Archiv der Kategorie: aus-erlesen Bonjour

Lourdes

Das Besondere an Vorurteilen, an Mythen und denen, die daran glauben, ist die Tatsache, dass man über sie herziehen kann. Gleichfalls ist es aber so, dass jedem Mythos auch ein Funken Wahrheit anhängig ist. Joris-Karl Huysmans geht es sicherlich wie so vielen vor und nach ihm: Um seine Gesundheit steht es nicht besonders gut. Ärzte und Fachleute sind überfordert und können im besten Fall Linderung verschaffen. Heilung – aussichtslos. Zehn Jahre nach seiner Geburt, erschien der vierzehnjährigen Bernadette mehrmals die Heilige Jungfrau – ein Wunder. Und schon war eine regelrechte Wunderindustrie geboren. Fünfzig Jahre später, kurz nachdem Huysmans hier logierte, zählte man schon eine Million Besucher, Pilger, Ratsuchende. Die spendeten ihr hart verdientes, kauften billige Kerzen zu überhöhten Preisen, ließen sich auf Bahren und in Rollstühlen in die berühmte Grotte fahren, badeten im heilenden Wasser, tranken es, rieben sich damit ein. Vereinzelt half es – Lahme konnten wieder gehen etc.

Joris-Karl Huysmans, der Mann aus der Weltstadt Paris, ließ sich von Freunden überreden auch nach Lourdes in die Pyrenäen zu kommen. Doch er wollte vorrangig ein Buch schreiben. So wie einst sein literarisches Vorbild Zola. Doch Spöttereien sind nicht Huysmans Geschäft. Er nähert sich dem Ort, der Grotte, dem Mythos mit Bedacht. Es könnte ja doch was dran sein. Die Frömmigkeit Einzelner jedoch lässt ihn zweifeln. Mit Sprachgewalt  – er spricht vom „Heizraum der Frömmigkeit“ – begegnet er dem treiben vor Ort. Hinweggefegt sind die eventuell zuvor geschmiedeten Pläne sich selbst der Heilung des eigenen Leidens hingeben zu wollen.

Nach Lourdes kommt man seit über anderthalb Jahrhunderten, um entweder Geld zu verdienen oder es auszugeben. Nur wenige kommen aus tiefstem Herzen, um ernsthaft eine Heilung zu erwarten. Auch wenn die Außendarstellung oft anders aussieht. Huysmans lässt sich von der permanenten Präsenz des Wunders anstecken. Fast tappt er in die Fallen der Bauernfänger, lässt jedoch rechtzeitig los, um sachlich und nüchtern dem Ort den Raum zu geben, den er verdient: Ein Ort der Hoffnung. Zweifel ringen ständig mit dem Anschein.

Als außenstehender Leser kommt man je nach Gesinnung und Vorbildung zu keinem endgültigen Schluss. Es gab Heilung hier. Durch das Wasser in der Grotte? Der Beweis fehlt letztendlich, um ernsthaft daran zu glauben. Wenn dem so wäre, dann gäbe es 2020 nur ein Reiseziel: Das Pyrenäendorf Lourdes mit dem Wunderwasser, das Viren verzehrt wie ein Durstiger in der Wüste.

Huysmans Reisebericht ist ein Füllhorn an Anekdoten. Präzise fängt er eine Stimmung ein, die sich seit seinem Besuch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum verändert hat. Nicht nur deshalb immer noch mehr als lesenswert.

Die Kunst, seine Schulden zu zahlen

Das ist die Ungerechtigkeit der Welt: Die Einen haben Geld, die Anderen haben keines. Und dann gibt es noch die, die kein Geld haben und trotzdem leben wie die, die Geld haben. Sie wurschteln sich durch, betrügen, lächeln und leben in den Tag hinein, auf das das Morgen nicht so grau werde wie die Wolken, die sich über ihrem Himmel zusammenraufen.

Der Herr Onkel des Verfasser, also Honoré de Balzac, einem Lebemann, dem man schon zu Lebzeiten seinen ungesunden Lebensstil ansah – er trank nicht den Kaffee, der schüttet ihn in sich hinein wie eine Baugrube, die fortwährend mit Beton gefüllt wird, ist so ein Typ, dem man gern etwas gibt. Auch wenn das bedeutet, dass man nie mehr etwas davon sehen wird. Der aber dennoch seine Schulden zurückbezahlt. Klingt widersprüchlich? Ist es auch. Aber dieser verworrene Weg, der so lebensnah und fast schon komödiantisch beschrieben wird, lässt keinen anderen Schluss zu: Wer das System und seine Schwachstellen kennt, darf sie auch benutzen. Als Außenstehender – als Leser mit dem Abstand von fast zwei Jahrhunderten – darf, ja muss man, immer wieder schmunzeln.

„Die Kunst, seine Schulden zu zahlen“ hat schon einige Jahre auf dem Buckel, ist aber aktuell wie eh und je. Grundsätzlich gilt: Geduld, Chuzpe mit einem Spritzer Psychologie und Charme helfen doch sehr bei der Zahlung der Schulden. Beziehungsweise bei deren Vermeidung. Also nicht der Vermeidung der Schulden, sondern der Zahlung selbiger.

Balzac lässt die Puppen tanzen! Sechsundzwanzig Arten von Schulden zählt er (auf). Und acht Arten diese zu tilgen. Diese Differenz lässt das ganze System vom Geben und Nehmen in einem andern Licht erscheinen. Wer Schulden hat, hat meist mehr davon als Auswege daraus. Kleine Zahlenspielerei. Den Stress hätte demnach derjenige, der einem Anderen etwas schuldet. Hätte. Wenn der Schuldner nun aber diesen Ratgeber gelesen hat, sich mit dem Inhalt identifizieren kann, hält sich der Stress jedoch in Grenzen. Das ist wie mit so manchen Kollegen, die immer nur so viel tun, dass man ihnen nicht an den Karren fahren kann. Diejenigen, die mehr tun, weil sie die Notwendigkeit einsehen, kommen innerlich eher ins Schwitzen, da sie für das gleiche Geld mehr tun (müssen).

Dieses kleine Büchlein ist nicht das Buch zur Krise in Zeiten von Corona. Keine Anleitung sich etwas zu erschwindeln, das einem nicht gehört. Und damit auch noch durchzukommen! Nein, es ist ein durchaus amüsantes Stück Geschichte, das verdeutlicht, dass all das, was heute um uns herum geschieht, nicht neu ist. Wer hat, der hat und bekommt immer mehr. Wenn er sich geschickt anstellt. Kreditwürdigkeit ist nicht immer eine Frage des Habens, sondern des Scheins. Honoré de Balzac ist ein Klassiker, den man im Bücherregal stehen haben muss. Und warum nicht mit diesem Büchlein diese Sammlung beginnen? Stets aktuell, beißend, hingebungsvoll, offen – mehr kann man von einem Autor und seinem Werk nicht verlangen. Den Brückenschlag von altem Wissen und Gegenwart gelingt in dieser qualitativ hochwertigen Ausgabe dem Illustrator Volker Pfüller durch seine Abbildungen aufs Vortrefflichste. Das Gesicht der Schuld erkennt jeder, egal in welcher Epoche er sich gerade befindet. Kleine Hinweise in den Zeichnungen verraten jedoch, dass diese nicht aus der Entstehungszeit des Buches stammen können. Wer besaß 1821 schon einen Businessanzug, mit Cross body bag und Smartphone?

Perla

Perla – kein Kosename für die Angebetete. Sondern ein Name für eine Frau, deren Schicksal gar nicht glänzend war. Sie ist die Mutter des Autors Frédéric Brun. Erst nach dem Tod der Mutter traut sich Brun sich ihr und ihrem Schicksal zu nähern. Perla war in Auschwitz! Und sie überlebte! Was sie nie vollends überwinden konnte!

Für Frédéric Brun ist es immer noch schwer zu verstehen, dass in einem Land, aus dem so viele von ihm verehrte Dichter kamen so viele Henker hervorbringen kann. Er schafft Parallelen und bringt sie im gleichen Moment zum Einsturz. Er lässt Caspar David Friedrich auferstehen und schüttelt den Kopf, wenn er schreibt, dass Hölderlin von Auschwitz-Insassen wie Erbauern gleichermaßen geliebt wurde.

Ein besonders nachhallender Vergleich ist der von Josef Mengele, dem KZ-Arzt in Auschwitz, der im Exil im Meer ertrank und seinem noch ungeborenen Sohn Julien, den er in einem wohligen Meer im Bauch der Mutter heranwachsen lässt. Ein Vergleich, der nur Phantasievollen naheliegt, und den Leser ins Herz trifft. Und den Leser im Mark erschüttert. Perversion und Unschuld in einem Kapitel – das prägt das Bild dieses Buches. Denn dieser Josef Mengele war es, der mit einer Handbewegung Perla das Leben rettete. Eine perfide Vorstellung, denn ein Leben in Auschwitz war nicht mit menschlichen Maßstäben messbar.

Frédéric Brun kleidet Gedankenblitze und Erinnerungen an seiner Mutter unaufgeregt mit wohl platzierten Worten aus. Die Wucht der Bedeutung der Worte fegt jeden um, die Poesie der Sprache hebt jeden sanft an. Nun kann man sich wie in einem spannenden Krimi durch dieses Buch lesen. Man kann aber auch Zeile für Zeile aufsaugen. Letzteres ist auf alle Fälle empfehlenswert. Es lohnt sich dem Wohlklang der Worte hinzugeben. Ein weiteres Leben wird diesen Worten durch Christine Cavalli, die Übersetzerin, eingehaucht. Mit Sicherheit keine leichte Aufgabe, da jedes Wort sehr persönlich ist und von Erinnerungen geformt wurde. „Perla“ ist eine echte Perle. Und der Auftakt einer Trilogie.

La Garçonne

Na, das ist ja ein hübsches Früchtchen, diese Monique Lerbier. Möchte man meinen, wenn man die ersten Seiten dieses Romans liest. Die Eltern haben es zu eine gewissen Reichtum gebracht. Was Mama erlaubt den Tag mit Flanieren, den Abend mit Tanzen zu verbringen. Und Papa ist nur am Wochenende daheim, und selbst dann geht es immer nur ums Geschäft. So wird Monique von wechselnden Mademoiselles erzogen. Mal mehr, mal weniger beliebt. Und von Tante Sylvia. Die ist keine Schönheit, aber eine Kühnheit.

Die Jahre vergehen, Papa hat eine Erfindung gemacht, die sehr einträglich ist, der Schützengrabenkrieg dauert an, und bald schon wird Monique zu einer jungen Frau heranreifen, die sich an der Seite ihres liebenden Gatten wiederfindet. So hat es das Standesleben für sie vorgesehen. Und vor allem Papa. Das erfährt Monique aus einem Brief. Anonym, selbstverständlich. Darin wird behauptet, dass Lucien, so der Name des Auserwählten, durchaus anderweitig Zerstreuung sucht (und findet) und ebenso mehr als nur Monique als Grund anführen könnte, sie zu heiraten. Denn die Hälfte der Firma Papas winkt in der Ferne. Die Mitgift würde ein zu großes Loch in den Sparstrumpf Papas reißen. So waren die Zeiten vor reichlich hundert Jahren.

Doch Monique war schon immer etwas anders. Ein bisschen aufmüpfiger ohne dabei gleich eine Revolution vom Zaun zu brechen. Dennoch mit eigenem Kopf. Und für solch einen Viehhandel ist sie sich zu schade. Sie ist keine petit pauvre, kein armes Kind und schon gar nicht eine arme Kleine. Sie ist rigoros, entschlossen, durchsetzungsfähig. Lucien ist Vergangenheit. Vor liegt das Leben, das pralle Leben! Mit all seinen Facetten. Das Theater, der Rausch, die Bohème. Eine echte Garçonne eben. Unabhängig, unangepasst, nicht Willens den Konventionen auch nur eine Handbreit Platz zu geben.

Victor Margueritte schuf mit „La Garçonne“ einen echten Skandalroman. Wie kann sich eine junge Frau erdreisten sich gegen ihre Eltern, ihren Stand, gegen die Gesellschaft zu erheben? Und dann auch noch ins Bohème-Leben des brodelnden Paris eintauchen. Bis heute liest sich „La Garçonne“ wie ein Abenteuerroman. Die Konventionen mögen sich verschoben – gelockert – haben. Doch die Empörung wird immer noch vorhanden sein. In einer Zeit, in der sich scheinbar auf „alte Werte“ zurückbesonnen wird, sind Frauen wie Monique Lebier ein gefundenes Fressen für die neuen Moralwächter der Gegenwart. Auch und gerade aus diesem Grund ist Victor Marguerittes Buch ein Volltreffer, auch fast einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung.

Hintergrund für Liebe

Ein Mann – nicht irgendein Mann – eine Frau – nicht irgendeine Frau – eine Reise – nicht irgendeine Reise. Eine Reise, zu einer Zeit, in der nicht viele sich die Mühe machen konnten und gut vorbereitet in die Sommerfrische zu fliehen. Viele flohen vor dem braunen Terror!

Der Mann ist Kurt Wolff, die Frau Helen – noch nicht Wolff – zumindest sind Er und Sie dem späteren Verlegerpaar mehr als nur ähnlich. Das Ziel der Reise ist Südfrankreich. Er ist der erfahrene Lebemann, wissend, charmant, abenteuerlustig. Sie hängt an seinen Lippen, ohne dabei sich selbst zu verlieren. Das muss bald auch er feststellen.

Denn sie ist bald verschwunden. Das Weltmännische an ihm wird allzu schnell in Langeweile gehüllt. Der Mann, der sie aus Deutschland entführte, ist nicht mehr der Mann, der im Süden das kleine unschuldige Ding verzaubern kann. Sie ist selbständig genug, um das Leben in der Fremde genießen und es sich leisten zu können. Sie braucht keinen Luxus, um Freude zu empfinden. Ein kleines Haus genügt ihr. Langusten sind schmackhaft, doch die einfache Küche liegt ihr mehr. Genauso die einfachen Menschen, die das Leben um seiner selbst mögen.

Die getrennten Wege, die Sie und Er im Urlaub gehen, tun beiden gut. Und wie es der Zufall will, finden beide das auch bald schneller heraus als sie jemals zu träumen wagten. Unter der Sonne Südfrankreichs gibt ihnen das Schicksal eine zweite Chance. Doch nun treffen sich nicht mehr die Kleine, die nur allzu gern große Augen macht und der Große, der sich nicht gern kleinmachen wollte. Es treffen sich Mann und Frau, die sich erstaunlich schnell aufeinander treffen, um miteinander die Welt aushebeln werden…

Manchmal muss man getrennte Wege gehen, um sich zu finden. Im Leben wie im Roman. Kurt Wolff musste Deutschland verlassen, um den Schergen der Nazis zu entgehen. An seiner Seite Helen Wolff. Auch sie hat geschrieben, allerdings – als Frau eines Verlegers, selbst Verlegerin – ohne jemals etwas zu veröffentlichen. Günter Grass, Uwe Johnson und Max Frisch konnten durch ihre Arbeit dem amerikanischen Publikum zugängig gemacht werden.

„Hintergrund für Liebe“ wurde zu Beginn der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschrieben. Doch erst jetzt – durch das fortwährende Engagement des Verlegers Stefan Weidle – wurde dieser nachhaltige Roman einem Publikum präsentiert, das den Namen Kurt Wolff vielleicht kennt, aber den seiner Frau bisher nur beiläufig wahrnahm. Helen Wolff trat nach dem Tod ihres Mannes dessen Erbe an. Die Reiseerinnerungen sind so anschaulich, dass jeder Eindruck der Autorin bis heute nachvollziehbar ist. Ihrer Beziehung zu Kurt Wolff, die im Roman noch zarte Knospen trägt, beim Wachsen zusehen zu dürfen, ist ein Riesenglück für alle Leser, denen die Geschichten hinter der Geschichte am Herzen liegen.

Laaanges Wochenende

Die Zeit zwischen zwei Urlauben ist die härteste für alle, die nicht zwischen den eigenen vier Wänden festwachsen wollen. Ein Kurztrip übers Wochenende – oder noch besser das Wochenende ein wenig verlängern – ist der immer mehr in den Fokus der Tourismusmanager rückende Kurzurlaub. Mal ein, zwei, drei Tage raus aus dem Trott und schauen, wo auf der Welt es was zu entdecken gibt. Ob nun einfach mal die Seele baumeln lassen oder auf eine knackige Entdeckertour gehen – in der Kürze liegt die Würze. Nur ein paar Stunden entfernt von Zuhause sieht die Welt oft schon ganz anders aus. Die Auswahl ist riesengroß. Vom irischen Galway bis in die alte polnische Königsstadt Krakow, vom idyllischen Oslo bis ins quirlige Palma de Mallorca, auch mal ohne Komasaufen: Dieser Band wird ein redseliger Ratgeber sein für alle, die dem Grau des Alltags das Bunte der Welt entgegensetzen wollen.

Hält man das Buch erstmalig in den Händen, ist man auf Anhieb fasziniert von der Auswahl der vorgestellten Destinationen. Von Strasbourg über Portofino, von Porto bis Brno sind die Ziele wohlbekannt, doch oft dem Schnellzugriff bei der Urlaubsortfindung entzogen. Weniger bekannte Orte wie Pointe du Raz, der westlichste Punkt Frankreichs, ist von nun an ein Sehnsuchtsort, den man gesehen haben muss. Wenn man vorsichtig an den Klippen wandert und den Blick nach unten schweifen lässt, wird man Zeuge der Urgewalt des Meeres. Wer nur ein wenig nordöstlich reist, landet unweigerlich auf einer der Kanalinseln wie Jersey, die seit ein paar Jahren wieder verstärkt um die Gunst der Besucher buhlt.

In Luzern über die Kapellbrücke schlendern, in Dubrovnik auf der Stadtmauer auf Meer und Altstadt schauen oder originelles Windowshopping im Stockholmer Stadtteil Södermalm – hier wird jeder fündig. Bei jedem Umblättern steigt der Puls und die Zeit bis zu den nächsten freien Tagen wird unerträglich lang. Jetzt hat man aber zumindest ein Ziel vor Augen, beziehungsweise sind es gleich zweiundvierzig in fünfzehn europäischen Ländern.

Am anderen Ende der Stadt

Pures Lebensgefühl, keine Einschränkungen am Horizont – so wuchs Pascal auf. So beschrieb Gérard Scappini es in den Kindheitserinnerungen „Ungeteerte Straßen“ – so eindrucksvoll, so kindlich naiv, so lyrisch. Das Leben geht weiter. Die ungeteerten Straßen sind passé. Das Wohnsilo am anderen Ende der Stadt ist klinisch rein. Und hier ist das neue Zuhause. Und es ist durchorganisiert. Findet sein Vater. Er und seine Mutter, und auch seine Schwester, sehen nur die grauen Betonblöcke einer anonymen Trabantenstadt. Fernab von den Freunden, die immer noch auf ungeteerten Straßen ihren Weg suchen.

Der Nachfolgeband, der die Jugend im Beton-Quartier beschreibt, muss sich Pascal anstrengen, um Schönes zu finden. Seine Mutter lenkt sich ab, indem sie einkauft, damit es im Betonklotz halbwegs gemütlich wirken kann – mit ordentlich Wut im Bauch, denn auch sie vermisst die Unregelmäßigkeiten des Lebens im alten Zuhause. Pascal durchlebt binnen kürzester Zeit eine Achterbahn der Gefühle. Der Englischlehrer ist ein Sadist. Die Züge auf dem Bahnhof sind viel interessanter. Missbrauch und erste Liebe liegen bei Pascal so eng beieinander, dass er kaum noch unterscheiden kann. Er weiß nur eines: Den Mund halten hilft. Trauer und jugendlicher Übermut wechseln sich derart schnell ab, dass man – ob man nun will oder nicht – das Buch doch das eine oder andere Mal beiseitelegen muss. Die von Vater verordnete Frischzellenkur bringt der Familie erstmal nur Sorgen. Sorgen, wie sie nur ein Teenager haben kann. Sorgen, die der Familie nicht gut tun.

Hat man sich an dieses atemlose Schreiben gewöhnt, kann man den Zeilen wieder genussvoll folgen. Vor Jahren spielte Pascal noch auf unebenen Straßen, jetzt ist das Leben selbst uneben wie ein pickeliges Teenagergesicht. Der glatte Asphalt hat so gar nichts, was nach Leben aussieht! Die Schule lässt Pascal bald hinter sich. Unfreiwillig. Die Arbeit im Arsenal – naja. Bringt Geld. Dass jedoch bringt Pascal auch schnell durch.

Eine Jugend in Frankreich lautet der Untertitel des Buches. Die Fröhlichkeit der Kindheit ist der Schroffheit der Jugend gewichen. Altes ist vergessen, das Neue zeigt noch nicht sein wahres Gesicht. Und so schließt „Am anderen Ende der Stadt“ mit dem schlussfolglichen Cliffhanger: Einberufung zur Armee!

Französische Weihnachten

Endlich Weihnachten, endlich wieder die Familie um sich versammelt (und auch die, die man liebt, wenn man ein wenig Zynismus diesem Weihnachtsgericht beimengen möchte…). Dass dabei nicht immer alles glatt geht, versteht sich von selbst. Denn zu viel Weihnachtsenthusiasmus schadet der geruhsamen Atmosphäre.

Philippe Djian kann davon ein Lied singen bzw. eine wunderbar schräge wie herzliche Weihnachtsepisode zum Besten geben. Kurz vor Weihnachten musste der Erzähler seine Frau Marlène ins Krankenhaus bringen. Beim Baumschmücken fiel sie von der Leiter und brach sich den Arm. Schon die Beschreibung wie der aus dem Pullover herausragt (ähnlich dem Ausguck eines U-Bootes) lässt einen schmunzeln. Doch Marlène muss schon wieder ins Krankenhaus. Erst vor wenigen Tagen erlitt sie eine Fehlgeburt. Das ist nun wirklich nicht witzig! Philippe Djian schafft es aber trotz der Schwere des Stoffes ein wenig Heiterkeit in seinen Zeilen unterzubringen. Dass Weihnachten doch noch ein angenehmes Fest wird, erfreut den Leser, aber vor allem den Erzähler. Im fortgeschrittenen Alter darf er noch einmal unter die Decke mit einer weitaus Jüngeren huschen. Doch – oh weh – auch hier lauert schon wieder der Schabernack aus der Feder von Philippe Djian.

Ob romantische Weihnachten in der Provence mit Marcel Pagnol oder eine überraschende Weihnacht mit tatsächlich einmal Geschenken von Colette oder eiskalte Eindrücke aus der Bretagne von Sylvain Tesson – alle in diesem zauberhaften Büchlein versammelten Weihnachtsstücke stimmen auf das fest ein, dass in Frankreich wie keine anderes als Fest der Familie gefeiert wird. Da darf – zum Abschluss des Buches – natürlich auch kein kulinarischer Ausflug an die Kochtöpfe fehlen.

Anekdoten, bissige Satire, frohlockende Aussichten – Weihnachten ist so individuell wie gemeinschaftlich. Mit einem lachenden Auge blättert man durch das Buch und findet bei jedem neuerlichen Lesen Neues und Erheiterndes in den Zeilen von Michel Houellebecq, Arthur Brügger oder Michel Tournier. Als Einstimmung auf die Festtage, als Ruhepol währenddessen oder als Hoffnungsträger danach ist dieses kleine rote Büchlein nicht nur Lektüre für Minuten oder Stunden, sondern fast schon eine Art Ratgeber oder Licht in dunklen Zeiten.

Ein Leben für die Liebe

Sie wurde von Männern umschwirrt, nicht von Motten, die ums Licht kreisen: Louise de Vilmorin. Und es waren echte Männer, keine Motten: André Malraux, Orson Welles, Antoine Saint Exupery, Jean Cocteau, Graf Esterhazy. Ihr „Madame De“, das Buch ihres Lebens, wurde von Max Ophüls mit Vittorio de Sica und Danielle Darrieux verfilmt, und für den Oscar nominiert. Und trotzdem ist der Name de Vilmorin heute nur noch einigen Wenigen ein Begriff.

1902 mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen, kannte ihr Leben zunächst nur eine Richtung, bergab. Eine unbesorgte Kindheit vor den Toren der Weltmetropole Paris wurde gegen ein verhältnismäßig „normales“ Leben an der Seine eingetauscht. Schon früh machte man ihr den Hof. Einer der ersten, ganz sicher jedoch der zu dieser Zeit berühmteste war der Pilot Antoine Saint Exupery. Viel später erst würde er mit dem Kleinen Prinzen einen nachhaltigen Erfolg schreiben. Die Figur der Laternenanzünderin, der allumeuse. Ein Feuer entfachen, das konnte sie. Es am Lodern halten, da haperte es fast ihr gesamtes Leben lang. Sie wurde geliebt. Ob sie lieben konnte – zumindest dauerhaft – kann man in Frage stellen.

Ihre Eleganz und Eloquenz, aber vor allem ihr Wille nachhaltig zu wirken, bescherten ihr zeitlebens Erfolg. Als Schriftstellerin mit Orthographie-Schwäche – Cocteau und Malraux korrigierten unermüdlich ihre Texte – konnte Sie Erfolge feiern. Ob unverstanden oder unvollkommen – Louise de Vilmorin sagte jedem Künstler von den 30er Jahren bis zu Ihrem Tod 1969 etwas. Für viele war sie Wegbereiter, ihre Salonabende waren vielleicht nicht so legendär wie die von Berta Zuckerkandl im Wiener Cafè Landtmann, aber an Avantgardistenpotential nicht zu überbieten.

Es fällt schwer sich eine exakte Meinung über Louise zu bilden. Zu umfangreich war ihr Leben, und ist immer noch in gewissen Kreisen in aller Munde. Ursula Voß holt die für die meisten verschollen Louise de Vilmorin wieder ans Tageslicht. Wie in einem Zug reist man durch ein ereignisreiches Leben, dass von der Liebe geprägt war. Zwischenhalte bei Autoren, Abenteurern und Schauspielern inklusive.

Brunos Gartenkochbuch

Das Buch wirbelt ganz schön Staub auf, wenn man es in die frisch gepflügte Erde fallen lässt. Das liegt zum Einen an der Größe, mehr als doppelt so groß wie der „normale“ Bruno-chef-de-police-Krimi, zum Anderen liegt es vor allem am Inhalt.

Klar, Bruno ist ein Ermittler wie man ihn sich wünscht, wenn man nicht gerade ein Krimineller ist. Denn hat man ganz schlechte Karten! Brunos Netzwerk ist Saint-Denis. Hier lebt er, hier kennt ihn jeder, hier schätzt man seine ruhige besonnene Art die Dinge anzugehen. Und man schätzt seine Erfolge. Was man aber am allermeisten an ihm mag, sind seine Kochkünste. Kein Falle ohne Küchenzwischenspiel, bei dem auch Balzac, sein Basset niemals zu kurz kommt.

Die Krimireihe wu4rde in der Vergangenheit durch Kalender und ein Kochbuch ergänzt. Nun begibt sich Martin Walker, der geistige Vater von Bruno, in seinen eigenen Garten. Was da aus der Erde lugt, landet früher oder später in Töpfen und Pfannen und auf den Tellern. Zusammen mit seiner Frau Julia Watson hat er es sich im Périgord gemütlich gemacht. Hier in der Wiege der französischen Küche, anders kann man dieses Idyll nicht bezeichnen, findet er die Inspiration für Brunos Fälle, die immer (!) mit einem lukullischen Menü verfeinert werden.

Kleine Kostprobe gefällig? Salat aus Frühlingsgemüse mit weichem Ziegenkäse. Pamelas gekühlte Tomatensuppe mit Kräutermousse, ideal für den sonnendurchfluteten Sommer im Périgord. Kleine Walnuss-Birnen-Blauschimmel-Käse-Törtchen, schon beim zweiten Bindestrich läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Und im Winter? Enten-Schwein-Pflaumen-Walnuss-Terrine. Ohne Worte. Buch, Augen und Mund auf – fertig ist das Paradies!

Martin Walkers Gartenkochbuch ist ein Ratgeber durch Gartenjahr, von denen es in den Bücherregalen wimmelt. Was diese Ausgabe so besonders macht, ist die Hingabe des Autors und seiner Frau zu jeder einzelnen Zutat. Das spürt man beim Betrachten der ganzseitigen Bilder, bei den Rezepten mit den sorgfältig ausgewählten Ingredienzien, bei jeder Zeile, die die Zubereitung beschreibt. Hin und wieder ist der Einkauf der Zutaten mit ein bisschen Recherche verbunden, da sie nicht sofort greifbar sind. Aber wie bei einem guten Krimi, ist jeder Schritt in die richtige Richtung ein Fortschritt, der zu einem Ergebnis führt, das alle am Tisch in ein wohliges Schmatzen einstimmen lässt.

Wer Bruno mag, wird sich in dieses Gartenkochbuch verlieben. Als Zuckerli für die gespannte Krimileserseele gibt es zwei neue Geschichten um Bruno, das Essen, und das Périgord.