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Hüte Dich vor der Frau

Jacy und Jed – so typisch amerikanisch wie Kaugummi und Cola. Ihr Trip zu Jeds Vater nach Michigan lässt ihn nachdenklich werden, sie, Jacy, ist voller Vorfreude. Endlich lernt sie Doktor Ash kennen. Sie will es so, er will es so. Noch bevor das Baby da ist. Jed legt seine Hand auf ihren Bauch. Jacy weiß, dass alles richtig ist, wie es ist. Doch dann – am Ende eines jeden Kapitels, manchmal auch mittendrin – dieser leise Zweifel, nur wenige Worte. Ah, es ist zum Haareraufen! Megan Abbott spielt mit dem Leser wie ein Kleinkind mit Murmeln. Diese kleinen Nadelstiche, die Frauen setzen, um …

Doktor Ash ist eine Offenbarung, findet Jacy. Freundlich, ruhig, besonnen, ein wenig unbeholfen in romantischen Dingen. Doch Jed ist ganz gut geraten – darin sind sich der Doc und Jacy einig. Der Ausflug hat sich gelohnt. Alles wird gut. In Eden gibt es kein Wider. So vergehen die Tage und die Nächte. Jeds Zärtlichkeiten, die Ruhe, die von Doktor Ash ausgeht – alles perfekt. Mars. Brandt die Haushälterin – ja, die kann Jacy nicht einschätzen. Die ist da, wenn sie d sein muss. Und weg, wenn sie man in Ruhe gelassen werden soll.

Den Familiengeschichten lauscht Jacy so konzentriert wie ein kleines Kind, das vor dem Weihnachtsbaum sitzt. Jeds Mom starb bei seiner Geburt. Was den Doc den Job an den Nagel hängen ließ. Umso herzlicher ist die Stimmung nun, wenn alle zusammen sind. Tags und bei Nacht.

Als plötzliche Blutungen bei Jacy einsetzen, ist es vorbei mit der Idylle. Die Luft schmeckt anders. Der See liegt nicht mehr so ruhig. Irgendwie ist die Stimmung gekippt. Mrs. Brandts unaufdringliche Art weicht einer mystischen, angsterfüllten Stimmung. Jacy fühlt sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr geborgen. Die Holzhütte, die Doktor Ash so liebevoll, so geschmackvoll eingerichtet hat, erdrückt Jacy von Stunden zu Stunde mehr. Sind es anfangs nur kleine Wortfetzen, die Jacy aufhorchen lassen, sind es bald schon ganze Sätze, die Jacy an allem zweifeln lassen, was bisher als normal erschien. Die Warnungen der Mutter, Weisheiten aus dem Abfalleimer einer Enttäuschten, leuchten wie grelle Warnschilder am Highway des Lebens.

Megan Abbott lässt es einmal mehr krachen. Wie eine zärtliche Mutter nimmt sie den Leser an die Hand, um ihn dann mit teuflischer Vehemenz in den Abgrund zu stoßen. Bauchkribbeln wie in der Achterbahn ist da noch das angenehmste Gefühl. Die Palette an Abgründe ist schier unendlich beladen. Und immer fällt ein Stück herunter, mitten in den Schoß der ungläubigen Jacy. Wer ist hier noch frei von Lug und Trug? Wem kann man hier überhaupt noch trauen?

Fenua

Wie sieht das Paradies aus? Für die Einen ist es eine Insel im Mittelmeer, auf man sich eine neue Existenz aufbauen will. Doch der Wille allein ist niemals ausreichend… Für einen Fußballprofi beispielsweise ist es das siegbringende Tor am Tage der Geburt des ersten Nachwuchses. Da trägt man schon mal gern die Kugel vor sich her… Für echte Träumer, Phantasten, kreative Seelenwanderer ist es die Südsee.

Paul Gauguin wählte eine der Inseln als sein Elysium. Hier schuf er Werke, die an Reinheit nicht zu überbieten sind und Groß und Klein, Jung und Alt, Kunstbesessene und Genießer gleichermaßen immer noch in Verzückung setzt. Die Meuterer der Bounty fanden hier ihr Glück bis der Alltag (inkl. der „kleinen Wehwehchen“) sie einholte und ihr Captain so manchen Kiel holen ließ.

Ach ja, die Südsee. Das Paradies! Das Paradies? Erst kürzlich bekam es Risse, als die Bewohner Vanuatus (immer wieder spannend wie viele Aussprachemöglichkeiten immer noch im Fernsehen kursieren) ihr Paradies fast wortwörtlich untergehen sahen. Patrick Deville ist auch dem Mythos Paradies auf der Spur. Auch er ist Gauguin auf der Spur. Und den Meuterern der Bounty. Und Herman Melville. Und Robert Louis Stevenson. Und Jack London. Und und und. Dieses Paradies – das von Patrick Deville – ist rissig. Loser Boden, von klitzekleinen Atomen aufgesprengt. Stürmische Winde, die die Palmen nicht nur romantisch von Links nach Rechts wehen lassen, sondern ihre mächtigen Stämme brechen lassen wie Streichhölzer. Gigantische Stahlrösser, die mit rauschenden Bugwellen den Horizont binnen Sekunden verschwinden lassen. Und dennoch taucht man ein in eine Welt, die eben trotz aller Unkenrufe und sichtbarer Verletzungen immer wieder und immer noch als Paradies in den Gedanken verankert ist.

Die Welt ist hier schon lange nicht mehr in Ordnung. Romantisch mit bitterer illusionsbefreiter Poesie reist er übers Meer, um … Ja, warum? Was sucht er? Bestätigung, dass seine Vorstellung vom Paradies nicht falsch ist, sie niemals falsch war? Oder kratzt er wie eine Berserker an der Oberfläche, um Schätze zu bergen, die man einfach bergen muss, um nicht gänzlich der Realität anheimzufallen?

Es ist von allem ein bisschen. Aber in erster Linie ist „Fenua“ ein Buch zum Träumen. Gedankenverloren blättert man Seite um Seite durch eine Welt, die selbige erst zur Welt macht. Sich Illusionen hingeben zu können, ist nicht einfach nur blinde Folgsamkeit. Bei Patrick Deville ist es eine Kunstform, die nur er beherrscht. Preisgekrönt, betörend, verstörend und verführerisch knüpft er kaum sichtbare, aber unverhohlen spürbare Bande zwischen dem, was im Bücherschrank seit Generationen Sehnsüchte schürt und dem, was in den Nachrichten für Entsetzen sorgt. Sich auf dieses Abenteuer einzulassen, verlangt nicht Mut. Nur die Bereitschaft sich dem Paradies annähern zu wollen. Dann ist das Lächeln im Gesicht wahrhaft und … paradiesisch. Willkommen in der Heimat, denn nichts anderes bedeutet im Tuvaluischen Fenua (Betonung auf der ersten Silbe!).

Lanzarote

Lanzarote ist derart gut erschlossen, dass man eigentlich kein Reisebuch mehr braucht. Das mag stimmen, wenn man den Urlaub in einem Reisebüro planen und sich dann vom Taxi abholen lässt, über den halben Kontinent und einen Teile des Atlantiks fliegt. Sich dann ins Hotel bringen lässt, auspackt und dann zwei Wochen am Pool die Drinks genießt, die man daheim in jeder halbwegs vernünftigen Bar ebenso genießen kann.

Oder man nimmt die Planung selbst in die Hand. Das kann schon mal ein paar Stunden oder Tage dauern. Aber wie beim Warten aufs Christkind ist die Belohnung umso schöner, wenn man dann endlich die Geschenke auspacken darf. Mehr als nur eine hilfreiche Stütze ist bei letzter Planung dieser Reiseband. Reisebuchautor Eberhard Fohrer hat eine persönliche Beziehung zur Insel. Er lebte hier, machte hier unzählige Urlaube und recherchierte hier noch öfter. Zieht man ihn zu Rate, dann erblasst jedes Reisebüro. Und ereignisreicher werden die ein oder zwei oder mehr Wochen ohnehin. Die 416 Seiten dieses Reisebuches sind nicht nur chic anzusehen, sie sind ein El Dorado für alle, die Lanzarote erkunden und im besten Sinne für sich erobern wollen. Ein Appetitmacher, der hält, was er verspricht!

Das beginnt bei der exakten Beschreibung von Festen, die die Inselbewohner und Touristen zusammenbringt und hört bei Restaurantstipps noch lange nicht auf. Ausgedehnte Touren, bei denen man allein oder in Gruppen vieles zu Gesicht bekommt, was anderen verwehrt bleibt. Echte Geheimtipps, die man sich erarbeiten darf und die Erholung und einzigartige Eindrücke garantieren. Schon mal von Jameos del Augua gehört? Ein Höhlensystem, das vor dreitausende Jahren nach dem Ausbruch des Monte Corona entstand. Nun ist der Name Corona mittlerweile in aller Munde. Und durch eben einen solchen steigt man hinab oder hinein in eine neue Welt. So wie schon vor ein paar Jahren. Aber dieses Mal hat alles ein gutes Ende. Und noch nachhaltigere Erinnerungen. Die exakte Beschreibung der Gegebenheiten machen einen die Entscheidung einfach: Ja, ja, ja. Oder Si, si, si. Muss man gesehen haben, wenn es die körperliche Verfassung zulässt. Und Uga ist noch weniger besucht. Und wenn man von hier nach Puerta de Carmen wandert (nur eine von vielen Wanderungen, die im Buch genau beschrieben werden, inkl. GPS-Daten), kann es sein, dass man tatsächlich stundenlang keiner Menschenseele begegnet, obwohl man auf einer Insel ist, die für Touristenströme bekannt ist.

Lanzarote ist und bleibt immer ein Reiseziel, dass besonders zur Weihnachtszeit oder generell in der kälteren Zeit gern als Fluchtpunkt ausgewählt wird. Verständlich, wenn man sich intensiv mit diesem Reiseband auseinandersetzt.

Pura Vida

Wer sich mit Geschichte auseinandersetzte, begegnet auf seiner Reise so manchem Revolutionär. Che Guevara gehört sicher zu den bekanntesten. Tito sagt dem Einen oder Anderen immer noch etwas. Aber William Walker? Who the f*** ist his guy?! Wahrscheinlich liegt es daran, dass in unserem Teil der Welt Lateinamerika nur als letztes Paradies für backpacker gilt und die Geschichte nur in ganz groben Zügen bekannt ist. Verdichtet man sein Blickfeld dann auch noch auf Nicaragua, wird’s eng mit dem Wissen um die Geschichte. So ziemlich die letzten Bilder aus dem Land hat man aus Rückblicken auf das Wendejahr 1989 als im Palast der Republik in Berlin Erich Honecker mit „befreundeten Staatsoberhäuptern“ den 40. Jahrestag der Gründung der DDR feierte. Da saß Daniel Ortega, Präsident Nicaraguas mit am Tisch. Zusammen mit Ceaucescu und anderen … kurzum mehrmals lebenslänglich – wenn man es satirisch betrachten möchte.

Patrick Deville hat sich in „Pura Vida“ nun dieses Land als Tummelplatz für seinen Roman ausgesucht. Als erfahrener, unfassbar umfangreich belesener Historiker ist ihm William Walker nicht unbekannt. Und nach der Lektüre dieses Buch ist er vielen Anderen ein fast schon vertrauter Revolutionär … mit einem fast schon logischen Schicksal.

Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und William Walker hat mittlerweile Medizin studiert, lebte in Paris, studierte in Heidelberg. Als Junge aus Nashville/Tennessee wäre hundert Jahre später wahrscheinlich Rockstar geworden. Aber als Junge aus Nashville/Tennessee, der im Frühjahr 1824 das Licht der Welt erblickte, wurde er … Freibeuter. Anwalt war er auch noch. Lateinamerika sollte von weißen Nordamerikanern beherrscht werden. Protektion aus Washington war vorhanden.

Die große Stunde schlug 1855/56 als in Nicaragua Bürgerkrieg herrschte. Kriegs- und Herrschererfahrung hatte Walker da schon zur Genüge gesammelt. Mit einem Mal war William Walker, der Junge aus Nashville/Tennessee Präsident von Nicaragua. Doch der Ruhm stieg ihm zu Kopf. Die Widrigkeiten – in Form von in seinen Augen unerfüllbaren Forderungen seiner einstigen Beschützer aus Washington – machten ihm das Leben schwer. Die Regierung zerbrach – Walker war Freiwild. Honduras war sein Schicksal, dessen Regierung Vollstrecker. Walker wurde hingerichtet. Zugegeben eine sehr verknappte Zusammenfassung dieses einzigartigen Buches. Patrick Deville nimmt sich auf über dreihundert Seiten Zeit eine Sinfonie aus Hoffnung, Tatendrang und Illusion zu erschaffen. Ab der ersten Seite wähnt man sich am Ort des Geschehens. Deville zweifelt nicht – er gibt der Geschichte den Spielraum, den sie benötigt. Wo Fakten fehlen, spekuliert er nicht wahllos, sondern lässt die Umstände eine Welt erschaffen, die genau so gewesen sein muss. So wie das echte leben!

Sturz in die Sonne

Die Erde, die Menschheit musste und muss so einige Katastrophen ertragen: Hunger, Krieg, Vertreibung, Dürre und andere Klimakatastrophen. Dagegen kann man etwas tun. Man kann! Tut es aber nicht! Doch was, wenn tatsächlich etwas passiert, wogegen man als normaler Mensch, als Manager, als Politiker, als General nicht – gar nichts – tun kann? Man ignoriert es. Und lässt den Dingen ihren Lauf. Also wie immer?!

Charles Ferdinand Ramuz lässt in seinem Roman „Sturz in die Sonne“ der Menschheit keine Wahl. Ein Fehler im Gravitationssystem lässt die Erde in die Sonne fallen. Das ist Science fiction in seiner natürlichen Form. Ja, alle haben die Warnungen, zumindest die Information irgendwie zu Gesicht bekommen. Doch was soll man damit anfangen. Dann wird’s halt wärmer. Ja, wird es auch. Aber darüber hinaus wird es auch windiger. Man schlafft ab. Die Arbeit geht nicht mehr so leicht von der Hand. Auch wenn die Arbeit völlig unsinnig ist. Wozu noch Plakate kleben für eine Show, wenn eh bald alles vorbei ist?! Die Winzer freuen sich über das produktfreundliche Klima. Diesen Jahrgangswein wird niemand mehr genießen können, auch wenn die Preise stabil bleiben. Erste, fast unbemerkte Anzeichen einer größeren Veränderung sind die aufziehenden Truppen vor der Nationalbank. Das Wort von der Revolution schleicht herum.

Und schließlich ist es ja auch nicht so, dass die Erde mach zweiundsiebzig Stunden wieder aufersteht, sich dann knapp sechs Wochen herumtreibt, um sich dann als Paradies zu entpuppen. Es gibt einfach auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Man kann niemanden fragen, wie habt Ihr das damals geregelt, als die Erde unterging? Und so versinkt man im Alltagstrott, der noch unerträglicher ist als zuvor. Wegen der Temperaturen und so. Und im Netz nach Informationen suchen geht auch nicht. Das gibt es noch nicht. Das Wort Computer existiert nur im Englischen. Und wird äußerst selten benutzt.

Charles Ferdinand Ramuz hat diesen dystopischen Roman vor mehr als hundert Jahren geschrieben. Er ist aktueller denn je. Auch wenn die Erde nicht aus ihrer Umlaufbahn zu brechen droht. Das könnte man vielleicht vorausberechnen… Er schaut dem Volk ziemlich genau aufs Maul und die Finger. Die Idylle am Genfersee bricht auseinander. Und nicht nur dort. Flucht ist keine Option. Denn die Gazetten sind sich einig, dass nicht der Genfersee in die Sonne plumpst, sondern alles andere herum – die gesamte Erde – schon bald verglühen wird. Es kommt wie es kommen muss. Allerdings zum letzten Mal. Alles zum letzten Mal.

Ein Blick zu wilden Tieren

Woran erkennt man einen ungewöhnlichen, und darüber hinaus auch noch erstklassigen Roman? Den Titel? Okay! Es ist faszinierend wie unbeeindruckt diese animalischen Wesen sich vor unserer Kamera bewegen und uns überhaupt nicht beachten. Sie geben sich schamlos ihrem Treiben hin. Es dient wahrscheinlich ihrer Sozialisation in der Gruppe.
Oder sind es die handelnden Personen, die in unterschiedlichen und doch so nahen Regionen der Welt ihr Leben leben? Okay! Der junge FDJler Konrad (wie die meisten hat er einen FDJ-Ausweis – damit ist das Thema aber auch schon abgeschlossen) ist ab dem ersten Anblick den neuen Nachbarsmädchen hin und weg. Die geheimnisvolle Aura der jungen Heranwachsenden zieht ihn in seinen Bann. Er malt sich eine rosige Zukunft in einem sozialistischen Land auf, dass beide von nun an gemeinsam gestalten und weiterentwickeln werden. Unterstützung erfahren sie dabei …
Im „freieren“ Teil der klingt das dann wohl so: Der zwielichtige Paul hat es sich zur Aufgabe gemacht ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden. Dass er dabei die Grenzen des guten Geschmacks und darüber hinaus auch die Grenzen des geltenden Rechts übertritt, macht ihm keineswegs zu schaffen. Und so ist es nicht verwunderlich, ja fast schon schlussfolgerichtig, dass er die pikanten Fotos, die er am Strand von kopulierenden Pärchen macht, gewinnbringend verkaufen kann. Dass hinter dem Stacheldraht, in der so genannten Ostzone, eine ältere Dame über ihn weiß (und auch wieder nicht), ahnt er zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 1978 noch nicht. Doch schon bald werden sich die Dinge dramatisch wenden.
Wieder zurück im Osten. Im Auftrag der Partei- und Staatsführung hat der Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit, Genosse Alexander Gross dem Klassenfeind in der Bundesrepublik unter Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel einen so genannten Deal im Kunstbereich auf die Beine gestellt. Ihm gelang dank Staatsauftrag einige wertvolle Kunst-Gegenstände im Westen zu verkaufen.
Sie alle machen auf ihre Art Karriere. In der Oper, in speziellen Kinos. Und manchmal ist man sich näher als es die Zeit erlaubt, als man es vermuten könnte. So wird aus mehreren, fast schon skurrilen Geschichten ein wahrhaft großartiger Roman. Mit Fingerspitzengefühl schreibt Christoph Cornel eine deutsch-deutsche Geschichte, die man so einfach nicht erwarten kann. Die wilden Tiere sind immer drüben. Egal, wo man gerade steht. Und selbst das „gerade stehen“ ist so vielschichtig deutungsfähig, dass man gar nicht anders kann als immer weiter zu blättern, den Kopf zu schütteln, sich den Bauch vor Lachen zu halten und – je nach Verwurzelung – sich zu erinnern. Dieser Roman ist eine Wohltat im Wust der Ossi-Wessi-Geschichten, in denen die Geschichte immer wieder neu erklärt wird – und wofür man lautstark und im hauseigenen Dialekt Werbung macht. Denn Christoph Cornels Blick zu den wilden Tieren ist mehr als nur linientreuer Voyeurismus und anti-anti-anti-was-auch-immer-Haltung. Es ist ein Blick auf Menschen, die in ihrer Umgebung das suchen, was naturgemäß jedem zusteht. An dieser Stelle wird versucht der kaugummiartigen Dehnung des Begriffes Freiheit den so gern bereitwillig gegebenen Rahmen zu ermöglichen… Preisverdächtiger Roman!

1000 places to see before You die

Im Leben gibt es unzählige Listen, die man erstellt. An die meisten hält man sich, wie den Einkaufszettel. Andere hingegen dienen – so meint man – der eigenen Beruhigung etwas zumindest in Planung zu haben. Meist gehen diese Listen irgendwann den Weg in den Abfall. Und dann wiederum gibt es Listen, die sind so dick, weil gehaltvoll, die werden niemals ihre Anziehungskraft verlieren. Bucketlist nennt man das.

Und so eine liegt in diesem Fall einmal mehr vor. Tausend Orte, die man besuchen muss bevor man es nicht mehr kann. Unmöglich? Schon möglich. Aber genauso möglich ist es tausend Orte zu bereisen. Doch wo anfangen? Hier kommt dieses Monster an Ideen, Ratgebern, Tipps, Tritten in den Allerwertesten ins Spiel. Von nun an gibt es keine Ausreden mehr! Der Anfang ist gemacht. Und der erste Schritt ist bekanntlich der erste von vielen, die noch folgen werden. Und wenn man schon mal angefangen hat…

… dann auf zum Lac d’Annecy oder nach Riga. Am besten mit einem Abstecher zu den Stränden Goas in Indien oder Sanibel und Captiva vor Florida. Oder der größten Sandinsel der Welt, Fraser Island in Australien. Zu ruhig? Dann hilft eine Shopping- oder Sightseeingtour über die quirligen Märkte von Saigon.

Man muss das Buch nur in die Hand nehmen und ein wenig darin blättern. Und schon hat man Reisefieber. Und eine Reisefibel auf dem Schoß. Klar gegliedert nach Kontinenten und Ländern. Ganz Mutige nehmen diesen Schmöker als festen Reiseplan – viel Spaß beim Urlaubsantrag ausfüllen: „Chef ich bin dann mal weg. Wenn ich das Buch abgearbeitet habe, komme ich wieder. Bis in … Jahren!“. Die Vorstellung ist doch schon sehr verlockend.

Ein Sinnes-Overkill ist garantiert. Berge, Täler, Strände, Stadtzentren, Architektur, Naturwunder, über und unter Wasser, Aussichtspunkte, Absteige wie Kletterpartien – wer hier nicht fündig wird, der hat entweder schon alles gesehen (was fast unmöglich scheint) oder will einfach nicht. Man kann dieses – nein, man sollte – dieses Buch als niemals versiegende Inspirationsquelle sich regelmäßig aus dem Regal nehmen. Reisen bildet. Lesen macht Appetit. Bei 1220 Seiten kann man sich niemals satt sehen und inspirieren lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Heute hier, morgen da. Der Sehnsucht einfach mal Futter geben. Sich selbst austesten, was alles möglich sein kann. Schon allein dafür lohnt sich ein Blick in diesen Schmöker.

Miss Muriel

Es sind nur sechs Buchstaben, die die ganze Perfidität wiedergeben, die das Leben der jungen Erzählerin umfasst. Sie ist zwölf. Eine gute Schülerin. Sie hat Freunde. Lebt komfortabel, ihr Vater betreibt mit ihrer Tante zusammen eine Apotheke. Sie sind die einzigen Schwarzen im Ort. Und da beginnt die Perfidität. Als Zwölfjährige versteht sie noch nicht alles. Aber sie sieht mehr als diejenigen, die im Laufe der Jahre gelernt haben (lernen mussten) wegzusehen und zu ertragen, was niemand ertragen muss.

Es sind die kleinen, offensichtlichen, täglichen Rassismen, die das Zusammenleben mit Fiebrigkeit erfüllen. Das merkt man sogar schon im Alter von Zwölf! Denn Muriel ist nicht einfach nur ein Markenname. Für viele ist es Anlass die eigenen „guten Manieren“ Anderen aufzuzwingen. Miss Muriel – so muss es heißen – so viel Zeit muss sein.

Allein schon die titelgebende erste Kurzgeschichte in diesem lässt den Leser erschauern. Offener Rassismus ist manchmal leichter zu ertragen als der Unterschwellige, denn er nistet sich tief unter der Haut ein und verweilt dort ein Leben lang. Ann Petry lässt den häuslichen Kokon der Erzählerin in wohligen Farben erstrahlen. Die kleinen Dellen in dessen Außenhaut sind sichtbar, aber nicht lebensbedrohend. Unmerklich und unaufhörlich jedoch beginnt diese Hülle zu zerreißen. Ein angsteinflößender Prozess, besonders für einen Teenager, der die ersten eigenständigen Schritte macht. Sie beobachtet wie die Liebe in Person des Schusters in ihr Haus einzudringen versucht. Er hat sich in Aunt Sophronia verguckt. Die lässt ihn jedoch abblitzen. Weil er weiß ist? Den Barpianisten Chink lässt sie aber ebenso wenig an und schon gar nicht in ihr Herz. Er ist ein Windhund, der nach der Badesaison wieder von dannen ziehen wird.

Die Parallelen zu Ann Petrys Leben sind offensichtlich. Auch sie wuchs in New England auf. Ihr Papa hatte eine Drogerie, später mehrere Läden. Sie selbst studierte anfangs Pharmazie bevor sie sich dem Schreiben endgültig zuwandte. Auch sie erfuhr Beleidigung und Erniedrigung – wegen ihrer Hautfarbe.

Jede einzelne Geschichte ist ein in sich geschlossener Kosmos, den man in seiner ganzen Vielfalt erkunden darf. Ganz unaufgeregt begegnet man ganz normalen Menschen in ganz normalen Situationen, die erst nach und nach aus ihrer Normalität herauskommen und hinauskatapultiert werden. Sie auf ihrer Umlaufbahn zu begleiten ist ein Privileg, das man mit Entsetzen verfolgt und mit einem Lächeln der Dankbarkeit ins herz schließt.

Endstation Hoffnung

Eines steht von vorn herein fest: Das Cover und schon beim ersten Überfliegen des Kapitelverzeichnisses gibt es keinen Zweifel mehr, dass einem beim Lesen ab und an, hier und da der Atem stocken wird. Leb wohl, du trautes Heim – Im Viehwagen – Endstation Auschwitz. Der Untertitel „Der ultimative Roman über den Holocaust“ ist nicht nur der reißerische Aufrüttler, es wird grausam, es wird schonungslos – aber auch hoffnungsvoll.

Isaia Maylaender als blauäugig zu betiteln träfe nicht einmal ansatzweise den Kern. Seine Eltern werden als Juden nach Auschwitz deportiert. Anfangs begegnet der Vater allem noch mit einem gewissen Spott – seine Scherze lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Isaia, Professor für Geschichte in Italien, ist da – in seinen Augen – realistischer. Er weiß, dass die SS Arbeiter braucht. Er als junger Mann eine Arbeitskraft darstellt, die unbedingt erhalten werden muss. Ein Kollege spricht ihn an. Kurz ist der Plausch über die „guten, alten Zeiten als…“, denn die Realität ist unerbitterlich. Professor Bergamo hat einen Weg gefunden hier zu leben, nicht nur zu überleben, wie er sagt. Er hat sich mit den Gegebenheiten ab-und für sich einen Weg gefunden, die Zeit zu überstehen … meint er.

Das ist Isaias Ausgangspunkt für eine hoffnungsvolle Zukunft. Er hat schon fast aufgegeben seine Eltern noch einmal zu sehen. Auch seine Liebe wird er wohl nicht noch einmal sehen. So wie sich Isaia das Lagerleben vorgestellt hat, scheint es auch zu werden. Ein perfider, fast schon perverser Funken Hoffnung. Der sich bald schon in ein loderndes Feuer verwandeln soll. Und zwar in dem Moment als man ihm anträgt die Biographie eines Hauptsturmführers zu schreiben. Natürlich soll es ein heroisches Werk werden. Isaia macht sich an die Arbeit. Ablenkung in positiver wie negativer Hinsicht verschafft ihm die Frau des „Helden seiner Arbeit“. Die hat ein Auge auf den willfährigen Professor geworfen. Doch auch sie verfolgt eigene Ziele.

Isaia sieht wie Menschen gebrochen werden wie sie sich verwandeln ohne dabei Schuld auf sich zu laden. Er sieht Lebewesen, die sich verwandeln und dabei unendlich viel Schuld auf sich laden. Er sieht wie roh Menschen gemacht werden. Er sieht wie roh sich Menschen verhalten, wenn man sie lässt. Er selbst kämpft jeden Tag, jede Stunde sich selbst treu bleiben zu können. Ein Kampf, der täglich schwerer wird…

Andrea Frediani lässt Isaia Maylaender am schlimmsten Ort der Welt eine Bibliothek errichten. Dort, wo Überleben wie eine Seifenblase der einzige Regenbogen im düstersten Grau der Hoffnungslosigkeit schwach schimmert. Wie soll man Hoffnung am hoffnungslosesten Ort der Welt in Worte fassen? Die Antwort liefert eindrucksvoll Andreas Frediani. Schlicht, stringent und nicht verhandelbar schafft er Raum für einen Helden, der diese Rolle niemals für sich in Anspruch nehmen würde. Aber er weiß auch, dass er in seiner prädestinierten Position mehr bewirken kann als die meisten in Auschwitz. Dieses Bewusstsein lässt ihn sich selbst fast verleugnen.

O Du Schreckliche

Weihnachten kann manchmal ganz schön … stressig, hektisch und in bestimmten Fällen sogar … schrecklich werden. Wie zum Beispiel in Grittibach. In der kleinen Gemeinde steht man seit Jahren mit einem ernsthaften Wettstreit mit Müntschisberg: Wer hat den größten? Wer hat den schönsten? Äh, Weihnachtsbaum, natürlich. Und überhaupt versucht man sich in allem und überall zu übertreffen. Sei es nur um besser zu sein oder weil es schon immer so war. In Müntschisberg hat man dieses Jahr – unfreiwillig, überraschend und unverhofft – einen gewaltigen Vorteil. Und es schneit auch noch! Krimifans wissen mit diesen spärlichen Hinweisen sicherlich etwas anzufangen…

Seemann Kuddel Daddeldu – genau der … Joachim Ringelnatz’ grandiose Erfindung – hat’s nicht so mit der weihnachtstypischen Besinnlichkeit. Wenn er davon spricht, dass der Baum brennt, dann brennt der wirklich. Aber das lässt sich im Rausch durchaus ertragen.

Axel Hacke weiß so manch Untypisches (oder doch typisch Weihnachtliches?!) zu berichten. Der Thrill des Weihnachtsbaumkaufes (der Zeitpunkt ist entscheidend und für manches der einzige Berührungspunkt mit Wissenschaft) ruft in ihm Erinnerungen an Thomas Mann und Helmut Qualtinger hervor. Auch die hatten so ihre Problemchen mit deM Bäumchen. Mann sogar mit deN Bäumchen. Und Qualtinger … na ja, a Watschn tut’s auch.

Daniel Glattauer sieht die Weihnachtszeit ebenso pragmatisch. Wenn schon streiten, dann jetzt! Und vollem Umfang und ohne Gnade. Denn die kommt ohnehin und mit unumstößlicher Sicherheit.

Ein köstlicher Knabberspaß mit Spekulatius, Weihnachtsteemischung, stimmungsvollem Licht oder einfach nur am liebsten Leseort. Im Kanon der schauerlichen, untypischen, grausamen, besonderen Weihnachtsgeschichten nimmt „O du schreckliche“ einen Spitzenplatz ein. Von Martin Suter, Ludwig Thoma, T. C. Boyle bis zu Axel Hacke, Hans Fallada und John Updike wird der Weihnachtszeit nicht der unnachahmliche Charme genommen. Vielmehr wird ihr ein Hauch von ungewollter Unplanbarkeit hinzugefügt. Und für all diejenigen, denen so viel Ungemach im eigenen Leben so manchen Herzschmerz zufügen würde, bleibt die Gewissheit, dass das alles nur erfunden ist und zum Glück nur Anderen passiert ist.