Fantomas gegen die multinationalen Vampire

Alles hat einmal ein Anfang. Diese Sammlung von Geschichten aus und über Lateinamerika war das erste Buch, das im Septime-Verlag erschien. Das war 2009. Und gleich im ersten Buch treten Stimmen auf, die bis heute nicht verhallt sind.

Ebenso einen Anfang stellten die Russell-Tribunale dar. In den 60er Jahren wurden – unabhängig von staatlichen Organen – Verbrechen im Vietnamkrieg untersucht. Eine juristische Aufarbeitung war leider nicht bis kaum möglich. Das zweite Russell-Tribunal untersuchte die systematische Missachtung von Völkerrechts- und Menschenrechten in Südamerika unter der Berücksichtigung finanzieller Interessen der USA. Einer der Vizepräsidenten war unter anderem Gabriel García Márquez, kolumbianischer Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1982. Mitglied des Tribunals war der Schriftsteller Julio Cortázar. Der titelgebenden Geschichte steht eine Hommage des Máquez’ für den argentinischen Schriftsteller Cortázar voran. Die Ereignisse dieses Tribunals und die Empfindungen des Autors sind die Grundlage für die fantastische Geschichte mit dem Superschurken, der in diesem Fall mit weißer Maske in die Fußstapfen Robin Hoods tritt.

Dieser Geschichtenband unter anderem mit Werken von Roberto Bolaño und Guadalupe Santa Cruz aus Chile, Guillermo Cabrera Infante aus Kuba und dem Mexikaner Juan Villoro zeigt eine Vielfalt an Literatur. Es sind nicht einfach nur Appetithäppchen, die man mit einem Bissen verschlingt, es sind kunstvolle Preziosen, die niemals ihren Glanz verlieren werden. Sie zeigen einen Kontinent, der stets in Bewegung ist und der nicht minder stets im Fokus fremder Mächte stand. Ob nun die Diktatoren Pinochet und Peron oder die scheinbaren Heilsbringer wie Fidel Castro – das Leid wurde niemals gemindert, das Gegenteil war meist der Fall.

Kraftvoll, poetisch, verborgen, offen dringen die Worte ins Hirn des Lesers, der „es schon immer wusste“ oder mit offenem Mund über so manches literarische Wunder staunt.

Die einleitenden Texte stellen den Autor kurz vor – das sind Appetithäppchen, die man sich in so manchem Buch wünscht. So werden Zusammenhänge offen gelegt und erzeugen die richtige Stimmung für die Handlung.

Kumari

Als Sehnsuchtsort bietet Nepal vielen Individualisten eine ideale Projektionsfläche. Es ist das einzige Land mit einer nicht viereckigen Flagge, liegt verdammt weit oben … da hören bei den meisten die Vorkenntnisse schon auf. Selbst in den Nachrichten von vor zwanzig Jahren taucht das Land kaum bis gar nicht auf. Da muss man schon ein bisschen weiter zurückschauen. Der Juni 2001 war der Beginn eines enormen Umsturzes. Das Königshaus wurde fast komplett ausgelöscht, was dazuführte, dass sieben Jahre später die Monarchie abgeschafft wurde und die maoistische Regierung das Land regiert. So viel zu den Fakten. Und genau in diesem Juni des Jahres 2001 spielt „Kumari“ von Philip Krömer.
Kumari sind Kindgöttinnen. Im Alter von zwei bis vier Jahren werden sie erwählt. Horoskope werden herangezogen, körperliche Merkmale untersucht. Die Herrschaft der Kumari endet mit Einsetzen der Menstruation.
Das größte religiöse Fest des Landes – Dasain – steht an. Seit Tagen laufen die Vorbereitungen. Amita ist eine der aktuellen Kindgöttinnen, Kumari. Seit Jahren, seit ihrer Geburt, umgibt sie absolute Stille. Reden darf sie nur mit ihrer Familie. Die Bittesteller, um Segen Bittende, küssen bei der Audienz ihre rot bemalten Füße. Die Stille ist spürbar, fast hörbar. Kein Wort, kein Laut ist zu vernehmen. Das Fest wird der Höhepunkt des Jahres sein. Aber es ist auch die Ruhe vor dem Sturm. Denn im Volk rumort es.
Und damit sind wir wieder bei den harten Fakten: Kronprinz Dipendra ist Gast beim königlichen Familienfest. Er verlässt kurz den Raum, als er wiederkommt, trägt er Uniform, zieht eine Waffe und erschießt unter anderem König Birendra sowie Königin Aishwarya. Weitere Angehörige des Königshauses, Verwandte des Attentäters werden schwer verletzt. Zum Schluss will auch er seinem Leben ein Ende setzen. Das misslingt. Er wird sogar zum König ernannt. Für drei Tage. Dann stirbt auch er. Das kann man nachlesen. Die Hintergründe sind unklar. Wahrscheinlich führte die Ablehnung der Heirat mit einem Mitglied einer verfeindeten Familie zu der schrecklichen Tat.
Kumari Amita lernt die Rebellin Rupa Rana kennen – by the way, Raan ist der Name der verfehmten Familie, die sich mit dem aktuellen Königshaus vereinen will. Gleichzeitig bemerkt Amita aber auch Veränderungen, die ihren Status als Kumari … bestärken? … verändern? … auf alle Fälle beeinflussen werden. Poesie trifft Abenteuer, historische Fakten vermischen sich mit progressiven Gedanken, hier wird das Genre historischer Roman (auch wenn die Historie nicht allzu weit zurückliegt) auf eine neue Ebene gehoben.
Wer nun meint sich über die vermeintlich rückständigen Rituale mokieren zu müssen, liegt falsch. Es ist mehr als nur Tradition und religiöser Habitus. Die Kumari sind fester Bestandteil der Kultur, sie bieten Halt und Zuflucht. Und wer sich in Europa die aktuellen Veränderungen anschaut, wird auf eine Vielzahl von reaktionären – rückschrittlichen – Tendenzen stoßen. Philip Krömer bietet einen weitreichenden Blick durchs Schlüsselloch in eine Kultur, die geographisch weit weg liegt von dem, was uns tagtäglich umgibt. Sein Wissen darum und die seltene Gabe mit Worten Gedankenreiche zu schaffen, sind Gold wert. Gefühlvoll, detailliert und nachhallend lockt er den Leser in ein Land, das man in dieser Form nicht kannte. Jetzt kennt man es, nicht vollständig, aber um einiges besser als zuvor.

Nach Gefühl

Es ist jedes Jahr ein Riesenspektakel. Die erste große Rundreise auf dem Drahtesel durch ein Land. Der Anfang macht traditionsgemäß Italien. Als Radsportfan ist man seit Jahren immer wieder der Gefahr ausgesetzt aufs falsche Pferd zu setzen. Und so genießen viele neben dem eigentlichen Sport wahrscheinlich auch die Ansichten des womöglich nächsten Urlaubsziels.

Zwischen all den Steigungen und Abfahrten, den wilden Sprints und auch den erschreckenden Stürzen drängen immer wieder Fahrer in den Fokus, deren Namen man so schnell nicht vergessen wird. Und das nicht, weil sie Naschkatzen mit einer Vorliebe für nicht natürliche Substanzen sind!

Tom Dumoulin gehört sicher in diese Riege. Er war nicht der alle überstrahlende Radsportler, der mit einem Antritt ganze Ausreißergruppen in die Verzweiflung trieb. Er war bei Rennen stets präsent. Zuerst als Wasserträger, also einer, der zuallererst seinem Teamkapitän, dann den aussichtsreichsten Fahrern zur Seite stand. Man nannte ihn den Schmetterling, vlinder van Maastricht. Den Spitznamen mochte er nie. Mit gerade mal 32 Jahren hängte er den Fahrradhelm an den Nagel. Ein Sturz, bei dem er sich das Handgelenk brach und nicht an den Weltmeisterschaften teilnehmen konnte, war ausschlaggebend. An dieser Stelle könnte man jetzt mit Zahlen jonglieren: WM-Titel, Triumphe bei den großen Rundfahrten etc. Doch damit würde man ihm nicht gerecht werden.

Zusammen mit dem Journalisten Nando Boers spürt er im Nachgang noch einmal das Gefühl auf Radsportler zu sein. Er reist noch einmal an Orte, die ihm etwas bedeuten. Orte, an denen er sich das Trikot des Besten der Gesamtwertung überstreifen konnte. Orte, an denen er nach Wochen der Entbehrung bejubeln lassen konnte, weil er dieses Trikot über die abschließende Ziellinie getragen hat. Aber auch Orte, an denen entscheidende Zäsuren stattfanden.

Es sind nicht zwigend die Orte mit den Ziellinien wie Andorra-Ancalis, wo er zum ersten Mal eine Bergetappe bei der Tour de France gewann. Und was für eine Etappe! Oft sind es Streckenmarkierungen, wo er sich absetzte, wo er sich gut fühlte, so das Rennen durch und für ihn entschieden wurde.

Monza, Oropa, Bormio – klar, dass der Niederländer eine besondere Beziehung zu Italien hat. 2017 war das Jahr, in dem er im maglia rosa als Gesamtsieger wieder nach Hause fahren konnte. Die Wochen danach bzw. seine Beschreibung dieser Zeit gehören zu den Highlights in diesem Buch. Weil sie dem siegorientierten Sportler eine menschlich nachvollziehbare Note verleihen. Grillen, chillen, willentlich dem Rad die kalte Schulter zeigen.

Aber auch die (inzwischen) differenzierte Sichtweise auf den Zirkus und den Hype dieses Sports regen zum Nachdenken an. Die Mischung aus journalistischer Chronistenpflicht und eigenen Empfindungen, die immer noch präsent sind – mit Mitte Dreißig sind sie erfahrungsgemäß noch sehr frisch – macht „Nach Gefühl“ zu einer mitreißenden Biographie, die zu begeistern weiß.

Ich bin Ariel Scharon

Sich über die Politik Israels zu unterhalten gleicht einer Sisyphosarbeit. Hat man ein Thema „abgearbeitet“, türmen sich schon wieder neue Probleme vor einem auf. Und immer wieder wird einem dabei der Name Ariel Scharon unter und vor die Augen kommen. Er leitete „immer mal wieder“ die Geschicke des Landes. Gehasst, geschasst, geliebt, bejubelt. So wie an vielen Politikern Israels scheiden sich die Geister.

Nun liegt er im Koma, seit Januar 2006. In zwei Monaten wird gewählt. Ariel Scharon hat die Partei Kadima gegründet und wird wohl … nein, er hatte große Chancen wieder an die Macht zu gelangen. Macht, diese Sucht Veränderungen herbeizuführen, andere zu überzeugen … zu herrschen.

Es sind die Frauen in seinem Leben mit denen er im Zweigespräch ist. Nicht sich gegenüber sitzende Personen handeln hier, sondern Frauen und ein Mann, die mit Monologen und Ansprachen dem Politiker ins Gewissen reden, ins besänftigen, ihm ihre Geschichte erzählen. Denn sie haben willentlich oder nicht Ariel Scharon geformt.

Allen voran seine Mutter. Sie führt ihn noch einmal in ihre und seine Kindheit zurück. Sie berichtet vom schweren Leben im ehemals russischen Zarenreich. Und ihrer spektakulären Ankunft auf dem Boden, wo einmal der Staat Israel erstehen wird. Dort, wo Palästinenser ihre Heimat gefunden haben und nun … ach, sind wir schon wieder bei der Politik. Die verdirbt ja auch so manchen schönen Abend…

Es sind die Parallelen, die die Frauen ziehen, um sein Schaffen, sein Wirken in der Weltpolitik mit seiner und ihrer Geschichte verweben. History repeats. Daran kann kein/e so Mächtige/r etwas ändern. Kein Diktator wird sich den Gesetzen der Wiederkehr widersetzen können.

Yara El-Ghadban gelingt es mit Leichtigkeit den harten Fakten die Gelassenheit des Romans wirken zu lassen. Hier ist alles Fiktion. Hier ist alles real. Es könnte ja so sein. Wer kann schon beurteilen, was im Kopf des im Koma liegenden Ariel Scharon vor sich geht? Es ist einfach im Nachhinein eine Persönlichkeit in ein passendes Licht zu rücken. Dabei unterliegt man aber der scharfen Zensur des geneigten Lesers. Im Roman darf man Tatsachen in einen Kontext setzen, den er vielleicht gar nicht gibt. Die Kunst besteht darin nicht ins Absurde abzugleiten. In diesem Fall ist Yara El-Ghadban eine wahrhafte Künstlerin, die es versteht zu unterhalten, ohne dabei den Boden und den Füßen weggezogen zu bekommen.

Die Poesie des Buchhalters

Erstmal ein Bad. Hu, ha, ist das heiß! Die Haut verfärbt sich in Windeseile rot. Ein scharfer Kontrast zum Büroweiß des Restes am Körper. Jetzt kann Justus Kratz sich den Dreck des Tages, den Schmutz des Büros und vor allem den Gestank der Schmach vom Körper schrubben. Und dann gleich noch mal. Und noch mal. Was ist passiert?

Seit Jahren nimmt er für seine Vermieterin Rose Briefe entgegen, um sie in der Poststelle seiner Arbeitsstätte abzugeben. Sie spart sich den Weg zur Post, er freut sich, wenn er ihr helfen kann. So ist Justus eben. Zweimal pro Woche ist er die gute Seele. Was nicht bedeutet, dass ansonsten sein herz nicht rein sei. Ganz im Gegenteil. Er hat seien Routinen. Damit fühlt er sich wohl. Das passt!

Doch irgendwann – wann, das weiß er gar nicht einmal – packt es ihn. Seine Neugier siegt über die Pflichterfüllung. Mit einem Mal ist Justus Kratz Patient seiner eigenen Irrationalität. Neugier muss eine Krankheit sein. Abwehrmechanismus oder simpler Erklärungsversuch? Und Justus geht noch einen Schritt weiter. Er öffnet nicht nur den Brief, er liest ihn auch. Er weiß, dass das einen enormen Vertrauensbruch darstellt. Ja, die gute Rose schreibt ihrem Paul. Fleißig, zweimal pro Woche. Paul ist das pragmatischer. Und bei Weitem nicht so fleißig.

Justus ist nun gefangen in seiner Krankheit. Die ganze Situation überfordert ihn sichtlich. Er ist schnippisch, wo er sonst gelassen ist. Er ist im Dauerstress mit seinem Gewissen, wo sonst die Ausgeglichenheit ein Beet mit sich sanft in der Kraft der Ruhe hin und her wiegt. Was, wenn alles, was Justus ausmacht mit einem Mal ins Dunkel der falschen Attitüde verschwindet? Puh, da hat er sich was eingehandelt…

Justus geregelter Tagesablauf mit all seinen Macken steht über allem. Auch sichtbar im Buch. Justus’ Gedankenspiele, was Rose und Paul betrifft, treten immer öfter hinter dem Schleier des Unbekannten hervor. Auch das ist im Buch exzellent dargestellt. Ein Kunstgriff, der seinesgleichen sucht. Optisch mehr als nur ein Hingucker.

Ulrike Damm verwandelt in ihrem Roman einen durch und durch strukturierten Menschen in ein Wesen, das sich selbst in Frage stellt und mit einer Außenwelt konfrontiert, die er nie an sich, geschweige denn in sich, heranlassen würde. Alles Lüge oder doch nur eine Zäsur? Die Leichtigkeit der Worte überstrahlt die Ernsthaftigkeit des Themas derart, dass man mit schwitzigen Händen Seite für Seite mit den Augen verschlingt.

Hyänen

Simon ist der Mann. Er ist der einzige Mann, der diesen Auftrag erledigen. Seine Vorgesetzte schmiert ihm Honig ums Maul bis er nicht mehr anders kann und den Auftrag annimmt. Irgendwo am Ende des Landes. Er landet spät in der Nacht. Fast scheint es als ob man ihn erwartet, doch dann wäre ein Fahrzeug da, das ihn abholt. Eine junge Frau, Rachel, fährt ihn freundlicherweise ins Hotel. Auch hier ist man auf ihn irgendwie vorbereitet und irgendwie auch wieder nicht.

Der nächste Morgen hält für Simon eine weitere Überraschung bereit. Maria, überaus attraktiv, forsch und überhaupt nicht auf den Mund gefallen. Sie und er scheinen die einzigen Gäste hier im Hotel zu sein. In diesem gottverlassenen Tal ohne Anschluss zur Welt da draußen. Am nächsten Morgen soll Simon mit seiner Arbeit beginnen. Er geht zum Rathaus. Alle Türen verschlossen. Eine Dame mit Hund regt sich ungeheuerlich auf, dass das Rathaus immer noch – schon wieder – verschlossen ist. Simon bekommt nach und nach ein klares Bild von der Stadt. Dass hier Korruption eine Rolle spielt, ist klar. Sonst wäre er nicht hierher geschickt worden. Und dass der Bürgermeister seine Finger im Spiel hat, ist ebenso klar. Und Simon soll es ihm nachweisen. Weil … na ja, weil man das so macht, es rechtens ist und weil Simon … wie schon erwähnt … na ja der Einzig ist, der das schaffen kann.

Simons Blick auf die Realität ist getrübt. Wie ein loses Haar, das sich in den Wimpern verfangen hat und einfach nicht zu greifen ist. Auch als er den Bürgermeister – der, dem er Korruption im ganz großen Stil nachweisen soll – kennenlernt, sieht er nicht klar: Der Bürgermeister posiert nackt auf einem Hocker sitzend vor einer nicht dem gängigen Klischee entsprechenden Künstlerin, die ihn auf Leinwand verewigen soll. Die Künstlerin ist übrigens Maria. Es wird nicht die letzte Ablenkung für Simon sein, die ihn davon abhält seiner eigentlichen Tätigkeit nachzugehen… Bis es für ihn sogar richtig gefährlich wird…

Roland Freisitzers Gedankengängen zu folgen, geht mit einem wohligen Gänsehautgefühl einher. Langsam und unaufhörlich stürzt er Simon in ein Jammertal, aus dem er nicht mehr herauszukommen scheint. Sirenen verwirren seine Sinne, knallharte Günstlinge packen ihn da, wo’s wehtut, speichelleckende Lakaien umschwirren ihn wie Schmeißfliegen. Und über allem thront der gottähnliche Bürgermeister. Dass der Dreck am Stecken hat, ist wie in Stein gemeißelt. Es ihm nachzuweisen inmitten der ganzen willfährigen Helfer, bedarf dompteurartiger Fähigkeiten. In der Luft der Gestank des Aases – ein Fest für Hyänen!

Eine Violine für Adrien

Adrien will Geigespielen lernen. Nicht, weil sein Mutter das so will. Er will es. Ein Konzert bei Monsieur Benjamin ist dafür ausschlaggebend. Und Monsieur Benjamin gibt auch Unterricht. Einzige Bedingung: Er muss Noten lesen können. Das kann er, hat er in der Schule gelernt. Von der ersten Sekunde an ist Adrien fasziniert vom Klang des Instruments und von Monsieur Benjamin. Adrien ist der Beste in der Klasse. Daran ändern auch nichts die Sticheleien und einmal auch eine tätlicher Angriff zweier Mitschüler. Letzterer zieht weite Kreise. Denn die Delinquenten bzw. ihre Eltern hetzen die gefürchteten Tonton macoute auf die Mutter. Im Haïti der 70er Jahre als Papa Doc das Land im Würgegriff hielt und seinen Sohn Baby Doc auf sein kommendes Amt vorbereitete, leider keine Seltenheit. Auch hier kann Monsieur Benjamin mit Tat zur Seite stehen. Er kennt den verantwortlichen Offizier. Und der wiederum weiß, dass Monsieur Benjamin ein geachteter Mann ist, der Haïti in der Welt gut aussehen lässt … und außerdem mit Papa Doc seit Kindertagen befreundet ist.

Doch die Stunden bei Monsieur Benjamin sind zeitlich begrenzt. Will Adrien weiterspielen, braucht er eine eigene Geige. Mama kann sich das Instrument nicht leisten. Und Papa ist erst recht keine Hilfe, da er für weitere Frauen aus seiner Vergangenheit aufkommen  muss. Adrien will unbedingt weiter Geige spielen. Und sich das Geld selbst verdienen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Da kommt ein Mann des Weges und macht ihm ein Angebot …

Gary Victor schreibt mit der Virtuosität eines Meisters. Korruption, Abhängigkeit, Bespitzelung, Armut, Hoffnungslosigkeit und zwischendrin der Zauber der Musik. Eine Sinfonie in dunkelstem Moll, die sich in die höchsten Höhen des Dur hinaufschwingt. Was macht man, wenn ein Traum an einem seidenen Faden hängt, der zu reißen droht sobald man ihn berührt? Soll man mit dem Teufel paktieren, um das große Ganze genießen zu können? Der kleine Junge Adrien kann die Tragweite des Angebotes nicht abschätzen. Er hat einen Traum, den er sich und für seine Mama erfüllen will. Außerdem will er Monsieur Benjamin nicht enttäuschen. Die Zwickmühle schnürt ihm die Kehle zu.

Ab der ersten Seite, ja eigentlich schon mit den ersten Buchstaben dieses Buches, umgarnt Gary Victor den Leser mit zauberhaften Akkorden, die in Melodien aufgehen, die man nie mehr missen möchte. Verträumte Harmonien werden durch schellende Paukenschläge durchbrochen, um anschließend sanft den Leser wieder in Hoffnung zu packen. Gary Victor dirigiert sein Werk selbstsicher und gekonnt – standing ovations garantiert.

Die Taucherin

Valencia ist für Amalia Faller aus dem beschaulichen sowas wie eine zweite Heimat. Auch und gerade weil dort Marina lebt. Ihre beste Freundin seit einer gefühlten Ewigkeit. Beide Frauen haben die 40 schon gerissen, stehen mitten im Leben, auch wenn es bei Amalia momentan nicht so wirken mag. Und wenn es mit dem Job in Valencia klappt, dann ist alles scheinbar wieder im Lot. Doch es kommt anders!

Schon beim letzten Besuch bei Marina lag eine unbestimmbare Spannung in der Luft. Marina antwortete kurzatmig, wo Amalia ein strahlendes Si! erwartet hatte. Doch so eine enge Freundschaft erschüttert so schnell nichts. Doch warum meldet sich Marina nicht mehr? Kein Lebenszeichen. Ein Anruf weckt Amalia aus ihrer Lethargie. Marina ist tatsächlich verschwunden. Einfach so – das kann, das will Amalia nicht akzeptieren. Sie fährt nach Valencia. Dass ihr der sicher geglaubte Job nun doch verwehrt wurde, ganz ohne Angabe von Gründen, ist mittlerweile unerheblich.

Die Stadt, die bisher als Zufluchtsort mit sicherem Hafen galt, verwandelt sich nun in einen Moloch, den Amalia doch nicht so gut kennt wie sie meint. Waren all ihre Besuche nur Stippvisiten an einem Sehnsuchtsort ohne Wert? Auch Marina erscheint in einem völlig anderen Licht.

Amalia und Marina sind Schwestern im Geiste mit komplett verschiedenen Einstellungen. Während die Eine in den Bergen herumklettert – Amalia – ist die Andere – Marina – unter Wasser in ihrem Element. Marina engagierte sich schon früher politisch, kämpfte für den Erhalt alter Viertel, setzte sich für den Umweltschutz ein. Sie war wie eine gut durchgeschüttelte Flasche Cola beim ersten Öffnen. Und nun ist Marina verschwunden!

Amalia gräbt so tief wie sie noch nie gegraben hat. Ein nie gekannter Ehrgeiz nimmt von ihr Besitz und fördert eine an Widerwärtigkeit kaum gekannte Geschichte ans Licht. Seit Francos Zeiten wurden Kinder, Neugeborene ihren Eltern weggenommen – oft mit der Erklärung, dass sie gestorben seien. Fast immer mit Wissen und Zutun der katholischen Kirche. Amalia stockt der Atem bei solchen Geschichten. Und Marina soll darin verwickelt gewesen ein? Wie? Sie ist doch viel zu jung dafür. Doch der Kindesraub ging lange weiter, bis in die jüngere Vergangenheit. Der eigentliche Hammer soll für Amalia aber noch kommen: Denn auch ihre eigene Geschichte ist auf wundersame Weise mit verbunden…

Verena Boos gründet ihr drittes Meisterwerk auf einem wabernden Boden wahrhafter Perfidität. Sie lässt den Leser anfangs in dem Glauben, dass die kaum spürbare Spannung doch einen tieferen Grund hat, der aber nur für die beiden Frauen von Bedeutung ist. Nach und nach öffnet sie die Büchse der Pandora und lässt den Teufel zwischen ihnen herumderwischen. Je mehr Seiten man umblättert umso wilder wird der Tanz des Teufels. So wie die beiden Frauen sich entweder ober- und unterhalb der Oberfläche wohlfühlen, so stark werden beide von ihren Gefühlen und ihrem Wissen herumgewirbelt.

Die Palast-Rebellin

War es das Ende des Zweiten Weltkrieges oder die frühen Jahre im „Käfig“, die Prinzessin Margaret zu der Einsicht brachten, dass Pflichterfüllung notwendig ist, aber sich eigene Wünsche zu erfüllen einen höheren Stellenwert für einen selbst besitzt? Es ist wie immer im Leben wohl eine gesunde Mischung aus beiden. Der Krieg ist vorbei, die Isolation der beiden Teenagerschwestern Elisabeth und Margaret Rose ebenso. Die eine wird später mal die am längsten agierende Regentin der Welt sein, die Andere ein Schattendasein führen, das so stark leuchtet wie man es niemand erahnen konnte. Mama und Papa – König und Königin – erlauben ihren Töchtern unter Aufsicht und mit einem halben Dutzend Sicherheitspersonal sich unters feiernde Volk zu mischen. Elisabeth (noch ohne „II.“ ist neunzehn, ihre Schwester Margaret ist fünfzehn Jahre alt. Sie feiern mit ihren Untertanen, die sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht als solche wahrnehmen. Zumindest Margaret nicht. Elisabeth hat da schon die ersten Lektionen in Sachen Benehmen und Staatsführung hinter sich. Margaret wird in zweiter Reihe ebenso zu einer echten Lady erzogen. Dafür sorgen die Nannies Crawfie und Alla schon. Auch wenn es bei den Windsors fast schon üblich scheint immer mal wieder aus der Reihe zu tanzen, so ist es an der Zeit sich am Riemen zu reißen und das Commonwealth zusammenzuhalten. Diese Aufgabe bzw. den geordneten Zerfall des Weltreiches zu organisieren wird der Älteren Windsor zuteil werden.

Margaret genießt vielleicht nicht die strenge Erziehung. Schließlich wuchs sie in einer Familienidylle auf. Stets waren die Eltern trotz aller Staatspflichten erreichbar und um sie herum. Selbst im Krieg stand man täglich – per Telefon – in Kontakt. Die Nachtruhe (mit Betonung auf Ruhe) begann erst, wenn König und Königin sich meldeten.

Elisabeth fügt ihrem Namen „II.“ hinzu und alles ist anders. Wenn es einen Plan für Margaret gab, und den gab es garantiert, so muss sich die alsbald als Party-Prinzessin bezeichnete Margaret Rose neuen Herausforderungen stellen.

Karin Feuerstein-Prasser zeichnet in ihrer Biographie über die Schwester von Königin Elisabeth II. ein umfangreiches und detailliertes Bild. Skandale sind Fakten, die sie nicht außeracht lassen kann, sie sind aber nicht der marktschreierische rote Faden, der sich durchs Buch schlängelt. Die Windsor-Schwestern hatten das Zeug zur Weltkarriere und sie nutzten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln jede sich bietende Chance ihre Position darzustellen. Die Eine auf dem Thron mit Würde, Pflichtbewusstsein und Strenge. Die Andere mit der geballten Lust auf Leben, die nicht immer alles bekam, was sie wollte. Prinzessin Margaret war der schillernde Stern der Familie außerhalb von blankpolierten Juwelen und enormer Macht. Sie genoss die gleiche Erziehung wie ihre geliebte Schwester. Margaret hatte jedoch die Chance bekommen dieses Wissen, diese ungeheure Anhäufung von Mut und Bildung ein Stück weit mehr auszuleben als ihre vier Jahre ältere Schwester. Das die Regenbogenpresse ihr dabei immer öfter ein Bein stellte, konnte sie bis zu einem gewissen Grad wegstecken. Der unerfüllte Wunsch nach Beständigkeit zehrte aber auch an ihren Nerven.

Eine geistreiche, faktenbasierte und liebevolle Hommage an eine Frau, die das Leben in vollen Zügen genossen hat.

Patience geht vorüber

So alt wie das Jahrhundert – Patience fiert mit Grete ihr bestandenes Abitur. Draußen tobt noch der Krieg. Die Monarchie zerbricht. Aufbruchstimmung will aber auch nicht recht aufkommen. Aber mit dem Namen – muss man da zwangsläufig Karriere machen?! Nicht in ihrem Fall. Dass die Mutter Engländerin ist, deswegen der wenig deutsch klingende Name Patience, lässt sie schwer Freunde finden und die Anerkennung der Obrigkeit verwehrt bleiben.

Dass Patience so viele Parallelen mit der Autorin Margaret Goldsmith hat, ist kein Zufall. Auch ihre Wurzeln lagen jenseits des Atlantiks. Ihre Leben in Berlin – so wunderbar unter anderem in „Good-Bye für heute“ beschrieben – war kein Zuckerschlecken. Als Frau im Besonderen.

Patience hat Träume – sie will schreiben, Margaret Goldsmith. Sie studiert. Will als Ärztin promovieren. Und schreiben. Und das in einem Land, das nach dem Krieg Diktaten unterliegt (zurecht), einer galoppierenden Inflation zum Opfer fällt und schließlich rauschende Monate erlebt. Und das alles dort, wo es am heftigsten passiert: Berlin.

„Patience geht vorüber“ ist ein Titel, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Weil er so viele Interpretationsmöglichkeiten bietet. Geht an einem vorbei? Vorübergehen im Sinne von „das kommt schon in Ordnung, das regelt sich von allein“? Und so sollte man diesen 1931 erschienen Roman, alsbald verboten und verschollen wie so vieles dieser außergewöhnlichen Frau, auch lesen. Hier wird nicht wie wild auf das eine, große Ziel hingearbeitet. Hat man es erreicht ist alles vorbei und die letzte Zeile ist gelesen.

Margaret Goldsmith entwickelt in diesem Roman eine Frau, die nicht unter der Last eine Frau zu sein zusammenbricht oder gar ins Jammertal abgleitet. Sie nimmt jede Situation an. Mal stöhnt, freut sich aber im Gegenzug mindestens genauso wenn das Ziel erreicht wurde. Berlin den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts – das waren nicht nur Champganer-Duschen und ausgelassene Nächte. Das war auch das normale Leben mit all den normalen Problemen wie zu jeder Zeit. Und in dieser Zeit lebt Patience.

Es gibt beeindruckende Bildbände zu den Zwanzigern mit ikonischen Bildern. Aber die echten 20er, ob sie nun „golden“ oder „roaring“ waren, werden hier so anschaulich dargestellt, dass man baff erstaunt ist, wie lebensnah die Zeilen heute noch wirken.