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Albanien

Vier Jahre lagen zwischen der ersten und der zweiten Auflage dieses Reisebandes. Da hat sich einiges getan. Nicht nur im Land selbst, sondern und vor allem deswegen im Reiseband. Man stelle sich vor: Man ist mit einer Billig-Airline auf dem Rückflug von Süditalien nach Deutschland. Zwischenstopp in Tirana. Sieben Stunden. Was machen? Es gibt sicher einige, die erst mal im Oberstübchen kramen müssen, wo Tirana liegt (oder noch schlimmer: Was das überhaupt ist!). Tirana ist die Hauptstadt des kleinen Landes auf dem Balkan. Und beim Kramen im Oberstübchen fällt einem nicht viel ein, wie man denn nun die sieben Stunden Aufenthalt in diesem weitgehend unbekannten Land gestalten könnte. Die Seiten 25 bis 48 sind da ein guter Appetitanreger. Schnell stellt man fest, dass es hier vor Abenteuern nur so wimmelt. Da ist zum Ersten sicher die Küche. Nix mit Schnitzel und Kartoffeln. Hier wird’s feurig, würzig, deftig. Zum Angucken gibt’s natürlich auch jede Menge – aber das erliest man sich am besten selbst, ganz nach gusto. Und schon merkt man, dass sieben Stunden Aufenthalt gar nicht so viel sind wie man eigentlich braucht, um allein nur die Hauptstadt zu erkunden. Die Schlussfolge: Der nächste Trip geht – zusammen mit diesem Reiseband – nach Albanien. Inklusive Abstecher nach Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien. Alles in einem Buch, klar gegliedert, übersichtlich und jederzeit sofort abrufbar.

Wie wäre es zum Beispiel mit Berat. Nie gehört? Alles halb so wild, hier wird geholfen. Die Stadt der tausend Fenster. Museumsstadt und seit fast zwanzig Jahren UNESCO-Weltkulturerbe. Autor Ralph-Raymond Braun greift auf bewährte Mittel zur Erkundung zurück, Reiseberichte von Ersterkundschaftern und Autoren. Die haben immer noch einiges zu erzählen, was noch unverändert an Ort und Stelle steht. Albanien war durch das Regime von Enver Hoxha jahrzehntelang von jeglichem Fortschritt hermetisch abgeriegelt. So blieb einiges erhalten, was sonst vielleicht sozialistischem Baudrang zum Opfer gefallen wäre.

Albanien ist eines der wenigen europäischen  Länder, das noch viel Ursprüngliches zu bieten und zu erkunden hat. Da ist es mehr als hilfreich einen fundierten Ansprechpartner bzw. Reiseband zur Hand zu haben. Ob Auf und Ab auf Schusters Rappen oder der geeignete Strandabschnitt am Ohridsee an der Grenze zu Nordmazedonien, Tipps, wo man sich beruhigt niederlassen kann und wo man auf örtliche Gepflogenheiten zu achten hat. Reich an Schätzen ist Albanien ohne Zweifel. Man muss sie suchen. Man wird sie finden. Einfacher wird das mit diesem Buch!

Maikan

Einskommaneunmilliarden. So in einem Wort geschrieben ist es schon beeindruckend. 1 900 000 000 Kanadische Doller. So viel hat die Regierung des zweitgrößten Landes Autochthonen zugesprochen, die in der Vergangenheit in Internaten untergebracht wurden, wo ihnen ihr indigener Lebensstil vor allem wortwörtlich aus dem Leib geprügelt wurde. Völkermord nennt man das klangvoll und markant. Eine Entschuldigung (zusammen mit der Zusage auf Entschädigung) gab es erst vor ein paar Jahrzehnten. So weit so gut. Doch wie kommen die Berechtigten an ihr – nein, nicht an Gerechtigkeit! – zustehendes Recht? Oft sind ihre Namen aus den Archiven getilgt. Sie wissen nichts von Entschädigung, leben am Ende der Gesellschaft.

Die Anwältin Audrey Duval versucht die Maikan, die Wölfe, wie sie diskreditierend von Nonnen und Mönchen, die den Internaten vorstanden und ihrer Willkür freien Lauf ließen, genannt wurden, aufzuspüren.

Sie findet unter anderem Marie. Sie war eine von mehr als einhundertfünfzigtausend Kindern, die ihren Eltern, ihrer Heimat, ihrer Art zu leben entrissen wurden und in einem der weit über hundert Internate verschwanden. Ihre Sprachen duften sie nicht mehr sprechen. Bei Zuwiderhandlungen drohten Strafen, die nicht nur an Folter erinnern. Es war Folter! Marie ist Alkoholikerin. Das Leben hat sie ausgespuckt auf die Straßen der Provinz Quebec. Hier wird sie auch angespuckt. Der Teufel hat sich ihre Seele schon gesichert. Hoffnung fällt ihr nicht im Leben ein zu buchstabieren.

Michel Jeans Romane erzählen auf eindrucksvolle Art und Weise vom menschenverachtenden Umgang mit Autochtonen, von ihrer Kultur und ihrem harten Kampf ums Überleben. Wenn die Kultur verschwindet, verschwindet der Mensch. Wölfe können beißen. Doch die Maikans haben ihren Biss verloren. Alle Reißzähne wurden ihnen herausgerissen. Nur Audrey Duval kann ihnen teilweise einen Teil ihrer Würde, zumindest aber einen gehörigen teil ihres ihnen zustehenden rechts zurückgeben.

Immer wieder liest und hört man von Völkermord. Ein Wort, das schon so oft verwendet wird, dass man es kaum noch wahrnimmt. Egal, ob in aktuellen Kriegen oder in Reportagen über die Geschichte Europas, Asiens, Afrikas und Amerikas. Dass auch Kanada zu den Übeltätern gehört ist weitgehend unbekannt. Michel Jean ist in seinem Land ein Star. Auch und gerade wegen der Themen, die er in seinen Romanen anspricht. „Maikan“ gehört zu den wichtigsten Büchern, die man lesen muss, um menschliche Abgründe zu erkennen.

Gabriele

Hier Schloss Planegg, da die Gurktaler Alpen. Hier der Wörthersee, da die Gitschen, der Kronawetterschnaps. Gabriele wächst mit dem goldenen Löffel im Mund auf. Ihr Herr Papa ist der Baron. Die Welt ist noch in Ordnung, der Weltkrieg liegt noch in der Ferne. Doch die Wolken verdunkeln sich. Gabriele sieht, dass ihr Leben wie sie es kennt bald schon ein Ende haben könnte. Ihr Herr Papa sieht das nicht – k.u.k. ist sicher wie der Fels in der Brandung. Und die Frau Mama? Na die ist mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Familie.

Gabriele ist nun in dem Alter, in dem man sich schon mal einen Mann fürs Leben aussuchen könnte. Doch das ist gar nicht so einfach. Die Monarchie lebt es Tag für tag vor. Ein Attentat hier, ein Skandal da. Speichellecker wohin man sieht. Und als gebildete junge Frau hat sie auch Ansprüche.

In Wien, wo man als Familie von Welt ebenso wohnhaft ist wie in der beschaulichen Provinz im Westen des riesigen Kaiserreiches, ist es um ein Vielfaches leichter sich zu präsentieren und vielleicht den Gemahl fürs Leben zu finden. Muss nicht immer die große Liebe sein…

Der Herr Alfred bietet sich an. Eine Karriere kann er anbieten. Doch dem Herrn Papa – und da tritt er dann doch wieder in den Vordergrund – ist dieser Herr zu … tja, windhundig? Ernst kann er ihn nicht nehmen. Gabriele ist da noch hin- und hergerissen.

Das Trauerspiel an diesem so gefühlvollen, mit Anekdoten gespickten, vor Lokalkolorit nur so sprühenden Roman ist die Unvollkommenheit. Unvollkommen im Sinne von, dass der Autor nicht das Ende selbst schreiben konnte. Paul Wiegler war Lektor in Berlin, unternahm mehrere Reisen an die Adria, den Balkan und natürlich ins damals noch riesige Österreich. Seine Erlebnisse fasst er in kurzen Fragmenten zusammen, die am Ende des Buches stehen. Sie sind die Grundlage für diesen Roman, der keine Liebesgeschichte ist mehr eine Bestandaufnahme der Gesellschaft vor etwas über einhundert Jahren. Dieses Grundgerüst reicht jedoch vollkommen aus, um in eine Welt eintauchen zu können, die längst nicht mehr existiert. Die volksnahe Sprache, die hier eigenen Begriffe ziehenden Leser in einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Er weckt die Lust an der Wiederentdeckung der Reisen von Gabriele. Ragusa und Spalato oder doch Dubrovnik und Split? Schon nach wenigen Seiten wird klar: Beides. Und immer mit dabei: Dieses Buch!

Die Nixen von Estland

Ja, es gibt sie. In allen Erscheinungsformen. Sie haben unterschiedliche Fähigkeiten. Nixen. Besonders in Estland. Es muss sie einfach geben. Denn sonst wäre dieses außergewöhnliche Buch in dieser faszinierenden Aufmachung einfach nur ein Witz. Enn Vetemaa hat das erste Bestimmungsbuch für Nixen in Estland geschrieben. Und es wird auch das letzte Buch zu diesem Thema sein. Mehr geht nicht!

Die Najadologie ist ein eigenständiges Wissenschaftsfeld. Nixen gibt es wirklich. Selbst in Kanistern haben sie es sich gemütlich gemacht. In Sträuchern leben sie oft unerkannt. Frühsommer ist eine der Jahreszeiten, in denen man sie am häufigsten erspähen kann. Dafür braucht man nicht einmal eine spezielle – oder gar außergewöhnliche – Ausrüstung.

Und es gibt so wundervoll poetische Unterteilungen. Es gibt Schönhaarige, Waschversessene, Nackttitten (zweimal Doppel-T – wenn das nichts ist?!), Kopfkratzerinnen und Lauthalsige. Wer nun meint, dass er es hier mit einem durchaus fragwürdigen, eventuell frauenfeindlichen Buch zu tun hat, wird ob des wissenschaftlichen Duktus und der überaus expliziten und umfassenden Darstellungen der Objekte eines Besseren belehrt. Nudimamillaris gigantea klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich anmutend. Wer hingegen von Nackttittigen Wuchtbrummen liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in jeder Phantasie ein Fünkchen Wahrheit steckt. Stecken muss.

Es ist so: Ein bisschen Glaube schadet nicht. So wie bei schwarzen Katzen die den Weg kreuzen. Laufen sie nach links, ist alles in Ordnung. In der Gegenrichtung wird man schon gern einmal dazu verleitet am Abend den Tag Revue passieren zu lassen und zu überprüfen, ob selbiger wirklich gut verlaufen ist seitdem die Mieze von Links nach Rechts gelaufen ist. „Die Nixen von Estland“ als pure Folklore ohne echten Anspruch auf Richtigkeit abzutun, wäre fatal. Denn wer weiß, taucht beim nächsten Strandspaziergang eine Nixe auf. Und dann? Darf man das Wort Nixe benutzen? Oder verschwindet sie dann gleich wieder in den Fluten? Sind sie hilfereiche Begleiterinnen in schwierigen Lebenslagen? Muss man Argwohn hegen? Wie erkennt man sie? Dringt man unaufgefordert in ihren Lebensraum ein – was passiert?

Die Gestaltung dieser Ausgabe durch Kat Menschik wischt jeden noch so schwachen Zweifel von der Existenz der Nixen mit zielgerichteten Strichen vom Tisch! Mit mehr als einem Augenzwinkern gestaltet sie Räume ohne Wände. Dem Leser sind Text und Bild Wegweiser in eine faszinierende Welt voller Mythen, Hingabe und Frieden. Anders als so mancher Wühltischautor sich aus einem Mix aus Stammtischweisheiten und Vorabendserien seine eigenen Phantasien bierseelig zusammenreimt, ist „Die Nixen von Estland“ ein ernstzunehmendes, vor allem aber sinnlich anregendes Buch, das die Schönheit der Welt in den Vordergrund stellt. Eine Garantie Nixen auch wirklich zu treffen, kann auch dieses Buch nicht geben.

Detektiv Ameisis: Ein fast unlösbarer Fall

Ging man als Frau noch vor achtzig, neunzig Jahren in das Büro eines Breiwäteihs, irgendwo in Njuhjoork oder Ellehh konnte man davon ausgehen, dass man als Püppchen oder Missy bezeichnet wurde. Da konnte man noch so selbstbewusst sein. Irgend so ein Sam Spades oder Philipp Marlowe lauert garantiert hinter der Milchglasscheibe. Aber man konnte genauso davon ausgehen, dass das Anliegen prompt und zur Zufriedenheit aller gelöst wurde.

Heute geht man zu einem Ameisenbär. Klar, mit der Nase ist er ja prädestiniert selbige in die Angelegenheit hineinzustecken und dabei allerlei herauszu… finden, zu erschnüffeln … den Fall zu lösen. Unlösbare Fälle gibt es für Detektiv Afri Ameisis nicht.

Nita Nasoni betritt das Büro des abgehalfterten Schnüfflers. Sie stammt aus dem noblen ersten Ring. Die Stadt ist in Ringe unterteilt. Je geringer die Zahl, desto gehobener ist die Stellung der Familie. Afri Ameisis lebt im dritten Ring. Weiter draußen geht nicht. Kurzum: Für ihn kann es demzufolge nur nach Oben gehen. Jedenfalls vermisst Nita Nasoni ihre Tochter Naomi. Sie wurde entführt. Ein lohnendes Objekt, wenn man bedenkt, dass Nitas Gatte ein hohes Tier in der Finanzbehörde ist.

Afri Ameisis springt sofort an. Fast unlösbare Fälle regen seine Phantasie an, sie gehen ihm direkt unter das dichte Fell. Er kommt dunklen Machenschaften auf die Spur, landet sogar selbst hinter schwedischen Gardinen, er muss all seine Sinne zusammenhalten, um nicht in eine Falle zu tappen, aus der es kein Entrinnen gibt.

„Detektiv Ameisis: Ein fast unlösbarer Fall“ ist ein lupenreiner noir. Nichts ist wie es scheint, und trotzdem ist man immer auf der Höhe der Ermittlungen. Das beweisen unter anderem die Lesungen des Autors Matthias Kröner, der seine junge Leserschaft regelmäßig auf die Probe stellt. Wie aus der Pistole geschossen fliegen ihm dann die Antworten ihm die Ohren. Wer also meint, Krimis im Allgemeinen und schwarze Krimis im Speziellen seien nichts für junge Ohren, der irrt. Wenn Matthias Kröner zur Rätselstunde lädt, staunt man Bauklötzer (die bis in den 47. Stock reichen – dieser Vergleich ergibt sich gleich zu Beginn des Buches). Die oft zitierte Schere zwischen Arm und Reich und die damit verbundenen Vorurteile sowie die zweifelsohne bestehenden Diskrepanzen werden hier auf eine strenge und gleichzeitig für jedermann leicht verständliche Ebene gehoben.

Eine Frage bleibt jedoch unbeantwortet: Wann kommt der zweite Fall?

Millionärsurlaub auf einer kommunistischen Insel

Was sind wohl die prägendsten und ältesten Erinnerungen, die ein Mensch haben kann? Es sind wohl die an die Oma und den Urlaub. Und erst die Erinnerungen an den Urlaub bei oder mit der Oma. Nur noch zu toppen, wenn man im Urlaub mit Mama, Papa, Geschwistern, Großeltern bei den Urgroßeltern ist. Maura Lonzari hat das Nonplusultra an Erinnerungen in diesem kleinen, so fröhlichen Büchlein festgehalten.

Anfang der Fünfziger ging es für die Dreijährige zum ersten Mal nach Lussinpiccolo, Mali Losinj, einer jugoslawischen Insel in der Adria. Das Heim in Triest glich schon Wochen zuvor einem Arsenal an Dringlichkeiten und erfüllten Wunschzetteln. Die Wartezeit, ob das Visum genehmigt wird – der Eiserne Vorhang war hier vielleicht durchlässiger als anderswo, dennoch nicht minder starr und widerstandsfähig – wurde mit Vorfreude, Organisationsexpressionismus und logistischer Präzisionsarbeit ausgefüllt. Und dann endlich. Ankunft in Lussinpiccolo. Streng wurde darauf geachtet, dass Neugierige und Ankömmlinge sich nicht sofort vermischten. Die kleine Maura wollte auch nicht mehr warten und umgehend mit der ihr noch unbekannten Uroma Ballspielen. Was die Oma mit Engelsgeduld und der ihr eigenen Überzeugungskraft zu verhindern wusste.

Zuhause in Triest war die Familie eine von vielen. Hier waren sie die Attraktion. Voll gepackt mit tausend Sachen, die das Leben schöner machen, und der Neugier auf das Leben der Anderen, die so nahe wohnen, dass man ihnen vom Küchenfenster fast zuwinken könnte, gepaart mit der Anspannung, was der zeitlich begrenzte Systemwechsel (eigentlich nur ein Hereinschnuppern) so alles mit sich bringt.

Die Jahre vergehen. Die Urlaube in Lussinpiccolo sind Routine geworden. Maura Lonzari wächst zu einer jungen Frau heran, die ihre Freiheiten auslebt. Mit Folgen. Und dann auch noch im Ausland. In einem Ausland, das Familie bedeutet, aber auch Abgrenzung ob der sichtbaren, unverrückbaren Unterschiede. Die Sommer, in denen sie unbeschwert sie selbst sein kann, sind ein lieb gewonnenes Ritual. Geplante Familienzusammenführung aus Zeit mit der Leichtigkeit der Jugend.

Dieses kleine Büchlein ist die ideale Urlaubslektüre. Nicht nur für die Adria. Die Hingabe, mit der die Autorin ihre Erinnerungen sich selbst noch einmal vor Augen führt, berührt ab der ersten Seite. Schnörkellos und absolut ehrlich vollführt sie einen Freudentanz, dem man sich nur anschließen kann.

Mythen der Geografie

Grenzen verschieben – das klingt immer nach Aufbruch, nach Umbruch, nach Veränderung, meist zum Guten. Doch in der Regel sind es Plattitüden, die einen Schleier über die eigentlichen Ziele legen (sollen).

Paul Richardson hinterfragt geographische Linien und setzt neue Grenzpfähle ohne dabei geltendes Recht mit den Anspruch auf Veränderung in Frage zu stellen. Er wirft Fragen auf, bezieht Stellung zum status quo, rebelliert, wo es angebracht ist. In einer zeit, in der wild gewordene Wirrköpfe alles in Frage stellen, das bisher unantastbar war und Forderungen stellen, die so reaktionär wie menschenfeindlich sind, kommt dieses Buch mit all seinen Argumenten genau zu richtigen Zeit. Die im Untertitel genannten Irrtümer mögen sich als solche erweisen. Doch soll man deswegen sofort Anstand, Rechtmäßigkeit und Gewohnheit in Frage stellen?

Um es von vornherein klarzustellen: Es geht hier nicht um Schlagbäume und Grenzzäune, die die Sicht nach Drüben verstellen. Grenzen sind nicht immer klar gezogene Linien. Wer heutzutage einkaufen geht, kauft international. Kaum ein Produkt, das nur aus einem Land kommt. Zig Zutaten reisen rund um den Globus, um an einem Ort Hochzeit zu feiern. Und wie will man Tieren klarmachen, dass das Grün auf der anderen Seite nur mit Visum noch grüner und saftiger ist?! Von Menschenhand verursachte Begrenzungen haben immer Folgen. Durch Stausseen gelangen manche Fischarten nicht mehr zu ihren Laichplätzen, die sie Millionen Jahren aufsuchten. Das Ergebnis: Sie sterben aus.

Abgrenzung als Allheilmittel ist das Gebot der Stunde. In den Augen vieler, die die Fäden in der Hand halten. Vor nicht allzu langer Zeit, konnten Grenzen nicht schnell genug fallen. Zwischen zwei Kontinenten tauchen (auch wenn’s bitterkalt ist), die Füße fest auf dem Boden zweier Kontinente halten – das sind Touristengeschichten, die schöne Bilder ergeben und zu Geschichten anregen.

Doch Geographie ist mehr als bunte Farbkleckse auf Landkarten. Monster zierten sie einstmals – also, die Landkarten – heute taugen die Monster allenfalls als Karikaturen, um Gebietsansprüche ins Lächerliche zu ziehen und um Hintergründe darzustellen. Die Welt ist in ständiger Veränderung. Bewegung tut gut, schon immer. Aber die Richtung muss stimmen.

Paul Richardson reist mit dem Leser durch und um die Welt, die danach nicht mehr dieselbe sein wird, sein kann. Und wer das nächste Mal an einer Grenze steht – wie auch immer die aussehen mag – wird sich mit Begeisterung an die Lektüre dieses Buches erinnern.

Schlaftrunken

Die Konventionen ablegen, mehr als ein bisschen Auflehnung, sich was Eigenes aufbauen – mit Ende zwanzig sollte man sich selber ein Leben aufbauen können.

Und so tut es auch der Autor, von dem in „Schlaftrunken“ die Rede ist. Er könnte auch in Düsseldorf in Familienunternehmen Karriere machen. Doch Istanbul ist verlockender. Mehr Heimat als die heimische Rheinmetropole. Hier vibriert alles. Hier tobt das Leben. Hier bebt die Erde, im positiven Sinne. Und hier lockt der Erfolg. Ein Verlag hat sich die Dienste gesichert. Ein Reiseband – so wie er es immer wollte – wird bald schon mit seinem Namen geschmückt die Auslagen zieren. Das Buch muss nur noch geschrieben werden.

Hakan Bıçakcı lässt den Autor durch die Straßen und Gassen, über Plätze irren und … sich immer wieder verlaufen. Wo gestern noch eine Café war, dröhnen heute die Motoren der Baumaschinen. Wo gestern noch die Alten sich unterhielten, stehen Bauzäune mit scharfkantiger Werbung. Wo gestern noch die Katzen streunten, legt sich Betonstaub auf die Linsen der Smartphones.

Der stete Wandel, der in einem unvorstellbaren Tempo voranschreitet, scheint das Buchprojekt in weite Ferne stürzen zu lassen. Es ist zum Haareraufen, es ist nicht leicht die Nerven zu bewahren. Halt gibt da nur Berna, die Katze. Ein echter Herumtreiber, der gern mal was nicht nur vor die Tür legt, sondern gleich mit rein in die Wohnung schleppt. Katzen. Man kann nicht mit ihnen und schon gar nicht ohne sie. Doch all das verhindert nicht den allmählichen Abstieg des Autors in eine Parallelwelt.

„Schlaftrunken“ taumelt man durch die Stadt am Bosporus, die noch weniger schläft als New York. Gerüche kommen und gehen, genauso wie Straßen, Gassen, Plätze, Geschäfte und Menschen. Der geschäftliche Erfolg rückt immer mehr in den Hintergrund. Es ist ein Alptraum, die Stadt ist ein Alptraum. Wie soll er, wie kann er … hier leben, schreiben, überleben?!

Istanbul verändert sich schneller als die meisten Städte auf der Welt. Stadtpläne sind schon beim Druck nicht mehr aktuell. Gigantische Kräne durch die Stadt wie irrlichternde Kolosse. Hier hinein schupst Hakan Bıçakcı sein alter ego. Nichts ist mehr wie es war als es so richtig losgehen soll. Wer Istanbul besucht ist „Schlaftrunken“ die einzige Konstante in einer sich ruhelos verändernden Stadt. Und so sollte man dieses Buch auch annehmen. Rastlos blättert man sich durch die verworrenen Gedankenspiele des Helden. Er ist der Prototyp des Suchenden, der niemals ankommen wird. Zumindest nicht dort, wohin er will.

Mein Vater, vielleicht

Es lag immer ein Schatten über der Erzählerin. Ein Schatten, der ihr die Sicht niemals verdunkelte, dennoch immer präsent war. Es war der Schatten ihres Vaters. Nun, da sich die Mutter den Ende ihres irdischen Daseins nähert, nimmt der Schatten immer öfter schärfere Konturen an. Ein Satz hier, eine Andeutung da. Sobald es konkret wird, blockt die Mutter ab. Bis ihr eines Tages ungewollt, ungeplant, doch erleichtert die Wahrheit herausrutscht: Der Mann, der als Vater die Tochter erzogen hat, ist nicht ihr Vater. Nicht ihr Erzeuger, um es genau zu sagen. Die Unschärfe der Vermutungen nimmt klare Formen an. Was nun?

Soll sie ihn suchen? Ihn ausfindig machen? Ihn zur Rede stellen? Warum? Was würde sich ändern? Doch nichts tun, ist auch keine Lösung. Die Legende, dass er auf der Straße zusammengebrochen ist und unter Fremden friedlich starb, ist ein wohlwollendes Bildnis, das ihr niemals Schmerzen bereitet hat. Soll sie Wunden an Stellen aufreißen, die bisher von jeder Pein verschont blieben.

Sie entschließt sich dem Vater näher zu kommen. Näher als sie ihm jemals war. Aber auf gar keinen Fall persönlich. Ihr Ausweg – wenn man es so bezeichnen will – ist dieses Buch: „Mein Vater, vielleicht“. Schatten und Licht begleiten von nun an sie und den Leser auf einer Spurensuche, die keine sichtbaren Spuren im eigentlichen Sinne hinterlassen wird. Es sind Spuren im Herzen, im Bauch, im Kopf, die Laura Forti in den Pfad des Ungewissen setzt.

Die Familiengeschichte ist stark von Religion geprägt. Die Familie ist jüdisch. Während der NS-Besatzung Italiens eine lebensgefährliche Situation. Die Mutter ist verliebt. Sie und der Mann an ihrer Seite leben in ständiger Gefahr. Als die Zeiten wieder besser werden, trennen sich die beiden. Sie telefonieren heimlich, haben ein geheimes Signal. Stehen ständig in Kontakt. Lauras Heranwachsen ist für ihren Vater, ihren leiblichen Vater kein Mysterium. Für alle anderen herum, ist er es umso mehr.

Laura Forti gehört zu den meist gespielten Dramatikerinnen im Ausland. Mit Leichtigkeit nähert sie sich einem Thema, das schwerer kaum wiegen kann. Es ist nur logisch, dass sie in der limone-Reihe des nonsolo-Verlages mit „Mein Vater, vielleicht“ eine gewichtige Rolle einnimmt. Das Leben im Moment bekommt mit diesem Buch eine bedeutende Komponente hinzugefügt. Kein rastloses Suchen, kein zu Tränen rührendes Finden, von Kitsch so gar keine Spur. Rational und dabei zugleich emotional tiefschürfend kreist ihre Vatersuche nur um den einen Gedanken nach Erlösung aus dem Kreislauf des ewigen Fragens.

Good-bye für heute

Berlin 1926: Die Goldenen Zwanziger überrollen die Stadt mit Champagnerpyramiden, zu kurzen Kleidern und ausgelassener Musik. Berlin 1926, Lützowplatz: Gutbürgerliche Gegend. Hier wohnen Künstler, Aristokraten, Geldadel. Berlin 1926, Lützowplatz 4: Jean Tarnowitz – Amerikanerin mit deutschen Wurzeln – feiert gerade ihren vierzigsten Geburtstag. Zusammen mit ihren Kindern, den Zwillingen Karin und Erhard. Die geräumige Wohnung wurde vom Wohnungsamt geteilt, d.h. Wände wurden eingezogen und Untermieter zugeteilt. Die Kerzen auf der Torte brennen bereits.

Jean arbeitet und spart sich so manches vom Munde ab, um Tochter Karin das Medizinstudium an der Charité ermöglichen zu können. Erhard, ihr Sohn, hängt immer noch dem einstigen Ruhm der Familie nach. Nach dem Krieg wurde ihr Vermögen, ihre Ländereien Polen zugesprochen und nun haust man hier. Im lauten dreckigen Berlin, umgeben von Fremden, der Einfluss des Tarnowitz’ ist nicht mehr existent. Doch es regt sich Widerstand. Widerstand, dem sich Erhard nur allzu gern anschließt, um irgendwann einmal „die alte Ordnung“ wiederherzustellen. Ehre und Umsturz, Antisemitismus und Fortschrittsverweigerung sind seine Welt.

Seine Zwillingsschwester Karin hingegen sorgt sich um ihre eigene Welt. Warum sie allein ist und keinen Mann attraktiv genug findet, um sich mit ihm zu verbinden – das sind die Dinge, die sie beschäftigen.

Mutter Jean spricht ihrer erwachsenen Tochter Mut zu. Mehr kann sie nicht tun. Mehr will sie nicht tun. Mehr wird sie tun müssen…

Margaret Goldsmith zeigt in ihrem Erstlingsroman „Good-Bye für heute“ ihr außergewöhnliches Talent Alltagssituationen mit gesellschaftlicher Veränderung zu verknüpfen. Ihr Leben spielte sich genau hier ab wo ihr Roman spielt. Alle Anspielungen – Boston, Bloomsbury Farm sowie London Mecklenburg Square – sind real, wenn auch heute nicht mehr so erkennbar. Ihr Einfluss ist nachvollziehbar. So ergibt sich aus diesem Roman ein exaktes Abbild der Zeit und der Umgebung, in der sich die Autorin im echten Leben und die Heldin im Roman bewegen. Selten zuvor wurden die Zwanziger in Berlin so echt dargestellt.