frei. Damals, der Besuch im Zoo, und am Abend die erste Geschichte aus dem Buch der Bücher. Was in seinem Fall „Der kleine Prinz“ war. Er erinnert sich an die Bandproben mit den Freunden, der trauten Gemeinschaft, die – je älter er wurde – nach und nach zerbrach.

Nun ist er ein angesehener Mitarbeiter eines global players, fügt Zahlen aneinander, weist ihnen ihre Bedeutung zu, doch seine einstige Unbekümmertheit blieb im mathematisch gesteuerten Weg nach oben stecken.

Die kurze Begegnung mit dem Bewerber lässt in Julius Wortschmidt zarte Hoffnung aufkeimen. Immer öfter flüchtet er sich – unbewusst – in die Geschichten des kleinen Prinzen, erinnert sich an unschuldige Zeiten, in denen der Forschergeist noch selbst initiiert war. Das Fanal, das Antoine de Saint-Exuperys Buch in ihm auslöste, beginnt von Neuem zu keimen. Mal im Traum, mal in der Realität, immer häufiger ergreift der kleine Prinz von ihm Person. Um ihn herum ist alles echt und plastisch zugleich. Steril kommen ihm Arbeit und Kollegen vor. Lebendig sind nur die Versatzstücke der Kindheit. Selbst eine wahre Begegnung mit der Vergangenheit verkommt zu einem flüchtigen Hallo!

Wortschmidt sieht ein, dass er erwachsen geworden ist, ohne es zu bemerken. Er ist nicht mehr der kleine Prinz, der aufwachsen darf, wie es ihm beliebt. Er ist Teil des Systems. Doch auf dem Höhepunkt seines Schaffens, gelobt er Besserung. Dank der Sanddüne, dem Stern und dem blonden Jungen, der ihm seit Jahrzehnten begleitet…

City impressions Lissabon

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„Lissabon? Lissabon? Muss irgendwie ein Vorort von Bonn sein!“ Was vor dreißig, vierzig Jahren noch als Nonplusultra des deutschen (bzw. deutschsprachigen) Humors galt, ist längst überholt. Lissabon ist modern, lebhaft und dunkel und geheimnisvoll zugleich. Das kann man nun glauben oder nicht. Es stimmt jedenfalls. Da hat man jetzt zwei Möglichkeiten: Zum Einen – man fährt in die portugiesische Hauptstadt und macht sich ein Bild davon oder, zum Zweiten, man lässt jemanden da hin fahren und einhundertdreiundachtzig Farbfotos schießen. Hübsch verpackt in einem mehrere Pfund schweren Prachtband. Schon der Einband lässt es erahnen, dass hier kreatives Köpfe am Werk sind. Denn ein typsicher Schnappschuss lugt vorwitzig durch ein – auf den ersten Blick willkürlich – gestanztes Loch. Bei genauerer Betrachtung ist dieses „Loch“ der Umriss der Stadt, um die es auf den folgenden dreihundert Seiten geht: Lissabon. Weit weg von Bonn und gähnend langweiligen Jahrzehnte alten Fernsehwitzen.

Bernd Rücker ist der Reiseleiter für alle neugierigen Gäste der Stadt, die mit Perspektivwahl, Kameraeinstellung, Motivkomposition und Lichtsetzung sich in Stimmung bringen wollen. Seiner Reisegruppe / Leserschaft rät er „Augen auf“, er selbst schließt die Augen und wartet geduldig auf den Moment die Kamera exakt in der Sekunde in Bereitschaft zu halten, wenn alles stimmt.

Aus dem Dunkel heraus taucht sich das Straßenleben in sattes braungelb, im Hintergrund LEDs gleich die endlosen Lichterketten der Ponte 25 de abril. Sich auftürmende Wolken sind die Leinwand, die er wie bestellt zur Hand hat, wenn der Tag erwacht. Lange Schatten werfen die Abenteuer des Tages an die Häuserfassaden und künden von Stunden voller Erlebnisse.

Marcos ist einer, der an diesem besonderen Tag Besonderes erleben wird. Er ist immer vorn dabei, wenn es darum geht Lissabon zu erobern. Denn Marcos führt eine der zahlreichen Straßenbahnen der Linie 28E vom Bairro Alto über die Baixa und die Alfama bis nach Graça. Er ist der wichtigste Mann für viele Touristen, denn er führt sie durch verwinkelte Gassen, über steile Anstiege, enge Passagen, die jeden Besucher den Mund offen stehen und die Kameras zücken lassen. Nüchtern betrachtet ein langweiliger Job: Jeden Tag die gleiche Route auf exakt den gleichen Wegen. Kein links oder rechts Entkommen. Immer nur stur geradeaus, Richtungswechsel sind nicht willkürlich, sondern erforderlich und vorhersehbar. Er tut seinen Dienst, ruhig und stoisch. Auch Julia ist hier unterwegs. Sie darf links und rechts der Route schauen, sie muss es sogar. Denn sie gehört zur „Kundschaft“ von Marcos, ist Touristin, neugieriger Gast, lebendiger Besucher. Sie sieht das, was Marcos schon längst abhanden gekommen ist: Die Schönheit der Stadt.

Das ist nur eine von fünf Geschichten, die zwischen den Bildabschnitten den Leser innehalten lassen. Prachtvolle Bilder und bildhafte Anekdoten sind die Maulsperren des Betrachters. Erst, wenn die Sonnenstrahlen einmalige Einblicke in die Stadt freigeben, drückt Bernd Rücker ab. So entstehen Eindrücke, die viel Besucher niemals erleben werden.

Wie die gesamte Reihe City impressions (über Rom, Marrakesch, Venedig, Paris, Barcelona und Istanbul) ist auch dieser Bildband in zwei Varianten zu erstehen, deutsch/englisch und französisch/spanisch. Jeder Bildband taugt ohne Zweifel als persönliches Fotoalbum, um Plätze und Straßen, einmalige Erlebnisse und faszinierende Aussichten noch einmal Revue passieren zu lassen. Und als exquisites Geschenk stiehlt man jedem die Show…

Französisch ganz leicht – Jubiläumsausgabe – Sprachkurs für Anfänger

Französisch ganz leicht Jubiläumsausgabe

Bongschur, Bongsoah, orevoahr. Sieht nicht gut aus! Klingt aus nicht besonders professionell! Aber der Wille ist zu erkennen. Wenigstens etwas. Für alle, die sich vom Buchstabensalat beirren lassen: Bonjour, Bonsoir, Au revoir! Guten Tag, Guten Abend, auf Wiedersehen. Dafür braucht man keinen Sprachkurs! Sofern man es nicht schreiben muss…

Es ist immer ratsam auf Reisen ein paar Brocken der Landessprache zu beherrschen. Das erleichtert den Zugang zum Land, zu den Menschen, zur Kultur. Außerdem … nein … keine Vorurteile. Viele Reisebücher werben damit ein paar Brocken Französisch auf ihren Seiten den Leser mit auf den Weg zu geben. Das ist löblich, doch schon bei einfacher Konversation stößt man an seine Grenzen. Doch extra nur für einen Urlaub sich noch einmal wochen- oder gar monatelang auf die Schulbank zu setzen und Vokabeln zu pauken, nur um im Urlaub ein wenig glänzen zu können? Ist auch übertrieben.

Der Sprachkurs für Anfänger „Französisch leicht gemacht“ findet spielerisch das überzeugende Mittelmaß. Nicht zu viel, nicht zu wenig, doch genug, um im Falle plötzlich einsetzenden Interesses weiterzumachen. Echte Szenarien, denen man garantiert begegnen wird, bilden die Grundlage des Einsteigerkurses. Vorbildung braucht man nicht. Von Nöten sind nur ein wenig Zeit und der Wille sich ein wenig auf die neue Sprache einzulassen.

Ohne viel Anlaufzeit geht es schon los. Begrüßung, Vorstellung und dazwischen immer wieder die Eigenheiten der französischen Sprache. Denn das deutsche und das französische Alphabet sind zwar gleich auf dem Papier, doch fließen Vokale und Konsonanten ganz anders aus den Mündern – ganz am Ende des Buches werden die Ausspracheunterschiede noch einmal klar aufgegliedert, das erleichtert in mancher Situation das mühselige Nachschlagen.

Die einzelnen Kapitel werden immer wieder von Hinweisen zu den beiden mitgelieferten CDs unterbrochen. Das dient nicht nur der Auflockerung, sondern vor allem dem Verstehen. Keine Angst, wenn es nicht sofort klappt. Denn nicht immer geht es darum jedes einzelne Wort exakt zu bestimmen. Manchmal ist es völlig ausreichend den Gesamtzusammenhang zu erfassen. Oft reicht es schon aus, wenn man ungefähr weiß worum es beispielsweise bei einer Durchsage auf einem Flughafen oder Bahnhof geht.

Wer sich die Mühe macht und Kapitel für Kapitel in regelmäßigen Abständen durchzuarbeiten, wird schnell auf den Geschmack kommen. Dann kann man Frankreich viel entspannter genießen und hat nicht immer nur die Wahl zwischen vin blanc oder vin rouge, sondern kann exakt seinen Wunsch vortragen. Und vielleicht klappt’s dann in der Hauptstadt der Liebe auch mit der Liebe, wie bei den beiden auf dem Cover der Box…

Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers

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Ben Jackson ist ein exzellenter Kenner der amerikanischen Literatur der 40er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts). Einige Schriftsteller konnte er stolz zu seinen Freunden zählen. Wie zum Beispiel Carson McCullers. Und nun erzählt er wie Carson McCullers wurde, was sie war: Ein Wunderkind!

Der Anlass, der in bewegt seine Gedanken niederzuschreiben, ist traurig. Denn Carson McCullers hat nur wenige Tage zu vor ihre Augen für immer geschlossen. Und Ben Jackson soll nun ein paar Worte auf der Beerdigung sagen. Es fällt ihm schwer. Und so zieht er sich immer mehr in die Vergangenheit der viel zu früh verstorbenen Carson McCullers zurück:
Dass sie einmal ein Wunderkind zur Welt bringen würde, war Marguerite Waters Smith schon immer klar. Deshalb sollte der Stammhalter auch den Namen Caruso bekommen. Caruso Smith – der Hang zur absolut unpassenden (weil unmelodischen, und frei von jedwedem sozialen Zusammenhang) Namenswahl ist also keine Erfindung der Neuzeit. Doch dann kam es anders – aus Caruso wurde Lula Carson, später einfach nur Carson. Als Carson noch Lula Carson war, setzte sie sich ans Klavier der Eltern. Freunde hatte die Kleine keine, zu schäbig, nicht gut für sie, unpassend für ein Wunderkind. Kinderliebe kann schon seltsame Blüten treiben… Und sie klimperte nicht einfach nur so herum, sie spielte Melodien, Lieder. Ein echtes Wunderkind eben! Ihre Mutter sollte recht behalten.

Doch auch Wunderkinder haben ihren eigenen Kopf. Schriftstellerin will sie werden. Auch als an der renommierten Juilliard School of Music in New York angenommen wird, verflüchtigt sich dieser Wunsch nicht. Sie schreibt schon als Teenager Geschichten. Und als sie das Schulgeld verliert, sich aber nicht getraut es zuzugeben, muss sie sich – allein in New York – irgendwie über Wasser halten. Sie schreibt, bekommt sogar Geld dafür und landet mit „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ihren ersten Erfolg.

Aus Lula Carson Smith, der Wunderkind von Gottes Gnaden, wird Carson McCullers, die bedeutendste Autorin Amerikas, wenn es nach Tennessee Williams geht. Doch um ihre Gesundheit ist es nicht gerade gut bestellt. Die Rückschläge gesundheitlicher Art werden immer häufiger. Die Erfolge auf schriftstellerischer Ebene lassen nicht lange auf sich warten. „Spiegelbild im goldnen Auge“, „Die Ballade vom traurigen Café“ knüpfen nahtlos an „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ an.

Und Reeves, ihr Mann, Namensgeber? Auch er wollte Schriftsteller werden. Mit ihrer ersten Gage kaufte er sich von der Army los. Sie war er ehrgeizig und erfolgreich, er nur ehrgeizig. Reeves und Carson waren füreinander gemacht, doch schafften es nicht im eigenen Glück zu baden…

Das ist alles nur … fiktiv. Kein Ben Jackson! Leider! Doch Barbara Landes nimmt man jedes Wort in ihrer Romanbiographie ab. Jedes Wort, jedes Komma, jedes Adjektiv sitzt und pulsiert. Als ob das einstige Wunderkind Carson McCullers selbst die Feder gehalten hätte. Wenn Romane wie diese Sinnbild für den Spätsommer sind, lassen sie den noch so heißesten Sommer wie eine laue Brise erscheinen.

Sich an eine Biographie zu wagen, die das Objekt der Begierde selbst schon verfasst hat, grenzt an eine Herkulesaufgabe. Von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn es sich um jemand wie Carson McCullers handelt. Die Leichtigkeit, mit der Barbara Landes der Schriftstellerin gegenübertritt (oder sollte man sagen „neben ihr herschreitet“?) überrascht. 2017 jährt sich Carson McCullers Geburtstag zum hundertsten Mal. Wer jetzt noch vorhat die Schriftstellerin mit einem Buch zu ehren, muss mehr als einen Kniff im petto haben. Ben Jackson, Barbara Landes und Carson McCullers, zwei real, einer erfunden, sind das trio infernale des literarischen Herbstes 2016.

Amsterdam – Eine literarische Einladung

Amsterdam - Eine literarische Einladung

Mal ganz ehrlich: Amsterdam ist in den Köpfen vieler eine Aneinanderreihung von Klischees. Überall Fahrräder mit Personal, Coffeeshops mit entsprechender Klientel und das Rotlichtviertel. Ein Schmelztiegel der Kulturen, also auch sehr tolerant. Und man kann in die Wohnungen hineinschauen, weshalb Gardinenverkäufer in Amsterdam im Speziellen und in Holland im Allgemeinen zum Scheitern verurteilt sind. Tja, mit den Klischees ist das so eine Sache. Irgendwas ist immer dran. Doch die Realität zeigt das ganze Spektrum der Problematik. Ja, Amsterdam kann sich rühmen eine Menge Nationalitäten, und somit auch Kulturen, beherbergen zu können.

Robert Vuijsje bringt es in seiner Geschichte der literarischen Einladung in die holländische Hauptstadt auf den Punkt: Ja, es gibt viele Ausländer, noch mehr, die so aussehen … doch auch untereinander ist man sich nicht immer grün. Oft reicht es sogar aus dem falschen Viertel zu kommen, um kruden Vorurteilen entgegentreten zu müssen.

Auch das lockere Bild der radelnden Amsterdamer wird durch die wilde Fahrweise vieler (der meisten) in die Realität gerückt. Anrempeln ist Volkssport. Vorfahrt gewähren deutet auf etwas hin, das neu und unverständlich wirkt.

Doch blättert man weiter, unternimmt mit Charlotte Mutsaers einen Rundgang durch Jordaan. Oder erlebt mit Annie M. G. Schmidt das Amsterdam der Klischees. Die Giebel, die langjährige Amsterdamer kaum noch wahrnehmen, rücken in den Vordergrund, Grachten werden zu Naturschauspielen, die Touristenträume wahr werden lassen und das lockere, freie Amsterdam bahnt sich den Weg ins Gedächtnis.

Die Stadt scheint wie geschaffen für einen Kurztrip. Alles schnell erreichbar, übersichtlich, durchstrukturiert. Doch erst, wer aus den geplanten zwei, drei Tagen ein, zwei Wochen macht, wird die Stadt kennenlernen können. Die Autoren dieses Buches kennen die Stadt – man kann sich auf ihr Urteil verlassen. Schon längst haben sie die rosarote Brille beiseitegelegt und schauen nun, mal mit Tränen in den Augen, mal mit Zorn, mal mit Wehmut auf „ihr Amsterdam“. Als Leser staunt man, welch Spektrum an Möglichkeiten hier schon immer existierten und sich bis heute darbietet. Wenn der Titel schon eine Einladung verheißt, sollte man sie annehmen. Es erwartet einen ein unterhaltsames Menü mit deftigen Fakten, perfekt gewürzten Appetitanregern und entspanntem Plauschen vor einzigartiger Kulisse.

Wird nun durch dieses Buch das Bild Amsterdams zerstört? Nein, alles nur das nicht! Dieses rote Büchlein trägt seine Farbe nicht umsonst. Es zeigt eine Stadt, die nach und nach ihr altes Kleid der Toleranz abstreift, nicht um es gegen die Uniform der Ablehnung zu tauschen, und sich und dem Leser / Besucher ein neues farbenfrohes Kleid der Aufmerksamkeit und Akzeptanz überzustreifen.