Nervöser Orient

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Man stelle sich folgendes vor: Da hat man sich mit viel Schweiß und Fleiß ein hübsches Haus gebaut. Alle bewundern es. Man selbst war nicht immer freundlich zu den Nachbarn, regiert oft mit harter Hand. Aber das Haus steht Verkehrsgünstige Lage. Und permanent nistet sich jemand ein, campiert im Garten. Alles ohne einem selbst zur Last zu fallen, wird versichert. Und doch wird die Stube umdekoriert, Fremde tummeln sich in der Küche, das Bad ist andauernd besetzt. Dann wird auch noch die Verwandtschaft der Invasoren eingeladen mal vorbeizuschauen oder den Garten mit besonderem Wegerecht zu nutzen. Und das geschieht nicht nur vor der eigenen Haustür, sondern in der gesamten Siedlung. Von Ruhe und Entspannung kann da nicht mehr die Rede sein. In einem steigert sich die Wut, oder zumindest die Unruhe. Man ist nur noch nervös…

Zugegeben ein Vergleich, der etwas hinkt, wenn man ihn in Relation zur Situation des Orients setzt. Aber eben auch nicht ganz abwegig. Kersten Knipp beschreibt in seinem Buch „Nervöser Orient“ die verzwickte Situation der arabischen Welt von Napoleons Versuch sich Ägypten einzuverleiben, um Englands Routen Richtung Indien abzuschneiden und somit die Weltmacht der einflussreichsten Insel der Zeit zu torpedieren, bis in die Gegenwart.

Die alten Mächte in Europa stießen an ihre wirtschaftlichen Grenzen. Neue Märkte mussten dringend erobert werden. Und der Weg übers Mittelmeer war der kürzeste Weg zu eben diesen neuen Märkten. Mit dem Bau des Suezkanals war die vereinzelt noch vorhandene Unabhängigkeit endgültig vorbei. Die Eliten des Landes konnten mit einzelnen Zahlungen noch bei Laune gehalten werden, doch der Rest des Landes war außen vor.

Entgegen alle Informationssendungen im Fernsehen hatte auch der Orient gewaltig und mindestens genauso nachhaltig wie Europa unter dem Ersten Weltkrieg zu leiden. Bündnisse zwischen bisher verfeindeten Regierungen dienten nur einem Zweck: Des Feindes Freunde unter dem Deckel zu halten. Hier entstanden Vorurteile und Feindschaften, mit denen wir heute – auf beiden Seiten – immer noch zu kämpfen haben. Krieg und Elend, Ausbeutung von Bodenschätzen, Massaker brannten sich tief ins kollektive Gewissen.

Kersten Knipp legt über diese Geschichte nicht den Mantel des Schweigens. Für ihn ist es der Brückenschlag zum aktuellen Weltgeschehen. Diktatoren wie Saddam Hussein, einst protegiert, dann verteufelt (und zwar von denselben Personen), Länder wie Ägypten, die von jeher als Spielball von Regierungen des Okzidents missbraucht wurden bis hin zu Al-Qaida und dem IS: Alles hat seine Wurzeln. Irgendwo. Und dieses Irgendwo holt der Autor ans Tageslicht. Was nicht heißt, dass er die Taten hüben wie drüben gutheißt. Er zeigt lediglich auf, dass das Newtonsche Gesetz „actio=reactio“ losgelöst von religiösem Wahn existiert und stets nachweisbar ist. Sein Buch hilft Hintergründe zu sehen und zu verstehen. Die daraus folgenden Taten sind nun nicht mehr kryptische Fakten, die – ja länger man mit ihnen konfrontiert wird – schnell an Reiz verlieren.