Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers

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Ben Jackson ist ein exzellenter Kenner der amerikanischen Literatur der 40er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts). Einige Schriftsteller konnte er stolz zu seinen Freunden zählen. Wie zum Beispiel Carson McCullers. Und nun erzählt er wie Carson McCullers wurde, was sie war: Ein Wunderkind!

Der Anlass, der in bewegt seine Gedanken niederzuschreiben, ist traurig. Denn Carson McCullers hat nur wenige Tage zu vor ihre Augen für immer geschlossen. Und Ben Jackson soll nun ein paar Worte auf der Beerdigung sagen. Es fällt ihm schwer. Und so zieht er sich immer mehr in die Vergangenheit der viel zu früh verstorbenen Carson McCullers zurück:
Dass sie einmal ein Wunderkind zur Welt bringen würde, war Marguerite Waters Smith schon immer klar. Deshalb sollte der Stammhalter auch den Namen Caruso bekommen. Caruso Smith – der Hang zur absolut unpassenden (weil unmelodischen, und frei von jedwedem sozialen Zusammenhang) Namenswahl ist also keine Erfindung der Neuzeit. Doch dann kam es anders – aus Caruso wurde Lula Carson, später einfach nur Carson. Als Carson noch Lula Carson war, setzte sie sich ans Klavier der Eltern. Freunde hatte die Kleine keine, zu schäbig, nicht gut für sie, unpassend für ein Wunderkind. Kinderliebe kann schon seltsame Blüten treiben… Und sie klimperte nicht einfach nur so herum, sie spielte Melodien, Lieder. Ein echtes Wunderkind eben! Ihre Mutter sollte recht behalten.

Doch auch Wunderkinder haben ihren eigenen Kopf. Schriftstellerin will sie werden. Auch als an der renommierten Juilliard School of Music in New York angenommen wird, verflüchtigt sich dieser Wunsch nicht. Sie schreibt schon als Teenager Geschichten. Und als sie das Schulgeld verliert, sich aber nicht getraut es zuzugeben, muss sie sich – allein in New York – irgendwie über Wasser halten. Sie schreibt, bekommt sogar Geld dafür und landet mit „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ihren ersten Erfolg.

Aus Lula Carson Smith, der Wunderkind von Gottes Gnaden, wird Carson McCullers, die bedeutendste Autorin Amerikas, wenn es nach Tennessee Williams geht. Doch um ihre Gesundheit ist es nicht gerade gut bestellt. Die Rückschläge gesundheitlicher Art werden immer häufiger. Die Erfolge auf schriftstellerischer Ebene lassen nicht lange auf sich warten. „Spiegelbild im goldnen Auge“, „Die Ballade vom traurigen Café“ knüpfen nahtlos an „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ an.

Und Reeves, ihr Mann, Namensgeber? Auch er wollte Schriftsteller werden. Mit ihrer ersten Gage kaufte er sich von der Army los. Sie war er ehrgeizig und erfolgreich, er nur ehrgeizig. Reeves und Carson waren füreinander gemacht, doch schafften es nicht im eigenen Glück zu baden…

Das ist alles nur … fiktiv. Kein Ben Jackson! Leider! Doch Barbara Landes nimmt man jedes Wort in ihrer Romanbiographie ab. Jedes Wort, jedes Komma, jedes Adjektiv sitzt und pulsiert. Als ob das einstige Wunderkind Carson McCullers selbst die Feder gehalten hätte. Wenn Romane wie diese Sinnbild für den Spätsommer sind, lassen sie den noch so heißesten Sommer wie eine laue Brise erscheinen.

Sich an eine Biographie zu wagen, die das Objekt der Begierde selbst schon verfasst hat, grenzt an eine Herkulesaufgabe. Von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn es sich um jemand wie Carson McCullers handelt. Die Leichtigkeit, mit der Barbara Landes der Schriftstellerin gegenübertritt (oder sollte man sagen „neben ihr herschreitet“?) überrascht. 2017 jährt sich Carson McCullers Geburtstag zum hundertsten Mal. Wer jetzt noch vorhat die Schriftstellerin mit einem Buch zu ehren, muss mehr als einen Kniff im petto haben. Ben Jackson, Barbara Landes und Carson McCullers, zwei real, einer erfunden, sind das trio infernale des literarischen Herbstes 2016.