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Madeira und Porto Santo

Madeira kann getrost als Traumziel erachtete werden. Die Insel ist auch der Einstieg ins Weltreisen. Weit weg von zuhause – Flugzeiten von fast fünf bis acht Stunden) – und doch nicht allzu fremd. Aber selbst bei längerem Nachdenken fallen Einem nicht viele Fakten zu Madeira ein. Der Name Madeira ist Vielen bekannt, und doch weiß man so wenig.

Ray Hartung versucht auf über 250 Seiten mit geballtem Wissen entgegenzuwirken, und schafft es scheinbar spielerisch. Die Insel auf eigene Faust zu erkunden, gehört zum Reisen wie das Salz in der Suppe. Und Madeira bietet sich förmlich an es selbst einmal zu versuchen individuell zu reisen: Berge und das Meer direkt davor, eine kulinarische Hochburg vor den Küsten Afrikas, Florareichtum, der hierzulande nur mit Eintrittsgeld zu erkunden ist und das Besondere leben hier in erwartungsvollem Einklang.

Vor über zweihundert Jahren entdeckten die Engländer die Insel als Zufluchtspunkt für die schönsten Tage im Jahr. Seither reisen jedes Jahr mehr Besucher auf die Insel des ewigen Frühlings. Nichts für All-Inclusivler! Hier ist der Reisende selbst gefordert. Und mit diesem Buch im Reisegepäck ist er auf alle Fälle auf der sicheren Seite, wenn es darum geht nichts zu verpassen.

Erster Anlaufpunkt für die meisten ist Funchal, die Hauptstadt Madeiras. Hier pulsiert das Leben, hier stellt sich Madeira vor. Modern und traditionsbewusst zugleich kommt der Gast in die richtige Stimmung, probiert Espetada de carne oder Espada com banana. So frisch gestärkt (mit Ochsenfleisch und schwarzem Degenfisch) kann man nun die Insel erforschen. Die beiliegende Karte und die abgedruckten Pläne oder die gratis zum Download GPS-Daten machen es einem einfach sich zurechtzufinden: Bis auf die höchsten Gipfel, vorbei an den beeindruckendsten Tälern, mit den schönsten Aussichtspunkten der Insel und mit unvergesslichen Ausblicken auf den unendlichen Ozean. Apropos Meerblick: Seit ein paar Jahren kann man vom Cabo Girão von einem so genannten Skywalk über die fast sechshundert Meter hohe Klippe in den bedrohlichen und faszinierenden Abgrund schauen.

Auch die kleine Schwesterinsel Porto Santo hat ihre Reize. Hier geht es im Allgemeinen etwas gemächlicher zu. Man ist hier unter sich. Die Insel ist bedeutend kleiner als Madeira, doch nicht weniger attraktiv. Tagesausflüglern werden die Rundfahrten empfohlen, wer länger bleibt kann sich mit Bergtouren und Tauchgängen und allem, was dazwischen liegt die Zeit mehr als gehaltvoll vertreiben.

Madeira ist eine feststehende Größe im Reiseplan eines jeden Reisenden. Und mit diesem Reisebuch ist man bestens ausgestattet. Die klare Gliederung, die ausgeklügelten Ausflugs- und Einkehrtipps, die detaillierten Erkundungstouren, die zahlreichen Karten und der kleine Sprachführer am Ende des Buches lassen den Madeira-Aufenthalt noch lange in Erinnerung behalten.

Für mich soll’s rote Rosen regnen

Wenn man sich durch die TV-Landschaft zappt und den Promis beim gezwungenen Zum-Deppen-Machen zuschaut, beschleicht einem ein beklommenes Gefühl, wenn später von Stars die Rede ist. Das sind keine Stars!, die sich da gegenseitig ihre nicht vorhandenen Deutschkenntnisse und Umgangsformen an den Kopf knallen. Würde Hildegard Knef sich heute in einem geriatrischen Promi-Format so zur Schau stellen?! Nein, sie hätte es auch als Spiegel-Covergirl niemals getan. Auch nicht nachdem ihr im Life-Magazin vier Seiten gewidmet wurden. Und als ihr Nippelgate Deutschlands Moralhüter erzürnte schon gleich gar nicht. Sie wusste, was sie kann. Sie brauchte keine gekünstelte Publicity.

Kurz nach Weihnachten dieses Jahres (2025) würde sie ihren Hundertsten feiern können. Sie – der erste große Star des daniederliegenden Deutschlands, das so viel Schuld auf sich geladen hatte. „Die Mörder sind unter uns“ war nicht einfach nur ein Kassenschlager – es war eine Abrechnung. Auch von Regisseur Wolfgang Staudte, der schon in braunen Zeiten sich ausmalte wie es denn sein wird, wenn er nach der Dunkelheit den Widersachern noch einmal begegnen wird. Und mittendrin die Knef. Damals noch ohne Artikel. Aber schon mit der Absicht Karriere zu machen. Durchbeißen konnte sie sich. Musste sie auch. Als die Mutter wieder zurück in Hildegards Geburtstadt Ulm ging und Hildegard nicht mit wollte. Berlin – das war ihr Ziel … vorerst. Doch schon im Januar 1948, bei der Premiere von „Film ohne Titel“, den die Knef so sehr liebte, war damit Schluss. Sie fehlte bei der Premiere – entschuldigt. Der Flieger nach Amerika hob nicht ohne sie ab.

Broadway und die große Leinwand waren alsbald ihre Bretter, die die Welt bedeuten. Der Weg nach Oben schien endlos. Vergessen die Kinderkrankheiten, die ihr Leben bis dato erschwerten. Und singen konnte sie auch noch. Was will man mehr?! Gesundheit, würde sie wohl heute sagen. Das Leben der Knef war ein dauerndes Auf und Ab. Ging es bergab, dann bis zum Tiefpunkt. Ging es bergauf, dann bis auf die höchsten Spitzen.

Und heute? Es gibt eine ganze Generation, die noch nie von Hildegard Knef gehört hat. Eine Generation, die gänzlich ohne echte Stars aufwachsen muss. Nur Pseudo-In-Die-Kamera-Rülpser, deren Worte niemals aufgeschrieben werden sollten. Ach wat wär det schön, wenn die Knef ihren Senf dazu abgeben könnte! Alle spitzzüngigen Giftspritzen würden eingeschüchtert in ihr Nest zurückkehren und ihre Berufswahl noch einmal überdenken. Für die, die mit der Schmach der Unkenntnis über die Knef nicht leben können, ist Christian Schröders Buch ein Erweckungserlebnis. Und führt wohl auch dazu das eigene Anspruchsdenken, was einen Star ausmacht, zu überdenken. Kunst ohne die Knef ist in Deutschland undenkbar. Man muss es suchen, doch man wird fündig. In Theatern, auf großen und kleinen Bühnen, in Nischen, auf der Straße, in Dokus, in Mediatheken. Man muss sich nur trauen. Hildegard Knef wird niemals so ganz gehen – gut so!

Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann

Der Name eignet sich erstaugenblicklich wohl nicht zum Star-Tum. Heinrich war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein mehr als gebräuchlicher Name. Und Hoffmanns (mit all ihren Schreibvarianten) gab es auch wie Sand am Meer. Aber ist Heinrich Hoffmann deswegen einer unter vielen? Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich kennen ihn mehr Leute als er selbst vermuten würde … würde heute noch leben. Sein Werk ist millionenfach gesehen worden. Seine Fertigkeit, sein Ehrgeiz, seine Attitüde waren sein Kapital.

Heinrich Hoffmann war Hitlers Fotograf. Niemand kam ihm so nah wie er. Wo immer der Schnauzbart auftrat – Hoffmann war nicht weit. Immer die Kamera im Anschlag. Nur die Kamera. Doch war Hoffman wirklich nur der Fotograf, dessen Werk geschickt als Propaganda benutzt wurde? Mitnichten. Er profitierte selbst am meisten von seiner Arbeit.

Schon früh war Hoffmann von den Ideen der Nationalsozialisten angetan. Nicht nur aus unternehmerischem Kalkül, sondern aus tief verwurzelter Überzeugung. Er war kein Nachsprecher, der bereitwillig Propaganda verbreitete. Er musste nicht agitierte werden. Er war Nazi. Einer der ersten Stunde. Und er war ehrgeizig.

Als enger Vertrauter – und das war er zweifelsfrei – genoss der Privilegien wie kaum ein anderer. Das füllte nicht nur sein Herz, sondern vor allem auch seinen Geldbeutel. Der kleine Fotograf stieg schnell zum erfolgreichen Verleger auf. Sein Bilder, seine Rechte, seine Konten. Sein Aufstieg war steiler als so mancher rechter Arm in der dunkelsten Zeit Deutschlands, Europas und der Welt. Er war ein echter Influencer.

Sebastian Peters hat unzählige Stunde damit zugebracht Archive zu durchstöbern, Bildmaterial zu sichten, Schriften zu analysieren. Auf über sechshundert Seiten entstand so die erste umfangreiche Biographie einer der einflussreichsten und mehr oder weniger unbekannten Persönlichkeiten des Dritten Reiches.

Bis heute prägen Hoffmanns Bilder unser Bild von Nazideutschland. Ein Perspektivwechsel ist durch dieses Buch erstmalig möglich. Jede Einstellung, alles, was gezeigt wird und vor allem, was nicht gezeigt wird, war und ist Inszenierung von Hoffmanns Hand und Auge. Dessen muss man sich stets bewusst sein. Schnappschüsse gab es nicht. Und wenn doch, dann kann man es fast schon nicht mehr glauben. Aufarbeitung ist Schwerstarbeit. Und wenn heute Diktatoren medial auftauchen, stellt man sich immer wieder die Frage: „Soll das so sein?“. Es ist ein Anfang sich den Anfängen in den Weg zu stellen. Sebastian Peters’ Buch über Heinrich Hoffmann ist mehr als nur eine Biographie, es ist ein Wegweiser Propaganda die Masken herunterzureißen und die Dürftigkeit des Banalen bloßzustellen.

Das Alibi

Namenlos, erfolglos, gefühllos – ganz schön was los in Barcelona. Der aus Mexiko stammende anfangs noch namenlose (!) Erzähler erzählt von seiner Frau, der Brasilianerin, ebenfalls namenlos. Und dem Halbwüchsigen und dem Mädchen. Ebenfalls namen… was sonst. Eine Unvernunftehe ist es. Um hier bleiben zu können, nach dem Studium. Dass er Schriftsteller ist, verheimlicht er allzu gern. Zu groß die Angst vor der Blamage.

Schreibkurse gibt er allerdings sehr gern. Wenn denn jemand kommt, um sich inspirieren zu lassen. Ein Ecuadorianer kreuzt seinen Weg. Eine bretonische Friseurin verliert einen Finger – sie ist also quasi fingerlos. Und wie zaubert man daraus nun ein Alibi?

Die Antwort erliest man sich als Leser am besten selbst. Jedwede Erwartung, jede Leseerfahrung muss man dabei aber außen vorlassen. Denn Juan Pablo Villalobos gelingt mit scheinbaren Unnötigkeiten eine Szenerie zu kreieren, die an Eigenwilligkeit nicht zu überbieten ist. Seitenlang ergießt er sich in scheinbar belanglosen Gesprächen, die erst am Ende des – letztendlich doch viel zu kurzen – Buches ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Jeder noch bedeutungslose Satz, der bisher das Hirn des Lesers verwirrte, lugt mit einem verschmitzten Lächeln um die Ecke als wolle kundtun: „habe ich es Dir nicht gesagt?!“.

Es ist eine Kunst als Belanglosen (scheinbar) Bedeutungsvolles (in echt!) zu Papier zu bringen. Und erst ganz kurz vorm Schluss wird klar, der der sonderliche Schreiberling ist. Unbekannt ist er nun wirklich nicht. Warum die Handelnden ihr Los der Namenlosigkeit so duldsam ertragen, wird schnell klar: Sie wollen einfach nicht im neuen Buch des Autors erscheinen. Die Kids sind eh nicht erpicht darauf in den Zeilen aufzutauchen. Was, wenn sie jemand erkennt? Wie peinlich! Sie werden ihr blaues – in diesem Fall ihr ROTES – Wunder erleben. Und alle leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage?

Nun ja, ein Märchen ist „Das Alibi“ nicht. Aber mindestens genauso nachhaltig.

Der Mann hinter der Bombe

Das muss schon ein besonderer Anblick gewesen sein, damals vor etwas über hundert Jahren, im Berliner Tiergarten: Da schlendert ein älterer Herr mit wirrem Haar und wachem Blick neben einem offensichtlich Jüngeren, der nicht minder offensichtlich älter wirkt. Sie diskutieren. Sie sind sich in ihren Gedanken ähnlicher wie kaum ein anderes Wissenschaftlerpaar. Der eine ist Professor, Einstein, der Andere hat sich in die Physik-Diskussionen reingemogelt. Leó Szilárd, ungarisch-stämmiger Student des Ingenieur-Wesens, der sich in seinem Fach langweilt und bei den Physik-Kolloquien aufblüht.

Der Gigant Atom eint den Physik-Giganten Einstein und den noch attributfreien Szilárd. Sie wissen, dass das Atom, die Kettenreaktion, die Zukunft bedeuten wird. Doch wie diese aussieht, was noch nachkommen kann, ahnen sie nicht einmal ansatzweise. Noch nicht! Szilárd versucht sich erstmal an einem Friseurstuhl, der mit elektrischen Ladungen die Haare zu berge stehen lässt, was das Haareschneiden vereinfachen soll. Ob Einstein Pate stand, ist nicht überliefert. Jedoch die Tatsache, dass die Idee nicht umgesetzt wurde. Erfolgversprechender scheint da die Entwicklung eines Kühlsystems für Kühlschränke, aus dem keine giftigen Substanzen mehr austreten können. Wenn doch alle Neuerungen so einfach nutzbar für die Menschheit wären…

Die Brillianz des jungen Szilárd fällt Einstein sofort auf. Er gibt ihm Ratschläge wie er es als Physiker zu etwas bringen kann, vermittelt den Doktorvater. Doch nach den aufregenden Jahren in Berlin – wer als Wissenschaftler etwas auf sich hält, forscht hier – folgen die dunklen Jahre. Einstein flieht in die USA, Szilárd zuerst nach London. In Deutschland forscht man weiter an der Atombombe. Was, wenn es den Nazis gelänge die Bombe zu bauen? Die USA müssen die Bombe zu erst in den Händen haben. Als Abschreckung, um den Krieg zu beenden. Doch als der Krieg in Europa zu Ende ist, im Pazifik noch gekämpft wird, erkennen viele der am Bau beteiligten, dass sie an einem Werkzeug mitgeforscht haben, das niemals in den richtigen Händen sein kann. Als die Wüste in New Mexico bebt, ist der reale Irrsinn wahr geworden. Nun gibt es eine Kraft, die das Böse schaffen kann. Wo einst Formeln zwischen den Synapsen funkten, wo Theorien in die Praxis umgesetzt wurden, herrscht nun der Gedanke der Humanität. Wie kann man das alles stoppen? Schlimmeres verhindern? Szilárd, der die Bombe immer befürwortete, erkennt, dass er handeln muss. Wie so viele wird er zum lautstarken Gegner der Bombe – Hiroshima und Nagasaki kann er nicht verhindern…

Dank Blockbuster wie „Oppenheimer“ oder Comedyserien (in „The Big Bang Theory“ hörten viele zum ersten Mal den Namen Richard Feynman) sind viele Mitglieder des Manhattan-Projektes, dem Programm, in dem die klügsten Köpfe der Physik ihr Wissen in die Entwicklung der Atombombe steckten, wohl bekannt. Doch Leó Szilárd gehört nicht zu den Top-Models dieser Clique. Dank Arne Molfenter tritt ein Mann ins Rampenlicht, der dieses mindestens genauso verdient. Ein spannendes Sachbuch, dessen Aussage noch immer aktuell ist. Und wahrscheinlich wichtiger denn je!

Ligurien

Berge oder Meer? Diese Frage stellt sich hier, in Ligurien, nicht! Beides. Am besten gleich nebeneinander. Küstenstraßen, die dem Beifahrer ein Ah! oder an mancher Stelle ein oooohh! entlocken werden – das ist Ligurien. Doch das ist noch lange nicht alles. Idyllische Bergdörfer mit Eckhäusern, deren Kanten regelmäßig von Bussen geschrammt werden. Das Festival in San Remo, das immer noch Stars hervorbringt. Die Metropole Genua, die mit ihrer einzigartigen Architektur aufwartet. Strände, die dafür gemacht zu sein scheinen, um Wasser und Meer miteinander zu verbinden. Auch das ist Ligurien – und auch das ist noch lange nicht alles.

Sabine Becht und Sven Talaron kennen die vielleicht nicht zwingend versteckten, dennoch fast unbekannten Schätzchen der Region. Einfach mal nach Borgio Verezzi suchen, im Buch ist das Seite Eins-Eins-Null. Zweitausendeinhundert Einwohner, ein Info-Büro, und etwas mehr als eine Seite im Reiseband. Da liest man dann von hinkenden Ziegen, verstummender Hektik und einer Tropfsteinhöhle – macht schon beim Lesen Appetit.

Und so geht das weiter auf den fast vierhundert Seiten dieses Reisebandes. Die Landschaft erstrahlt vor dem Auge des Lesers. Unruhig blättert man sich durch Schluchten der Palmenriviera (ja, die Blumenriviera ist nicht die einzige Riviera, kraxelt auf Hänge der Cinque terre, bereist Städte deren Namen wie Donnerhall das Herz höher schlagen lassen. Und zwischendrin immer wieder kleine Haltepunkte. Gelbe Infokästen, die selbst Einheimische ein Staunen ins Gesicht zaubern wird.

Die ausgeklügelten Touren sind gespickt mit Augenschmaus und lukullisch ist Ligurien eine Offenbarung. Das pesto genovese ist da nur die Spitze des Genusses.

Ligurien ist ein bisschen wie die Rolling Stones. Schon immer da und immer wieder überraschend überraschend. Alles schon mal gesehen und doch reizt es den Reisenden immer tiefer einzutauchen. Hier erfindet sic die Geschichte immer wieder neu. Schritt für Schritt taucht man in eine Region ein, die ihre Reize offen zeigt. Man muss nur wissen, wo man ausgetretene Pfade verlassen sollte, um noch wirklich Neues zu entdecken. Das erfahrene Autorenteam Becht/Talaron ist für diese Art des Reisens der ideale Wegweiser im wahrsten Sinne des Wortes. Doch Vorsicht: Vor lauter Wissbegier auch mal den Blick aus dem Buch in die Ferne und das Naheliegende richten!

Mathilda

Der 9. November ist besonders für Deutsche ein besonderer Tag des Gedenkens. Zum Einen ist es der Tag des Mauerfalls, zum Anderen aber auch der Tag, an dem offener und für jedermann legitimierter Judenhass straffrei war, zum Glück für eine begrenzte Zeit. Im Jahr 1819 beginnt eine Frau ihr Tagebuch zu schreiben. Das tut man in heutiger Zeit, um sich selbst auszudrücken – so wie es ursprünglich mal angedacht war. Oder man tut es, weil es hip ist oder weil man einer Tradition folgen will, selbst eine Tradition ins Leben rufen will. Wie auch immer: Dieses Tagebuch ist in tiefes Schwarz getaucht. Denn es ist das Tagebuch von Mathilda. Nicht die, die schon als Kind lernen muss ihre übermenschlichen Fähigkeiten zu kanalisieren – wie im gleichnamigen Film. Auch nicht die junge Mathilda, die den Tod an ihren Eltern rächen will und dafür die Dienste des Profikillers Leon in Anspruch nimmt – ebenfalls wie im Film.

Nein, sie ist die Frucht einer unzerstörbaren Liebe. Einst waren ihre bildschöne, gebildete, empathische Mutter und ihr Vater füreinander bestimmt. Sandkastenliebe mit der Aussicht auf ewiges Glück. So war das damals im England des ausgehenden 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Doch schon kurz nach der Geburt der Tochter verstarb die Mutter. Und der Vater war ein gebrochener Mann. Er konnte die Anwesenheit von Mathilda nicht ertragen. Und verschwand. Einfach so. Nach Deutschland, nahm einen anderen Namen an. Mathilda wuchs derweil bei der Tante auf. Liebe und Zuneigung waren fromme Wünsche, nicht mehr und nicht weniger. Als dann auch die Tante im Sterben liegt, schient Licht ins dunkle Leben des Teenagers zu kommen. Der Vater will sie wieder sehen, will sie kennenlernen. Er erklärt sogar, dass es für nichts Sehnlicheres auf der Welt gibt als sich voll umfänglich um sie zu kümmern. Ein Wendepunkt? So wie der Mauerfall am 9. November 1989? Zuerst schon, doch dann wird es doch eher ein Wendepunkt wie der in der Nacht des 9. November 1938.

Mathilda ist voller Hoffnung, nicht aufgekratzt, doch innerlich lodert die Euphorie wie niemals etwas zuvor in ihr. Der Funke erlischt relativ schnell. Vater ist depressiv, zerstörerisch in fast jeder Hinsicht. Sich selbst zu vernichten scheint sein Elixier zu sein. Andere mit zu reißen geht für ihn damit Hand in Hand.

Das bisherige dunkle Leben, das gerade erst mit Licht gefüllt wurde, scheint im ewigen Dunkel der geistigen Nacht zu verenden…

Mary Shelley ist für die meisten die Autorin des wohl bekanntesten One-Hit-Wonders der Literatur, „Frankenstein“ – das geht soweit, dass einige denken, dass der Vorname des Monster „Mary Shelleys“ ist. „Mathilda“ ist das Folgewerk. Und hier beweist sie allen Kritikern, dass „Frankenstein“ keineswegs ein One-Hit-Wonder war. So düster die Geschichte auch sein mag. So klar und präzise zeichnet sie den Niedergang eines Menschen, dem alles genommen wurde, das man mit Geld nicht kaufen kann. Grandios, faszinierend, um immer wieder, immer noch mehr als lesenswert.

Vom Glück des Umziehens

Da steht man in Paris vor dem Palais Royal, Rue de Beaujolais 9. Ein imposantes Gebäude. Und? Fertig! Ein weiterer Punkt auf der Liste der zu besichtigenden Dinge abgehakt. Kann man machen, muss man aber nicht. Wer da wohl drin wohnt? Wer da wohl mal drin gewohnt hat? Was war da los? Ging hier die Post ab oder fand einer der Bewohner hier sogar seinen Frieden – und das in mehrfacher Hinsicht? Dann zückt man dieses kleine rosa Büchlein. Und blättert noch einmal darin. Ah, hier hat Colette gewohnt, die letzten sechzehn Jahre ihres Lebens verbracht. Hier schrieb sie mit einer eigens für sie angefertigten Schreibunterlage. Sie war am Ende ihres Lebens ans Bett gefesselt. Nur körperlich. Und dann liest man, dass dies hier ihre letzte Wohnung ihres rastlosen Pariser Lebens war. Station Elf.

Ihre erste Wohnung in Paris war vom Sommer 1893 bis zum Herbst 1896 in der Rue Jacob 28. Auf geht’s zur ersten Adresse. Mit dem Auto dauert es 16 min, zu Fuß nur unbedeutend länger. Und dann steht man in einer engen Straße, in der parkende Autos jedes Weiterkommen verhindern. Links und rechts Geschäfte. Man schaut nach oben … diesen Ausblick hat Colette nicht gehabt. Ist ja auch mehr als hundert Jahre her seitdem die berühmte Autorin hier lebte. Aber man versteht warum sie hier leben wollte. Mitten im Leben. Ein wenig Grün fehlt. Das hat Colette – vielleicht nicht hier, doch an anderer Stelle immer selbst in die Hand genommen. Balkone und Hauseingänge waren vor ihrem Gründrang nicht sicher.

Der Anhang dieses Büchleins ist für reisende Leser wie lesende Reisende eine Fundgrube. Manche Adresse sieht heute komplett anders aus – die ursprünglichen Häuser gibt es nicht mehr. Als ausgemachter Colette-Fan wird dieser Tag in Paris unvergessen bleiben.

Elf Wohnungen in der Stadt der Liebe. Elf Tapetenwechsel. Und wenn es mal nicht für den Umzug reichte, dann wurden Möbel gerückt. Umzug Null Punkt Fünf. Die kleinen Geschichten in den vier oder mehr Wänden – je erfolgreicher sie wurde desto größer die Appartements, die Anzahl der Räume und somit auch die der Wände – füllen jede Sehnsucht nach Paris mit noch mehr Sehnsucht. Durch die Detailgetreue sind ihre Stationen auch heute noch nachvollziehbar. Wer jedoch erwartet im Quartier des Ternes, dass sich an den Arc de Triomphe anschließt, Austern für neun Sous zu bekommen, wird herb enttäuscht werden. Und das nicht nur, weil es den Sous nicht mehr gibt…

Die Geschichten vom Zwang Neues zu erleben, sich von Liebgewonnen zu trennen, sich immer wieder ins Abenteuer zu stürzen, sind bis heute ein Leseschmaus. Wohl auch deswegen lesen sie sich bis heute (fast hundert Jahr später) immer noch flüssig und nachvollziehbar. Nicht nur für Paris- und Collete-Fans.

Lago Maggiore

Italien darf sich rühmen eine eigene Art des Reisens entwickelt zu haben: Italienreisen. Obwohl es vorrangig die Engländer waren, die diesen Begriff mehr oder weniger bewusst geprägt haben. Sie kamen, staunten und machten Italienreisen zu einem Must-Have. Geballte Architektur-Ensemble, grandiose Ausblicke, fantastische Küche – und wo geht das wohl am besten? Überall! Aber wo geht es noch ein bisschen besterer? Am Lago. Klar, am Lago ist es immer am schönsten. Und an welchem Lago am schönstesten? Am Lago Maggoire!

Ja, es ist eine Binsenweisheit mit orthographischen Ungereimtheiten. Aber wer einmal am Lago Maggiore tief eingeatmet hat, den Blick schweifen ließ, der weiß, was damit gemeint ist. Für alle anderen gibt’s dieses Buch als Appetitmacher.

Zum Beispiel Stresa – beginnen wir am Anfang, denn hierher kamen die Engländer zuerst. Sie sahen die Borromäischen Inseln. Sie blickten über den See, sahen die Berge, genossen die Sonnenstrahlen. Und errichteten Paläste, die heute als Hotels den Glanz der guten alten Zeit zum Besten geben. Heruntergezogene Mundwinkel sucht man hier vergebens. Alles ein bisschen edler, ein bisschen feiner, reiner und erlebnisreicher.

Eberhard Fohrer und Marcus X. Schmid gehen auf Entdeckungsreise rund um einen der beeindruckendsten Seen Oberitaliens. Vom Schweizer Nordufer – Locarno und Ascona verheißen noblesse und Verwöhnprogramm erster Klasse – bis in den Süden, vorbei am benannten Stresa und den idyllischen Borromäischen Inseln. Doch es gibt noch mehr zu sehen. So viel, dass man erstaunt ist, dass alles, wirklich alles(!), auf reichlich dreihundertfünfzig Seiten Platz findet.

Egal ob man nun das Nordufer bevorzugt, dem Süden noch ein Stück näher kommen will, oder Links und Rechts des Sees auf Erkundungstour geht, es kommt immer darauf an, wo man die ausgetretenen Pfade verlässt. Denn eines steht fest: Allein ist man hier nur selten! Besonders im Sommer. Umso wichtiger ist es, dass man sich auf ein geschultes Auge und unkomplizierte Wissensvermittlung verlassen kann. Die beiden Autoren kann man getrost als alte Maggiore-Hasen bezeichnen. So manche Ecke, so mancher versteckte Schatz wurde durch sie gehoben und dem Publikum zur Begutachtung dargeboten. Wer’s nicht gelesen hat, der läuft eben da lang, wo die Anderen auch langlaufen. Wer außergewöhnliche Orte braucht, um sich erholen zu können, dem steht eine dreihundertachtundsechzigseitige Entdeckungsreise bevor, die erst so richtig beginnt, wenn die letzte Seite, der letzte Abschnitt, der letzte farbig abgesetzte Infokasten, die letzte Info, die letzte Karte gelesen sind. Doppelt reisen – erst lesend, dann per pedes oder mobil. Auf alle Fälle wird es nicht langweilig!

 

Die Zeit der Fliegen

Mehr als fünfzehn Jahre ist es her, dass Inés verdächtige Nachrichten bei ihrem Gatten fand. Ernesto hat sie seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Denn ihr Rachfeldzug hatte Folgen für sie. Nun ist sie wieder in Freiheit. Die Sonne scheint nun wieder klarer für sie. Im Gefängnis hat sie sich bedeckt gehalten. Hat sich an Regeln gehalten – Regeln, die nun nicht mehr für sie gelten. Das Haus ist verkauft. Das Gewinn, was Erlös noch übrig bliebe, reicht ihr, um ein Geschäft aufzubauen. Insektenbekämpfung. Ökologisch unbedenklich. Und nur für das Ungeziefer das Finale des parasitäre Lebens.

Ihre Geschäftspartnerin ist Manca. Sie teilten sich eine Zeitlang die Zelle. Unzertrennlich waren sie von Justizias Gnaden. Unzertrennlich sind sie nun freiwillig. Manca hatte mit Drogen gehandelt.

Susana Bonar ist die vorletzte Kundin für Inés an diesem Tag. Sie kennt sie kaum, die Bonar umso besser. Inés ist erstaunt als sie zum Plausch in dem vornehmen Anwesen gebeten wird. Wein und Wasser … und eine ungeheuerliche Überraschung warten schon auf sie als sie die Terrasse betritt. Die Bonar kennt sie. Weiß wer sie ist, wie sie heißt … was sie getan hat. Damals, vor mehr als fünfzehn Jahren. Und sie hat auch gleich Verwendung für die Frau, die die Nebenbuhlerin aus dem Weg schaffte und dafür anderthalb Jahrzehnte einsaß. Denn auch Susana Bonar verdächtigt ihren Gatten eine Affäre zu haben. Und die stört oder besser: Muss aus dem Weg geschafft werden. Ein Bündel Dollar, ein dickes Bündel soll Inés überzeugen noch einmal ihre Fähigkeiten einzusetzen. Doch Inés zögert. Da ist ihre Tochter, die ihr Leben allen Widrigkeiten zum Trotz gut meistert. Ihre Tochter, die sie eigentlich nicht kennt. Die aber glücklich ist.

Manca ist Feuer und Flamme ob der Aussicht auf finanzielle Erlösung. Sie würde den Job sofort übernehmen. Doch die Expertin ist aber Inés. Doch die hat ein Gewissen. Was tun?

Claudia Piñeiro hat die Figur der Inés schon vor über zwanzig Jahren erfunden. Hin und Her gerissen folgte man damals schon Inés auf ihren Weg durch die Straßen auf der Suche nach Erlösung. Die Verurteilung war rechtens, aber Gerechtigkeit sieht anders aus – Inés’ Schicksal bewegte. Nun der Weg zurück ins Leben. Ein Jahre gönnt ihr die Autorin Ruhe bis die Vergangenheit wieder die Kontrolle über Inés’ Leben gewinnen will. Doch Inés ist älter geworden, reifer, schlauer, gewiefter. Ein Segen für alle, die schon einmal mit ihr gelitten haben. Ganz die Eine, die dem Leser nie mehr aus dem Sinn gehen wird!