Kumari

Als Sehnsuchtsort bietet Nepal vielen Individualisten eine ideale Projektionsfläche. Es ist das einzige Land mit einer nicht viereckigen Flagge, liegt verdammt weit oben … da hören bei den meisten die Vorkenntnisse schon auf. Selbst in den Nachrichten von vor zwanzig Jahren taucht das Land kaum bis gar nicht auf. Da muss man schon ein bisschen weiter zurückschauen. Der Juni 2001 war der Beginn eines enormen Umsturzes. Das Königshaus wurde fast komplett ausgelöscht, was dazuführte, dass sieben Jahre später die Monarchie abgeschafft wurde und die maoistische Regierung das Land regiert. So viel zu den Fakten. Und genau in diesem Juni des Jahres 2001 spielt „Kumari“ von Philip Krömer.
Kumari sind Kindgöttinnen. Im Alter von zwei bis vier Jahren werden sie erwählt. Horoskope werden herangezogen, körperliche Merkmale untersucht. Die Herrschaft der Kumari endet mit Einsetzen der Menstruation.
Das größte religiöse Fest des Landes – Dasain – steht an. Seit Tagen laufen die Vorbereitungen. Amita ist eine der aktuellen Kindgöttinnen, Kumari. Seit Jahren, seit ihrer Geburt, umgibt sie absolute Stille. Reden darf sie nur mit ihrer Familie. Die Bittesteller, um Segen Bittende, küssen bei der Audienz ihre rot bemalten Füße. Die Stille ist spürbar, fast hörbar. Kein Wort, kein Laut ist zu vernehmen. Das Fest wird der Höhepunkt des Jahres sein. Aber es ist auch die Ruhe vor dem Sturm. Denn im Volk rumort es.
Und damit sind wir wieder bei den harten Fakten: Kronprinz Dipendra ist Gast beim königlichen Familienfest. Er verlässt kurz den Raum, als er wiederkommt, trägt er Uniform, zieht eine Waffe und erschießt unter anderem König Birendra sowie Königin Aishwarya. Weitere Angehörige des Königshauses, Verwandte des Attentäters werden schwer verletzt. Zum Schluss will auch er seinem Leben ein Ende setzen. Das misslingt. Er wird sogar zum König ernannt. Für drei Tage. Dann stirbt auch er. Das kann man nachlesen. Die Hintergründe sind unklar. Wahrscheinlich führte die Ablehnung der Heirat mit einem Mitglied einer verfeindeten Familie zu der schrecklichen Tat.
Kumari Amita lernt die Rebellin Rupa Rana kennen – by the way, Raan ist der Name der verfehmten Familie, die sich mit dem aktuellen Königshaus vereinen will. Gleichzeitig bemerkt Amita aber auch Veränderungen, die ihren Status als Kumari … bestärken? … verändern? … auf alle Fälle beeinflussen werden. Poesie trifft Abenteuer, historische Fakten vermischen sich mit progressiven Gedanken, hier wird das Genre historischer Roman (auch wenn die Historie nicht allzu weit zurückliegt) auf eine neue Ebene gehoben.
Wer nun meint sich über die vermeintlich rückständigen Rituale mokieren zu müssen, liegt falsch. Es ist mehr als nur Tradition und religiöser Habitus. Die Kumari sind fester Bestandteil der Kultur, sie bieten Halt und Zuflucht. Und wer sich in Europa die aktuellen Veränderungen anschaut, wird auf eine Vielzahl von reaktionären – rückschrittlichen – Tendenzen stoßen. Philip Krömer bietet einen weitreichenden Blick durchs Schlüsselloch in eine Kultur, die geographisch weit weg liegt von dem, was uns tagtäglich umgibt. Sein Wissen darum und die seltene Gabe mit Worten Gedankenreiche zu schaffen, sind Gold wert. Gefühlvoll, detailliert und nachhallend lockt er den Leser in ein Land, das man in dieser Form nicht kannte. Jetzt kennt man es, nicht vollständig, aber um einiges besser als zuvor.