Die Gestalt der Ruinen

Verbrannte Erde hinterlassen oder dass nur Sieger die Geschichte schreiben, kann einen schon manchmal in den Wahnsinn treiben. Die Wahrheit über ein Ereignis zu erfahren ist immer mit einem gewissen Beigeschmack gefüllt.

Carlos Carballo will einen Anzug aus einem Museum in Kolumbien stehlen. Für viele Redaktionen nicht mal eine Meldung auf der letzten Seite wert. Doch wenn es sich um ein historisches Zeitdokument handelt, werden viele hellhörig. Am 9. April 1948 wurde der liberale Politiker Jorge Eliécer Gaitán ermordet. Er galt vielen als Hoffnungsträger. Sein rhetorisches Geschick war legendär. Der Mörder, Juan Roa Sierra, wurde mehr oder weniger an Ort und Stelle gelyncht. Das ist schon eine Meldung wert. Doch warum wollte Carlos Caballo den Anzug stehlen, den Jorge Eliécer Gaitán am Tage seiner Ermordung trug? Fetisch? Oder wollte er damit etwas beweisen? Gut, dass er bewusst einen weiteren Interessenten mit ins Boot holt: Juan Gabriel Vásquez. Den Autor dieses Buches.

Da wird also der Autor eines Buches in sein eigenes Werk hineingezogen ohne dabei groß die Biographie-Keule zu schwingen. Natürlich hat der Roman weitreichende autobiographische Züge, ist aber im Großen und Ganzen fiktional.

Kolumbien ist das Heimatland des Autors. Erst als er ins Ausland geht, erkennt er tiefer gehende Zusammenhänge. Als Kolumbianer in Bogotá weiß er um die besonderen Verhältnisse in seinem Land, die aus der Ferne jedoch viel stärker hervortreten. Das Land ist nicht erst seit dem hinterhältigen Mord an dem liberalen Politiker Jorge Eliécer Gaitán im Umbruch, in einer verzwickten Lage, sondern eigentlich schon länger. Verschwörungstheoretiker stoßen in dem südamerikanischen Land auf fruchtbaren Boden.

Als in Europa der Große Krieg wütete bzw. seine Schatten auch über die Grenzen des Kontinentes  warf, fiel Rafael Uribe Uribe einem Attentat zum Opfer. Einfacher Mord zweier Fehlgeleiteter oder von langer Hand geplantes Attentat? Franz Ferdinand und der Beginn des Ersten Weltkrieges – hier sind sich aber nun mal alle Historiker einig – das war von langer Hand geplant. Doch welche langfristigen Ziele damit einhergingen, kann bis heute nicht vollständig geklärt werden. Der Anschlag auf Kennedy – hier sind wilden Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Und zwischendrin die nachträglichen – fiktionalen – Ermittlungen zum Tode von Jorge Eliécer Gaitán.

Juan Gabriel Vásquez begegnet den Verschwörungstheorien mit der einzigen Art und Weise, die es gibt: Mit der Macht der Phantasie und der Literatur. Er befeuert keineswegs  neue Theorien oder behauptet neue – wahrhafte – Erkenntnis zu besitzen. Er lässt Zeugen zu Wort kommen und erlaubt ihnen ihren Gedanken nachzuhängen und sie laut zu äußern. Dem Leser wird schon bald klar, dass Juan Gabriel Vásquez nicht allein mit seinem Dilemma steht. Man selbst ist in einer Geschichte gefangen, die man nur schwer einordnen kann. Mit jeder Zeile dringt man weiter in ein Dickicht vor, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Doch Vásquez kennt einen Ausweg…