Wenn in amerikanischen Krimiserien der Polizist per Funk die Laufrichtung des Verdächtigen angibt, kommt man oft ins Staunen. „Der Verdächtige läuft in Richtung Norden“ etc. Im vollen Lauf die Himmelrichtung erkennen? Wie geht das?
Vince Corso wäre die Fähigkeit die Himmelrichtung zu erkennen eine echte Hilfe. Statt im Zug gen Neapel – also Süden – zu sitzen, um mit Feng ein kuscheliges Wochenende zu verbringen, sitzt er im Zug nach Mailand – also Norden. Für einen Ermittler mit chronischer Neigung literarisches Wissen seiner Kundschaft als Heilmittel angedeihen zu lassen, ein eher peinlicher Fakt. Doch der Weg ist das Ziel.
Er disponiert um. Gerade eben hat er eine Postkarte an seinen Vater geschrieben. Einen Vater, den es nie gab. Nicht im eigentlichen Sinn. Einen Vater, der er nicht kennt. Vielleicht niemals kennenlernen wird. Mailand – Genua – Ventimiglia – Nizza – Marseille. Was ’ne Route! Als Urlaubsreise eine Wucht. Für Vince Corso eine Fahrt ins Ungewisse.
Nicht nur, weil er im Zug gehörig Nachschlag zahlen muss, sondern weil er auch in Nizza – seiner Geburtsstadt – noch keine Unterkunft hat. Mama hat früher im „Le Negresco“ gearbeitet hat. Das Hotel, das gefühlt jede Postkarte aus Nizza ziert. Abartig teuer, aber eben auch abartig luxuriös.
Und mit einem Archiv. Wie gesagt, Mama hat hier gearbeitet. Hat hier einen Mann kennengelernt. Juli, August 1969. Hier, wo immer noch die alte Patriarchin das Haus leitet.
Mit Engelszungen überredet Vince Corso eine Angestellte des Hotels ihm das Archiv zu zeigen. Er will – wenn er einmal hier ist und nicht in Neapel … – unbedingt wissen, wer dieser Mann war, dem er jährlich eine Postkarte ins Hotel schickt. Klingt verrückt? Ist ja auch eine verrückte Situation! Und tatsächlich findet Vince Corso Name und Adresse eines gewissen Ameer Blanchard aus Marseille, geboren in Tunis.
Es ist nicht nur der kniffligste Fall für den Bibliotherapeuten, Gymnasiallehrer und Privatschnüffler, sondern eine ganz besondere Reise. Fabio Stassi macht diese besondere Reise zu einer ehrlichen und wahrhaften Reise, die den Leser die Sinne vernebelt, um ihm mit Zuneigung den richtigen Weg in die Verführung zu weisen. Wo sonst der sanfte Schleier des Geheimen die Sicht verdeckt – Hamilton-Effekt – leuchtet in „Das Ausmaß von Liebe“ alles im klarsten Lichte der Erkenntnis. Unbeirrbar wechselt Stassi die Zeitebenen und schickt Vince Corso nicht nur an die Côte d’Azur, obwohl er eigentlich den Vesuv im Hintergrund haben sollte, sondern auf eine Reise ins Innere des Herzens. Das geht nur, wenn die Liebe kein Maß kennt.
Vinci Corso ist zurück. Der wohl originellste Detektiv der Welt! Er ist keiner, den man bittet einen Mörder oder die verschollene Verwandte zu finden. Und er ist auch keiner, der mit finsterer Miene Leute zum Schweigen bringt. Er ist Bibliotherapeut. Zu ihm kommt man, wenn man ein Buch sucht, das einem in einer bestimmten Situation hilft sich zurecht zu finden. Welch ein Beruf!
Und so findet auch Giovanna Baldini den weg zu ihm in die Via Merulana in Rom. Dort, wo Carlo Emilio Gadda Bruder den literarisch oppulentesten Krimi angesiedelt hat. Nun, Giovanna ist wegen ihres Bruders bei Vince Corso. Fabrizio, der Bruder, ist an Alzheimer erkrankt. Er war einmal ein gebildeter Mann, der sich in vielen Sprachen der Welt verständigen konnte. Das Wissen in seinem Kopf war unermesslich. Seit einiger Zeit jedoch sind nur noch Fragmente seiner selbst vorhanden. Es sind gerade mal etwas mehr als eine Handvoll Sätze, die er noch von sich gibt. Sie gehören wohl zu einem Buch. Giovanna erhofft sich nun, wenn Vince dieses Buch findet, ein wenig Linderung für ihren über alles geliebten Bruder.
Kein schlechter Auftrag – aber bei aller Liebe wohl der unmöglichste Auftrag, den ein Schnüffler erhalten kann. Doch die Aussicht das Rätsel um die Sätze, die einem umgekehrten caviardage (geschwärzte Zeilen in einem Text – kennt man vielleicht von so mancher Stasi-Akte) lösen zu können, ist ihm fast schon Bezahlung genug. Und außerdem würde Signora Giovanna auch keine Absage dulden. Ihre vehemente Präsenz ist ihm Befehl genug!
Fabio Stassi lässt seinen Ermittler oft genug ins Leere laufen. Gibt ihm aber gleichermaßen derart viele Hinweise, dass man nie den Glauben verliert, das Unmögliche schlussendlich doch erfahren zu können. Diese Spannung und die zahlreichen Ausflüge in Literatur im Speziellen und Kunst und fremde Kulturen im Allgemeinen gepaart mit der neumodischen Angstform der Nomophobie (der Angst das Mobiltelefon zu verlieren – NOMObilePhObia – grandios dieses Wortspiel) lassen jedes Umblättern zu einem Nervenkitzel reifen. Die intellektuelle Wucht und das schier unendliche Wissen um Bücher und ihre Wirkung hinterlassen Spuren beim Leser. Als Linderung gibt es im Anschluss eine Literaturliste mit Leseempfehlungen von Vince Corso.
Fabio Stassi zu lesen ist wie ein Rundflug durch die Weltbibliothek – nur die Zeit, die man scheinbar vergessen kann, ist der unerbitterliche Feind, dessen staubiger Atem einem im Nacken sitzt. Gefährlich – gefährlich gut!
Wenn man einen ungewöhnlichen Beruf hat, erlebt man auch Ungewöhnliches. Vince Corso ist Bibliotherapeut. Das heißt, dass zu ihm Leute mit einem Problem kommen, und er versucht ihnen einen Literaturtipp zu geben, der ihre Lage sichtbar macht, sie hilft zu begreifen und im Ernstfall zu verändern. Das ist wirklich außergewöhnlich. Mindestens genauso wie die Tatsache, das er in der Via Merulana in Rom wohnt. Nicht in Nummer 219 – die hat Carlo Emilio Gadda schon für sich in Beschlag genommen, literarisch. Aber ein paar Häuser weiter wird den Bewohnern ebenso grässliches beschert.
Vinces Wohnung wird verwüstet. Alles liegt kreuz und quer herum. Die Plattensammlung ein Scherbenhaufen. Und Django, sein Hund wurde vergiftet. Das trifft Vince mitten ins Herz. So ratlos wie er im ersten Moment schient, ist Vince Corso aber nicht. Natürlich erstattet er Anzeige bei der Polizei. Doch die Aufnahme der Anzeige gestaltet sich nicht so wie er es sich erhofft hatte.
Mit einem Mal gerät er ins Visier der Ermittler. Jemand mit so einem Beruf muss doch Feinde haben?! Oder Neider. Und wenn wir schon mal beim Aufzählen sind, wieso war er – natürlich immer zufällig – in der Nähe, wenn noch Grässlicheres passiert ist? Der Mord an der alten Dame, der „Unfall“ an der Piazza und und und. Corso schwant Böses. Er und die Mordserie, die das Viertel, ganz Rom in Atem hält? No, no, no, nicht Vince Corso!
Auf der Straße bemerkt er wie er beschattet wird. Ausgerechnet in dem Moment, in dem er beginnt selbst zu ermitteln. Denn der Zufall ist ihm zu offensichtlich, dass er, wenn er Zeuge einer Straftat wird, dass ausgerechnet dann ein Blinder immer in der Nähe ist. Er verfolgt den Blinden, die Polizei verfolgt Corso, der Blinde verfolgt ihn ebenso – wer fängt wen wann und wie endet diese Geschichte?
Fabio Stassi lässt Figuren der Literatur noch einmal auferstehen und in einem echten Spin-Off ihr Fähigkeiten ausspielen. Immer wieder treibt der den Leser in Romanhandlungen, die letztendlich nur ein Ziel haben: Vince Corso dem wahren Mörder auf die Spur zu kommen. Anleihen bei den Größen der schreibenden Zunft – von Camilleri bis zu Gadda – öffnen eine Bibliothek der Phantasten. Zitate und Nacherzählungen reichern dieses Buch so nachhaltig an, dass man nicht anders kann als stoisch bis zum Ende durchzuhalten.