Suppe Seife Seelenheil

Wie viele Odysseen kann ein Mann ertragen? Der Erzähler, der es sich gemütlich macht, in dem er mit sich selbst, über sich selbst im Clinch liegt, wollte doch eigentlich nur … Ja, was eigentlich? Ach ja, nach Belgrad fahren. Zu Claudia. Die heiratet nämlich. Vor Jahrzehnten wohnten sie zusammen in einer WG, runtergekommen, schäbig, den Sozialismus im Kleinen erlebbar. Die Jahre vergingen. Die WG löste sich auf. Und dann die Einladung.

Gleich zu Beginn die erste Enttäuschung. Die Reisebegleitung, wegen der er extra von Genf aus fliegen wollte, erschien nicht. Kein Wort von ihr, weder eine Entschuldigung noch überhaupt eine Absage. Allein Im Hotel in Belgrad. In einer Stadt, in der niemand seine Sprache spricht, oder zumindest ein paar Brocken Englisch. Und dann der Filmriss.

Links und rechts je ein Polizist. Serbische Uniform. Die Hände auf dem Rücken verschränkt. Wie Holger Meins bei seiner Verhaftung oder Lee Harvey Oswald. Dabei lag er doch nur im Gebüsch. So steht es im Protokoll. Zum Glück hatte man schnell herausgefunden, dass er Schweizer ist. Ab in den Zug gen Heimat. So einfach wird dem Gestrandeten dann doch nicht gemacht.

Matto Kämpf – ein Name wie eine Aufforderung zum Duell – tobt sich richtig aus. Von Jesus bis hin zu Krokodilen, von biblischen Analogien bis hin zu trostlosen Landschaften türmen sich die Eindrücke von damals bis zu dem, was direkt vor den eigenen Augen passiert wie eine unüberwindbare Mauer vor dem Protagonisten auf. Was sich anfangs noch einen Roadtrip verheißen mag, wandelt sich schlagartig in einen Seelentrip, schlussendlich in einen Seelenstriptease erster Klasse. Zweifel und Verzweiflung verschmelzen zu einem Geschichtenhaufen, in dem der Leser zu ertrinken droht. Wortgewaltig und eindrucksstark stampft der Leser mit dem heillos Verlorenen Serbienbesucher über Stock und Stein – wortwörtlich und sinngemäß.

Was auf den ersten Blick wie die Unterzeile einer Docutainment-Serie bei RTL II, bei der sich Menschen nach Aufforderung des Autors zum Affen machen, anmutet, enthüllt schon auf der ersten Seite seinen vollen Glanz: Hier sprechen keine Marionetten, hier sprechen Hirn und Herz dieselbe Sprache. Dass das nicht immer zu dem gewünschten Ergebnis führt, weiß jeder, der schon einmal in Gedanken weiter war als er es sich erhoffte. Dieses Buch wärmt das Gemüt wie eine Suppe, reinigt Kopf und Körper wie eine duftende Seife und sorgt für klare Gedanken. „Wer Suppe Seife Seelenheil“ nicht liest, wird sich bald zu einer Minderheit zählen müssen.

Radetzkymarsch

Es gibt keinen Zweifel daran, dass dieser Klassiker nicht den Zweiflern anheim fallen wird, und den Weg in eine ungewisse Zukunft anzutreten hat. Wenn hier und da Klassiker, die jeden Jugendlichen schlussendlich zum Lesen antreibt, verteufelt werden, wird „Radetzkymarsch“ immer noch im kollektiven Gedankengut der Leserschar verwurzelt sein.

Das liegt zum Einen an der ungeheuren Wortvielfalt und ihrer eingängigen Anwendung. Zum Anderen eignet sich der Stoff immer noch dazu, um darzulegen, dass Ruhm und Ehre (und Zweifel und falsches Heldentum und und und) wie jede medaille zwei Seiten haben.

Joseph Roth gibt der Familie Trotta den ihr zustehenden Raum. Im Krieg fällt einem Trotta die Ehre zu ein Auge zu verlieren. Und da man sich im Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts um seine Versehrten kümmert, darf er als Parkwächter das Schloss Laxenburg betreuen. Sein Sohn Joseph rückt im Ansehen noch einen Schritt höher als er dem Kaiser das Leben rettet. Aufstieg inklusive. Hauptmann Joseph Trott von Sipolje. Doch das Leben hat anderes mit der Familie vor.

Denn sein Sohn, der Sohn des Helden, wird – und da ist sich sein Vater sicher – immer der Sohn des Helden bleiben. Back to the roots – würde man den heroischen Schritt des Vaters heutzutage nennen. Denn er verlässt das Militär, wird wie seien Vorfahren wieder Bauer. Franz Freiherr von Trotta und Sipolje, sein Sohn, durfte nach dem Willen des Vaters (Joseph) nicht zum Militär, steigt aber zum Bezirkshauptmann auf. Da hatte der Kaiser seine Finger im Spiel.

Die Monarchie geht den Bach runter. Und auch das Leben der Trottas – mittlerweile mit Adelstitel – kennt nur eine Richtung. Und die ist nicht gen Himmel gerichtet. Denn die letzte Generation, der Enkel des Helden, muss zum Militär. Er will aber nicht. Das zarte Herz des Enkels des Helden von Sipolje ertrinkt im Alkohol und hört im Kugelhagel des Weltkrieges – da wusste noch niemand, dass es bald schon einen Folgekrieg geben wird – auf zu schlagen. Fast zeitgleich mit der Monarchie des einstig ruhmreichen Österreichs…

Eigentlich doch genug Stoff, um Zweiflern, Lautschreiern und Ewiggestrigen ein Signal zu geben „Radetzkymarsch“ den Marsch zu blasen und in die ewigen Jagdgründe zu schicken.

ABER: Der Autor heißt Joseph Roth. Den verteufelt man nicht einfach mal so im Vorbeigehen! Feingefühl, Wortgewalt und analytisches Schreiben kennzeichnen dieses Buch, das seit neunzig Jahren nicht lange in den Regalen der Buchhändler steht. Wer sich in der verklärten Vergangenheit des ruhmreichen Kaiserreiches des Habsburger tummeln will, kommt hier genauso auf seine Kosten wie diejenigen, denen zweifelhafte Heldenverehrung ein Dorn im Auge ist. Die Familiensaga des Trottas kommt niemals aus der Mode, weil die Strukturen, die Aufstieg und Fall einer Familie bis heute existieren – Parallelen zu aktuellen Emporkömmlingen sind offen sichtbar. Allein der Wille zur Macht ist berechenbar. Genauso wie das Ende einer Dynastie.

Sachsen

Einen Reiseband über ein Bundesland zu schreiben, ist eine heikle Sache. Denn es gibt nicht das EINE, das TYPISCHE, das ein Bundesland attraktiv macht. Jedes Bundesland hat eine Vielzahl von Attraktionen, die es wert sind besucht zu werden. Und Sachsen kann sich rühmen die komplette Palette von Interessen bedienen zu können. Das klingt auf den ersten Blick sehr allgemein. Doch schon beim ersten Aufschlagen des Bandes treffen die zahlreichen Abbildungen ins Herz des Lesers.

Von der barocken Pracht der Landeshauptstadt Dresden, über landschaftliche Reizpunkte zwischen den drei großen Städten Leipzig, Dresden und Chemnitz bis hin zu idyllisch verankerten Aussichtspunkten in den Höhen der Gebirgszüge im Süden – alles da, alles erreichbar.

Das Bundesland Sachsen ist das Bundesland, das in den vergangenen drei Jahrzehnten die größte Veränderung zu verzeichnen hat. Wo einst gigantische Schaufelradbagger die Erde aufwühlten, um selbiger wichtige Energieträger zu entreißen, tummeln sich in den warmen Monaten heute Sonnenanbeter und Erholungssüchtige. Rund um Leipzig ist eine Seenlandschaft entstanden, die ihresgleichen sucht. Auch im Westen der heimlichen Hauptstadt Sachsens, wo noch in den Achtzigern die Schornsteine unentwegt dicke Rauchsäulen in den Himmel stießen, ist eine Wohnlandschaft gewachsen, mit der nur wenige Städte weltweit konkurrieren können. Und in ein paar Jahren kann man sogar mit dem Paddelboot bis ans Meer gelangen.

Burgen und Schlösser hatten schon immer eine besondere Anziehungskraft auf Menschen. Heutzutage sind sie ein beliebtes Ausflugsziel. Wer zwischen Leipzig und Dresden (oder von Leipzig aus gen Süden unterwegs ist) die Autobahn verlässt, kommt um die zahlreichen Hinweisschilder auf die historischen und weithin sichtbaren Hinterlassenschaften nicht herum. Massive Gemäuer, die jedem Ansturm standhielten – außer dem der Besucher – verspielte Erbauerträume bis hin zu Wehranlagen, die im Laufe der Jahre immer wieder einem neuen Zweck dienten.

Traditionelles Handwerk im Erzgebirge, Braukunst, Montanarchäologie, weltberühmte, einzigartige Museen (Grassimuseum in Leipzig, um dessen Völkerkundemuseum viele Ausstellungsmacher die Stadt beneiden und das Grüne Gewölbe im Dresdner Zwinger, um nur zwei besonders herauszuheben), die Geburtsstätte des Porzellans in Europa in Meißen, Sportstätten, die Geburtshelfer und Erinnerungsplätze in einem sind … die Liste der Sehenswürdigkeiten in Sachsen scheint endlos zu sein.

Kerstin Sucher und Bernd Wurlitzer gelingt mit diesem Buch der ganz große Wurf: Ein Land, ein Buch, eine Sehnsucht. Umfassend, detailreich und immer wieder überraschend. Selbst Sachsen werden „große Oochen machen“ (die Ausflüge ins nicht immer und überall beliebte Säggssch inklusive), wenn sie ihre Heimat noch einmal und immer wieder neu entdecken.

Hans Becker O5

Eine geradlinige Biographie sieht anders aus: Am Ende des 19. Jahrhunderts in eine österreichische Adelsfamilie (allerdings ohne Pomp und Glanz) an der adriatischen Küste geboren. Royalist. Jurist. Künstler. Journalist. Wissenschaftler. Propagandaleiter für die Vaterländische Front. Einer der Ersten, die ins KZ deportiert wurden, nachdem die Nazis Österreich annektierten. Wieder in Freiheit beharrlicher Kampf gegen die Besatzer. Diplomatendienst in Südamerika. Ermordung. In Vergessenheit geraten.

Wer das nächste Mal Wien besucht, schaut am Stephansdom mal ganz genau hin. Neben dem Eingangsportal sieht man noch das O5 in einen der Steine geritzt. Wenn man es nicht sucht, findet man es auch nicht. Die 5 in O5 steht für den fünften Buchstaben im Alphabet, das E. Zusammen OE, ein Symbol für die Befreiung Österreichs vom braunen Terror. Im Gegensatz zum Rest der Welt, der unter dem Hassregime litt, erinnert aber nichts mehr an Hans Becker, der eine Woche vor Heiligabend im Jahr 1948 durch die Waffe in der Hand eines ukrainischstämmigen Querulanten ums Leben kam.

Der Journalist Erhard Stackl macht sich in seinem Buch auf Spurensuche. Diese Suche führte ihn nicht nur in Archive und zur Familie Beckers, sondern bis ans gegenüberliegende Ende der Welt. Seine Recherchen zur Person Hans Beckers sind von einer langen Suche und ausführlichen Ergebnissen geprägt. Sie führen den Leser in eine Zeit über die schon viel geschrieben wurde. Die Leben vieler führender Köpfe sind wie ein offenes Buch. Dieses Buch ist eine wahre Fundgrube an Neuentdeckungen.

Die Widerstandgruppe O5 war ein Sammelbecken für den Widerstand gegen Hitler. Hier engagierten sich Konservative, Linke, Künstler, Intellektuelle beseelt vom Kampf für ein freies Österreich. Ihr wichtigster Kopf – Hans Becker – ereilte das Schicksal, das so manch einer teilen musste: Er geriet in Vergessenheit.

Doch das ist nun Vergangenheit. Dank der vierhundert Seiten starken Biographie fällt das Licht der Erinnerung nun auf den Mann, der im Untergrund, teils im Hintergrund, Strippen zog, Aktionen plante, niemals aufgab. Die Jahre im Konzentrationslager konnten ihn nicht brechen. Im Gegenteil: Hier knüpfte er Kontakte und fand die Kraft, die ihm in der Zeit in relativer Freiheit die Hoffnung niemals verlieren ließ.

Immer wieder stößt man in den Kapiteln auf Menschen, denen bis heute ihrer Strahlkraft nicht entrissen wurde. Doch es sind diejenigen, die im Schatten kämpften, die dieses Sachbuch zu einem Abenteuerbuch machen, das man erst beiseite legt, wenn die letzte Seite gelesen ist.

 

Fürsten ohne Thron

Was wären wir ohne unsere Adeligen? Es würde doch sicher was fehlen. Zum Einen ist es wohl die einzige Form sich der Vergangenheit zu erinnern, zum Anderen haftet dem Adel, besonders den Königshäusern immer noch etwas Märchenhaftes an. Dass dem seit über hundert Jahren nicht mehr so ist – zumindest das Märchenhafte – ist jedem klar, wenn er Bilder aus dem demokratisch gewählten Parlament sieht.

Doch was ist eigentlich passiert, dass Könige, Fürsten, Herzöge heutzutage zwar mit ihrem Namen hier und da noch Eindruck schinden können, ihr Einfluss jedoch kaum noch spürbar ist? Es war wie sooft in der Geschichte der Krieg, der alle Hoffnungen auf Fortbestand zunichte machte. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschwanden die Königreiche und Fürstentümer von der administrativen Landkarte. Nur noch in den Namen der Bundesländer leben ihre Namen weiter.

Frank-Lothar Kroll zeichnet die Lebenswege der Hohenzollern, der Wittelsbacher, derer zu Braunschweig, den Wettinern und anderen exakt nach und gibt Einblicke in ihr Leben nachdem man ihnen den Thron unter ihrem herrschaftlichen Gesäß weggezogen hatte. Einige überlebten, behielten ihre Besitztümer, fanden neue Betätigungsfelder. Ihre Namen öffneten so manche Tür, die den meisten verschlossen geblieben waren.

Auch wenn man nicht die Artikel in den einschlägigen Magazinen verfolgt, so sind den meisten die vorgestellten Männer und Frauen ein Begriff. Nur wenige – wie das Geschlecht der Reuss – sind für den Leser Fremde, deren Hinterlassenschaften hingegen wohlbekannt sein dürften. Bleiben wir bei den Reuss. Hier gab es zwei Linien: Die Ältere und die Jüngere. Letzte war und ist in Teilen im thüringischen Greiz ansässig. Ein Land so klein, dass – wie im Buch dargestellt – es in einer Karte des Deutschen Reiches wie ein Fehler, ein dunkler Fleck im Papier aussieht. Das Gebiet, das die Ältere Linie besaß, war nur unmerklich größer. Gegen Ende ihrer Herrschaft – da wussten die beiden Häuser aber noch nicht, dass das Ende in Sichtweite ist – war Bismarck ihr Lieblingsgegner. Wann immer sich die Möglichkeit bot, bot man ihm die Stirn. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Randnotiz der Familiengeschichte: Jedes der beiden nannte ihre Nachfahren Heinrich, so dass eine erstaunliche Anzahl an X und V und I zusammenkam. Heinrich XLV. Wurde nach dem Krieg ins befreite KZ Buchenwald verschleppt, seitdem fehlt jede Spur von ihm…

Im Gegensatz zum Märchen fehlen fast vollständig die Happy ends in den Lebensläufen der Blaublütigen. Sie wurden Künstler, Mäzene, Unternehmer. Sie blieben Waldbesitzer, Förderer von Kultur, erhielten ihre Besitztümer (manche erst nach der Wende) zurück, engagierten sich in sozialen Bereichen. Auch wenn so mancher Fehltritt bis heute für Schmunzeln oder gar Kopfschütteln sorgt (der kürzlich verstorbene Prinz Foffi und seine Eskapaden die Richtige an seine Seite zu ziehen, war in den 90er Jahren köstliche Lückenfüller im Programm der privaten Fernsehsender), so gehört der Adel zur Geschichte eines jeden Landes. Ob sie nun auf einem prächtigen Sitzmöbel Audienz halten oder im modernen Lehnsessel die Geschicke ihrer Firmen leiten, hat bis heute nichts von seiner Faszination verloren.

Celibidache: Der Maestro um Spiegel von Zeitzeugen

Es gibt sicher nicht viele, die beim Namen Celibidache in Verzückung geraten. Nicht, weil es nicht so viele Gründe gibt, sondern weil der Name fast schon in Vergessenheit geraten ist. Er war einer der Dirigenten, die dem Status des Stardirigenten – ein heutzutage viel zu inflationär gehandeltes und vor allem verwendetes Wort – fast schon eine neue Dimension verlieh.

1945 lagen Deutschland und Europa in Trümmern. Und das in jeder Hinsicht. Die Kultur musste nach den Jahren des Kampfes gegen Verleumdung, Verschleppung und Missachtung nun immer noch kämpfen. Es war die Zeit, in der die Kultur der Ablenkung diente. Die berühmten Berliner Philharmoniker standen vorerst ohne (Star-)Dirigenten da. Furtwängler, der Mann am Pult, musste sich eingehenden Prüfungen durch die Siegermächte unterziehen. Schließlich dirigierte er unter der braunen Flagge mit mehr als nur Duldung durch die Führungsriege.

Sergiu Celibidache sprang – salopp gesagt – in die drohende Lücke und füllte sie mit einer nie da gewesenen Hingabe. Er sah es nicht als Chance sich selbst zu profilieren – dafür möchte und verehrte er den großen Furtwängler viel zu sehr. Aber er machte sich das Pult zu Eigen. Mit ihm blieben die Philharmoniker nicht nur am Leben, sie alle zusammen unter dem Taktstock des jungen Rumänen legten die Grundlage für eine fortlaufende Karriere. Als Furtwängler starb, stimmte man jedoch für Karajan als neuen Maestro.

Celibidache ging und tingelte durch die Welt. Wo immer er auftrat, feierte man seine Art Musik zu interpretieren. Als er als gereifter Dirigent die Münchner Philharmoniker übernahm, schuf der Großes. Sein Orchester war in aller Munde. Er formte es, und bis heute zehrt es von seiner Strahlkraft.

Kirsten Liese lässt in ihrem Buch, das nicht nur Klassikfans und Orchesterliebhaber begeistern wird, Wegbegleiter zu Wort kommen, die das vielfältige Bild des Dirigenten vervollkommnen. Celi, wie er genannt wurde, wie er sich auch gern nennen ließ, war kein einfach einzuordnender Charakter. Das liegt aber wohl an der Wahl der Profession – wenn es denn so was überhaupt gibt. Despotisch im Sinne von seinen eigenen Vorstellungen vom Musikerlebnis so nah wie möglich zu kommen. Offen und empathisch gegenüber denen, die das gleiche Ziel verfolgten. Musiker und Dirigent auf Augenhöhe, doch niemals die Hackordnung aus den Augen verlieren. Die leidenschaftlichen Interviews mit Musikern, die mit Celi musizierten oder von seinen Erfahrungen anderweitig profitierten, lesen sich wie eine unterhaltsame Biographie, die man nicht so schnell beiseite legen möchte. Wer Celi nur noch als beleibten, im Sitzen dirigierenden, weißhäuptigen Taktgeber kennt, erfährt auf jeder Seite mehr und mehr von einem Mann, der von der Leidenschaft nach dem perfekten Musikerlebnis getrieben war. Dass sich links und rechts des Weges Opfer auftürmen, ist bis heute nicht zu vermeiden. Doch das, was bis heute von Celis Wirken noch erlebbar ist, war ihm ein Graus. So widersprüchlich kann nur ein wahres Genie sein.

Die Süße von Wasser

„The war is over!“, so schön diese Worte klingen mögen, er ist es nicht. Die Nachwehen eines jeden Krieges sind für manche verheerender als der Krieg selbst. Der amerikanische Bürgerkrieg ist aus. Der Norden hat den Süden besiegt, die Sklaverei ist abgeschafft. So das Resultat, wenn man es auf einem Blatt Papier kurz geschrieben liest. Dass das natürlich nicht so ist, beweist Nathan Harris mit seinem Debütroman.

Die Brüder Prentiss und Landry sind auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie wurde als Sklavin verkauft. Jetzt, da die Kanonen schweigen, ist es in ihrem kurzen Leben wohl die beste Zeit sich auf die Suche zu machen. On Old Ox, Georgia (Südstaaten!) verdienen sie sich ein paar Münzen, um ihren Weg alsbald fortsetzen zu können. Die Besitzer der Farm, George und Isabelle, sind ebenso vom Krieg betroffen gewesen. Ihr Sohn starb in diesem unsäglichen Krieg. Insgeheim hoffen sie auf Linderung in ihrer Trauer als das Brüderpaar sich bei ihnen vorstellt. Es entwickelt sich sogar eine richtige Freundschaft zwischen den beiden Paaren. Nun liegt Old Ox in Georgia – Sklaverei war hier seit Ewigkeiten Normalzustand. Eine Freundschaft zwischen einem Farmerpaar, das aufgrund ihrer Besitzverhältnisse eine andere Hautfarbe hat als die des Bruderpaares, das sich hier etwas dazuverdienen will, um die beschwerliche Reise ohne konkretes, geographisch zu verortendes Ziel, weiterzuführen, stößt in Old Ox nicht gerade auf jubelnde Mengen. Vielmehr sind es anfangs tuschelnde, später keifende Schreie, die der Idylle allzu schnell ein Ende setzen.

Das alles ist schon Stoff genug für ein beeindruckendes Buch über die Umwälzungen in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Doch Buch und Autor standen nicht umsonst auf der Longlist des renommierten Booker-Prize. Nathan Harris fügt seiner Geschichte noch ein drittes Paar hinzu. Zwei Soldaten, die den Krieg hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen wollen. Und das NEU in neues Leben ist wirklich neu! Für die Einwohner von Old Ox. Das Rumoren im Ort wird lauter und lauter und entlädt sich in einem gigantischen Knall. Ein Mord bricht die Idylle und noch vorherrschende Ruhe auf brüchigem Boden. Ein Boden, der alsbald von Vorurteilen und Rückwärtsgewandtheit erste Risse bekommt. Die Lava des Hasses und aufgestauter Wut tritt unter die sengende Sonne des Südens. Ehe sich alle Beteiligten versehen, beherrschen alte Denkmuster die Szenerie.

Ein Krieg kennt keine Gewinner, zumindest keine Allesgewinner. Jeder muss Abstriche machen. Die Errungenschaften der Sieger werden nicht von allen akzeptiert. Und wenn sich die Gelegenheit bietet alte Strukturen wieder herzustellen, nutzen die Ewiggestrigen jede sich ihnen bietende Chance, um die „guten, alten Zeiten“ wieder aufleben zu lassen. Das kann kein gutes Ende nehmen…

Kennst Du den Berg

Fassen wir kurz zusammen: Galsan Tschinag wurde 1943 in der Mongolei in die Familie der Stammeshäupter der Tuwa geboren. Als junger Mann ging zum Studium in die DDR, nach Leipzig. Aus dem Jungen der Steppe wurde der aufgeweckte, aufgeschlossene junge Mann, der nun – darum geht es nach „Kennst Du das Land“ im zweiten Teil seiner Biographie – wieder in sein Geburtsland zurückkehrt. Ende der Sechziger Jahre. Im Westen fliegen Steine, im Osten verfestigt sich der Sozialismus, wenn auch teils mit Gewalt. Und um es offen auszusprechen: Die Mongolei war damals wie heute für die meisten ein Land, das man eigentlich gar nicht kennt.

Aus dem unerfahrenen jungen Mann ist ein gereifter junger Mann geworden. Er ist glücklich behaupten zu können, dass er in beiden Ländern eine Heimat gefunden hat. Doch beide sind ihm nah und fremd zugleich. Ein Zweispalt, der nur schwer nachzuvollziehen ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Oder: Die Biographie von Galsan Tschinag gelesen hat.

Mit einer selten dagewesenen Klarheit und Reinheit der Sprache – Tschinag schreibt auf Deutsch, niemand muss also seine Gedanken interpretieren und möglichst gefühlsnah übersetzen, was allein schon eine Meisterleistung ist. Wenn aber Worte wie Bangigkeit auf das störrische Parteiphlegma (Dogma trifft es nicht minder exakt) treffen, erholt sich der Leser im Nu vom etwaigen Kulturschock. Wie im Vorübergehen schafft es der Autor beide Länder nicht nur zu vergleichen, sondern sogar Brücken zu bauen.

Eben noch in einer Unterkunft der Karl-Marx-Universität in einer bis heute sehr lebenswerten Umgebung, und schon eine Seite weiter findet man sich in einer Landschaft wieder, die dem Begriff Unendlichkeit eine weitere Dimension hinzufügt. Eben noch das unendliche Wissen der Bibliothek genossen, und schon stehen die Genossen neben einem und fordern zur Agitation auf.

Galsan Tschinag half damals, hilft bis heute die ihm eigene innere Ruhe. Er analysiert im Stillen und schreibt sich anschließend seine Erkenntnisse von der Seele. Als Leser bleibt einem nichts anderes übrig als um Gleichschritt umzublättern. Seite für Seite wird der Autor eine treuer Begleiter, den man immer besser kennenlernt. Renitenz ist ihm fremd. Doch dem unvermeidlichen Schicksal mit einem geschickten Schritt zur Seite aus dem Weg zu gehen, hat mehr Reiz als man vermuten mag. Immer wieder lässt Tschinag seine Brillanz aufblitzen, wenn es darum geht sich selbst treu zu bleiben. Und ein ums andere Mal ertappt man sich beim Lesen dabei, dass man innerlich eine Siegerfaust ballt. Unerlässlich für alle, die schon den ersten Teile gelesen haben, eine Appetitmacher für alle, denen der erste Teil entgangen sein sollte. Und man darf sich jetzt schon auf die Fortsetzung freuen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ausgerechnet die nicht in einer Reihe mit den ersten beiden Bänden stehen soll.

Verrisse

Wie kann man sich einem Thema heutzutage allgemeinverständlich nähern, dessen Wurzeln weit zurückliegen, das heute noch Früchte trägt – aber eben nur bei einer bestimmten Klientel? Es geht um die Klassik, die klassische Musik. Einem Großteil der Bevölkerung ein Buch mit sieben Siegeln. Der Rest ist entweder borniert und lässt nichts, was danach kam, gelten oder lässt sich von den Popmelodien von anno dazumal in der Werbung dazu hinreißen sich als gebildet, weil Klassikmusik hörend, zu bezeichnen. Denn damals … ja, damals war alles noch handgemacht, echte Musik eben. Aber bei Weitem nicht von jedermann geliebt oder gar geachtet. Vielmehr wurden Beethoven, Schönberg, Brahms, Bruckner, Verdi, Wagner, Mahler und Strauss, der Richard, geächtet. Und wenn nicht sie persönlich, dann ihre Werke.

Wenn am Samstagabend die Glotze stundenlang das dillethantische „Bühnentun“ durch ein einziges Talent-Highlight Vergessen gemacht wird, steigen die Zuschauerquoten und jeder Zuseher wird zum Kunstexperten, weil er der Expertenmeinung das „mega“ unreflektiert abnimmt und nachplappert. Doch wie war das denn vor zweihundert oder hundert Jahren? Ein Skandal wurde tatsächlich auf der Bühne dargeboten, von Künstlern erbracht, die wahrhaft Neues wagten. Der Beweggrund stand im Vordergrund. Nichts liegt Thomas Leibnitz, dem Autor dieses Buches, ferner als Skandale und Verrisse an den Bühnenrand zu treiben, um dem Treiben von damals einmal mehr Feuer zu geben. Die, die sich ohnehin für Klassik interessieren, liefert er faktenreich und ausführlich Hintergrundwissen. Diejenigen, die sich noch nie für Klassik interessierten, ködert er mit dem Titel – vielleicht kommt der Eine oder Andere doch noch zu dem Entschluss, dass Klassik doch nicht so „old school“ ist wie vermutet. Wer jedoch irgendwie noch zwischen „Ach nee“ und „irgendwie bin ich schon daran interessiert, aber…“ schwankt, kommt auf alle Fälle auf seine Kosten. Denn Thomas Leibnitz lässt nicht die Fachleute mit all ihrer Eloquenz und ihrem Fachwissen auftreten, sondern verleiht der zuweilen Schwere die gewisse Eleganz und Leichtigkeit, die der Klassik durchaus zu Eigen gemacht werden kann. Es müssen nicht immer blitzende Nippel sein, um Aufmerksamkeit zu erregen…

„Viel Geschrei, wenig Wolle“ – so wurde Verdis „Sizilianische Vesper“ verrissen. Öd und dürr und wahrhaft trostlos urteilte man über Brahms. Und Beethovens Spätwerk war in den Augen bzw. Ohren (was bei Beethoven nicht eines gewissen Witzes entbehrt) von Ernst Woldemar „abschreckend, geschmacklos und entsetzlich“. Ob es damals schon so was wie einen Shitstorm gegeben hat? Heute würden postwendend tausend Beethoven-Follower dem Kritiker die Klinge an den Hals drücken – verbal und anonym, natürlich.

„Verrisse“ lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Musik und Geschmack oft eine unheilige Allianz eingehen. Das war so, das ist so und wird es auch immer bleiben. Die Macht des Wortes ist bis heute ungebrochen. Und genau so sollte man auch dieses Buch annehmen. Acht Musiker – die eingangs Erwähnten – waren Geachtete und Geächtete in einer Person. Wer sich von harter Kritik treffen ließ, in dem zerbrach etwas. Wer unbeeindruckt die Kritiker machen ließ, musste sich nicht minder um den Verlust der Zuhörer sorgen. Was das Buch heute noch interessant und lesbar macht, ist die uneitle Sichtweise des Autors zu den teils heftigen Verrissen der damaligen Zeit. Starke Worte verlieren niemals ihre Wirkung.

Monsieur Orient-Express

Monsieur Orient-Express, Belgier, mit dem gewissen Sinn fürs Wesentliche – das kann doch nur Hercule Poirot sein! Non, ist er nicht. Auch wenn einem sofort die Assoziationen zu dem Mann, der die kleinen grauen Zellen so geschickt einsetzte, in den Kopf schießen. Es handelt sich um Georges Lambert Casimir Nagelmackers. Geboren im Sommer 1845. Vater Bankier, die Mutter stammt aus einer Industriellenfamilie, die sich in Teilen bis in die Regierung hochgearbeitet hatte. Der „goldene Löffel im Mund“ wurde dem Sprössling also in die Wiege gelegt. In der Schule waren Sprachen – Latein und Griechisch – seine erfolgreichsten Fächer. Privat war es in der Familie Nagelmackers eher kühl. Die Eltern wurden gesiezt, die Kinder speisten zusammen mit dem Personal. Damit der junge Georges sich endlich die Liebe zu seiner Cousine aus dem Kopf schlägt, schickte ihn die Familie in die Neue Welt. Und hier kam er einer neuen, großen, nachhaltigen Liebe auf die Spur: Der Eisenbahn.

Die katastrophalen Zustände der amerikanischen Eisenbahn – die Wände dünn wie Zeitungspapier, Toiletten nur von außerhalb zu betreten etc. sollten der Grundstein sein, der Georges Nagelmackers zu dem machte, was er einmal werden sollte: Der Chef des Orient-Express.

Georges sah, dass die Welt zusammenwuchs. Doch überall nur Schranken, in jeder Hinsicht. Sein Traum war es – und schon ein paar Jahre später legte er einen weiteren Grundstein dafür, dass Schranken bald nur noch für „die Anderen“ gelten sollten – die Welt miteinander zu verbinden. Und natürlich das Portemonnaie zu füllen. Sein Portemonnaie.

1883 nahm der Orient-Express das erste Mal Fahrt auf. Von Paris nach Konstantinopel. Luxuriös reiste man. Es ruckelte zwar hier und da ein wenig, dafür war man aber binnen Tagen am anderen Ende des Kontinents.

Dass dabei viel Kohle (auch hier wieder: in jeder Hinsicht!) verbrannt wurde, beunruhigte den Visionär Nagelmackers nur am Rande. Geldgebern kann man ja schließlich aus dem Weg gehen. Das klappt aber nur zeitweise. Auf der Weltausstellung 1900 in Paris greift er nach einem weiteren Strohhalm, um das finanziell angeschlagene Unternehmen einmal mehr zu retten. Gen Osten soll der Luxuszug nun gleiten. In jedem der größten Pavillons, die in der Weltmetropole Paris ihr Land präsentieren, lässt er Waggons seiner Eisenbahnlinie ankarren. Nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass ein Waggon 35 Tonnen wiegt, die Pavillons nicht ans Schienennetz angeschlossen sind und die Pferdewagen eigentlich nur vier Tonnen bewegen können.

Eine rentable Bahn auf die Schiene zu bringen, ist bis heute ein Fass ohne Boden. Das musste auch Georges Nagelmackers erkennen. Doch im Gegensatz zu den Vorständen der Gegenwart, die die Vokabel Subventionierung so inflationär benutzen wie manch anderer Toilettenpapier, ließ er sich nicht von seiner Idee abbringen den westlichsten Westen mit dem östlichsten Osten zu verbinden. Geblieben ist allen Unkenrufen zum Trotz mehr als nur die nostalgische Vorstellung einmal tief im Sessel zu versinken und vom Eiffelturm, am Stephansdom vorbei entlang der Donau, über den Balkan ans Goldene Horn zu reisen. Diese Vorstellung inspirierte Menschen seitdem es die Eisenbahn gibt, nicht nur Agatha Christie.

Gerhard J. Rekel lässt den Mythos Orient-Express einmal mehr aufleben. Dieses Mal jedoch bekommt er ein Gesicht. Georges Nagelmackers schürte  mit seiner Idee Sehnsüchte, die bis heute und in alle Ewigkeit nachwirken. Und dieses Buch sorgt dafür, dass nichts davon in Vergessenheit gerät.