Nach Gefühl

Es ist jedes Jahr ein Riesenspektakel. Die erste große Rundreise auf dem Drahtesel durch ein Land. Der Anfang macht traditionsgemäß Italien. Als Radsportfan ist man seit Jahren immer wieder der Gefahr ausgesetzt aufs falsche Pferd zu setzen. Und so genießen viele neben dem eigentlichen Sport wahrscheinlich auch die Ansichten des womöglich nächsten Urlaubsziels.

Zwischen all den Steigungen und Abfahrten, den wilden Sprints und auch den erschreckenden Stürzen drängen immer wieder Fahrer in den Fokus, deren Namen man so schnell nicht vergessen wird. Und das nicht, weil sie Naschkatzen mit einer Vorliebe für nicht natürliche Substanzen sind!

Tom Dumoulin gehört sicher in diese Riege. Er war nicht der alle überstrahlende Radsportler, der mit einem Antritt ganze Ausreißergruppen in die Verzweiflung trieb. Er war bei Rennen stets präsent. Zuerst als Wasserträger, also einer, der zuallererst seinem Teamkapitän, dann den aussichtsreichsten Fahrern zur Seite stand. Man nannte ihn den Schmetterling, vlinder van Maastricht. Den Spitznamen mochte er nie. Mit gerade mal 32 Jahren hängte er den Fahrradhelm an den Nagel. Ein Sturz, bei dem er sich das Handgelenk brach und nicht an den Weltmeisterschaften teilnehmen konnte, war ausschlaggebend. An dieser Stelle könnte man jetzt mit Zahlen jonglieren: WM-Titel, Triumphe bei den großen Rundfahrten etc. Doch damit würde man ihm nicht gerecht werden.

Zusammen mit dem Journalisten Nando Boers spürt er im Nachgang noch einmal das Gefühl auf Radsportler zu sein. Er reist noch einmal an Orte, die ihm etwas bedeuten. Orte, an denen er sich das Trikot des Besten der Gesamtwertung überstreifen konnte. Orte, an denen er nach Wochen der Entbehrung bejubeln lassen konnte, weil er dieses Trikot über die abschließende Ziellinie getragen hat. Aber auch Orte, an denen entscheidende Zäsuren stattfanden.

Es sind nicht zwigend die Orte mit den Ziellinien wie Andorra-Ancalis, wo er zum ersten Mal eine Bergetappe bei der Tour de France gewann. Und was für eine Etappe! Oft sind es Streckenmarkierungen, wo er sich absetzte, wo er sich gut fühlte, so das Rennen durch und für ihn entschieden wurde.

Monza, Oropa, Bormio – klar, dass der Niederländer eine besondere Beziehung zu Italien hat. 2017 war das Jahr, in dem er im maglia rosa als Gesamtsieger wieder nach Hause fahren konnte. Die Wochen danach bzw. seine Beschreibung dieser Zeit gehören zu den Highlights in diesem Buch. Weil sie dem siegorientierten Sportler eine menschlich nachvollziehbare Note verleihen. Grillen, chillen, willentlich dem Rad die kalte Schulter zeigen.

Aber auch die (inzwischen) differenzierte Sichtweise auf den Zirkus und den Hype dieses Sports regen zum Nachdenken an. Die Mischung aus journalistischer Chronistenpflicht und eigenen Empfindungen, die immer noch präsent sind – mit Mitte Dreißig sind sie erfahrungsgemäß noch sehr frisch – macht „Nach Gefühl“ zu einer mitreißenden Biographie, die zu begeistern weiß.