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Es lebe die Republik!

Es ist nie zu spät noch dazuzulernen. Einem wie Thomas Mann konnte man das natürlich nicht direkt ins Gesicht sagen – dafür thronte er einfach zu hoch über den Lesern und Zuhörern. Aber es stimmt. War er einst ein glühender Verehrer der kämpferischen Auseinandersetzung, war die Ermordung Walther Rathenaus ein Wendepunkt im Denken des bis dahin stramm unpolitischen Schriftstellers.

„Es lebe die Republik!“, der Satz. Ort: Der Beethovensaal der Alten Philharmonie in Berlin. Zeit: Oktober 1922. Anwesend waren unter anderem Gerhard Hauptmann, Literatur-Nobelpreisträger und Vater Ebert, wie ihn Thomas Mann nicht müde werdend immer wieder nannte, Friedrich Ebert, Reichspräsident.

Und das, was er zu sagen hatte, ließ die Kritiker erzürnen, die Vaterlandsliebenden ihn als Verräter kennzeichnen und Demokarten ihn ins Herz schließen. Kalkül oder Überzeugung? Beides.

Wer Thomas Mann nur als den über allen schwebenden gesamtdeutschen Schriftsteller-Übergott sieht, wird überrascht sein, dass ausgerechnet dieser Grübler, dieser stets überlegende Mensch einst deutsche Freikorps mit strammen Winkehändchen in den Krieg verabschiedete und dem der deutsche König näher war als die Rätestände.

Vom Saulus zum Paulus? Mitnichten! Thomas Mann war ein Kopfmensch. Gedanken, und seien sie erst einmal nur gespielt, waren sein Metier. Bauchentscheidungen gab es nicht. Alles hatte Hand und Fuß. Disziplin galt mehr als Gefühlsleitstände.

Kurt Oesterle ist Thomas-Mann-Experte, der sich nicht vor einer Bücherwand ablichten lassen muss, um ernstgenommen zu werden. Er nimmt den Ausruf „Es lebe die Republik!“ zum Anlass die Wandlung Thomas Manns unter die Lupe zu nehmen. Heimat, Demokratie, Vertreibung, aber auch Mannsche Anmaßung sind nur einige Eckpunkte, die er ins Feld führt, um in einem Versuch wie er es nennt, ein weiteres Schlaglicht auf den großen deutschen Dichter zu werfen. Es hilft bei der Lektüre sich ein wenig im Werk Manns auszukennen. Doch auch ohne die Verlinkungen von Haupt- und Nebencharakteren Bescheid zu wissen, wird schnell klar, wie allgemeingültig die Gedankengänge Thomas Manns waren. Und wie aktuell!

Wer sich in seinem Leseleben durch die Literatur gelesen, Tagebücher, Aufsätze und Reden aufgesogen hat, der wird ein ums andere Mal in den Zeilen Bestätigung finden und hier und da Erstaunliches entdecken.

Ein Seidenfaden zu den Träumen

Ein Buchstabe, noch einer, noch einer … sie bilden Silben. Silben bilden Worte. Worte formieren sich zu Halbsätzen, zu einem Ganzen. Am Ende gehen sie eine Symbiose ein, die schwer zu fassen ist. Sie wirken. Einfach so. Manchmal gleichen sich ihre Enden und bilden einen Wohlklang, der im Gedächtnis bleibt. Ist das das Wesen der Poesie? Mmmh, vielleicht. Im Arabischen ist sie eine Schreibweise mit der man mit wenigen Worten etwas schreibt, was man sonst nur mit vielen Worten sagen kann. Das muss man auf sich wirken lassen. Und kopfnickend in diese Lektüre eintauchen.

Usama Al Shahmani durfte in allen Lyrikbänden des Limmatverlages – immerhin 64 Bände – bei dem er schon drei Bücher verlegen ließ, schmökern. Und ausjedem Buch ein Gedicht aussuchen für diese Jubiläumskompilation. Poesie in allen Sprachen der Schweiz. Poesie, die in teils mühevoller Arbeit ins Deutsche transferiert wurden. Und immer wieder hat er dabei neue Seiten der Buchstaben, Silben, Wörter entdeckt. Das sind wie wieder bei viele Wörter sagen und mit wenigen Worten beschreiben. Übersetzungen sind ein schmaler Grat.

Für Usama Al Shahmani war es ein Glücksfall im Verlagsfundus der feinen Sprache zu stöbern. Eine Ehre. Für diesen Lyrikband sammelte er fleißig und gewissenhaft die Schönsten, die Besten, die Eindrucksvollsten von ihnen zusammen. „Ein Seidenfaden zu den Träumen“ – einen besseren Titel hätten alle an diesem Band Arbeitenden nicht finden können! Und mit Usama Al Shahmani konnte es nur ihn treffen die Auswahl zusammenzustellen. Die Titel seiner Bücher „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ und „Der Vogel zweifelt nicht an dem Ort, zu dem er fliegt“ sind pure Poesie.

Wer sich mit Poesie noch nie auseinandergesetzt hat, bekommt hier einen Eindruck davon, was es heißt „über den Tellerrand zu schauen“. Poesie hat die Kraft eigene Vorstellungen zu kreieren und in dieser Phantasie nicht zu verharren, sondern sie auszubreiten. Sie ist ein Teppich, der unter den Fußsohlen ein wohliges Wandern erlaubt. Ihre Wortflut reinigt von Innen. Sie öffnet Horizonte und darüber hinaus.

Vielleicht wirken die Gedichte (wenn vorhanden im Original und in deutscher Übersetzung) nicht bei jedem und sofort. Doch schon beim zweiten Durchlesen, verströmen sie einen Liebreiz, dessen Sog man sich nicht entziehen kann. Sprache ist ein mächtiges Werkzeug. Es geduldig und behutsam einzusetzen, ist eine Kunst. Dieses Kunst beherrscht Usama Al Shamani wie kau mein anderer.

Ámbar

Die fünfzehnjährige Ambar weiß, was es heißt, ihr Leben immer wieder von Vorne zu beginnen. Ihr krimineller Vater hat ihr dieses Mal versprochen, dass sie an einem Ort bleiben werden – doch dann kommen ihm seine Machenschaften wieder einmal in die Quere. Verletzt und mit einem Toten im Schlepptau heißt es wieder einmal zu fliehen. Doch dieses Mal scheint er auf Rache zu sinnen. Je weiter Ambar ihn dabei begleitet umso mehr Gedanken macht sie sich über sich selbst und ihren Vater.

Das Buch wird als Thriller angepriesen. Als solchen habe ich es nicht empfunden. Es ist eher ein Drama rund um Ambar. Sie erzählt die Geschichte selbst. So erfährt man viel über ihr Leben an der Seite des kriminellen Vaters. Über ihren Wunsch nach einem ganz normalen Leben und ihre Sehnsüchte, die denen anderer Teenies gleichen. Allerdings ist sie kein „normaler“ Teenager. Sie kennt sich mit Waffen aus, kann Wunden versorgen und hat gelernt, dass sie niemandem vertrauen kann – schon gar nicht den Versprechungen ihres Vaters. So wirkt sie einerseits bemitleidenswert, andererseits wieder sehr abgebrüht.

Die Geschichte folgt Ambar und ihrem Vater auf ihrem neuesten Roadtrip durch Argentinien. Könnte nach Abenteuer klingen. Für Ambar ist es aber nur eine erneute Zumutung mit unbestimmten Ausgang. Hier aber wächst sie über sich selbst hinaus und beginnt sich selbst Fragen zu stellen und Entscheidungen zu treffen, die nicht immer nur den Vater in den Vordergrund stellen.

Obwohl ich durch die Beschreibung (als Thriller) etwas anderes erwartet habe, hat mir die Geschichte zugesagt. Sie ist sicher nicht leicht zu lesen: Weniger wegen der vielen blutigen und brutalen Szenen als vielmehr wegen dem, was Ambar all die Jahre mitmachen musste. Dennoch merkt man hier, dass sie einen Schritt weitergehen wird und hofft natürlich mit ihr mit, dass sich die Situation ändern wird.

Fazit: Ein krimineller Roadtrip durch Argentinien, bei dem es um die Frage geht, ob sich Ambar aus dem immer drehenden Hamsterrad befreien wird oder nicht.

Das Vaterland

An Weihnachten vor dem grauen Winterwetter fliehen. Sich in der Sonne des Südens erholen … ach, es ist ein Traum. Je näher jedoch die Rückkehr rückt, umso trüber verfinstert sich die Stimmung. Wenn man jedoch länger, viel länger, so um die drei Monate weg von zu Hause ist, steigert sich die Vorfreude auf die Heimkehr. Endlich wieder was Vertrautes sehen zu können. Vertraute Düfte, vertraute Menschen, vertrautes Umfeld.

Für die Besatzung der Kulm, einem Dampfschiff, wird die Rückkehr ein echtes Abenteuer. Ein wild zusammen gewürfelter Haufen, der in den heimatlichen Hafen einfährt. Der schroffe Ton auf See ist nicht jedermanns Sache. Da fallen auch schon mal Worte, die verletzen. Zumal, wenn das Abfahrtsdatum der 26. Dezember 1932 ist. Und das Schiff am 28. März 1933 in Hamburg festmacht.

Es hat sich viel verändert. Der Schnauzbart ist nun doch an die Macht gekommen. Für einige an Bord (und bald an Land) ein Segen, ein Hoffnungsschimmer. Für viele jedoch die größte Katastrophe ihres Lebens. Kaum etwas ist so wie es vor einigen Wochen noch war. Juden dürfen öffentlich angepöbelt, verprügelt, ausgegrenzt und gescholten werden. Die allgemeine Stimmung ist aggressiv. Man muss aufpassen, was man sagt. Jeder könnte ein Spitzel mit Beziehungen sein. Willkürliche Brutalität ist salonfähig geworden. Die Prügeleien zwischen Betrunkenen auf der Reeperbahn sind dagegen Kinderkram. Echte Matrosen scheuen einen ehrlichen Kampf nicht. Doch das, was jetzt vor sich geht, ist für viele ein Rund-Um-Die-Uhr-Kampf ums Überleben.

Heinz Liepman verließ im Juni 1933 Deutschland. Er wurde verfolgt, seine Bücher verbrannt. Er hegt keinen Groll. Er bedauert nicht. Er erhebt seine Stimme. Aus scheinbar sicherer Entfernung.

„Das Vaterland“ ist einer der ersten Exilromane. Nur kurze Zeit nach der Machtergreifung der Nazis ist dieses Pamphlet, wie er es nennt, erschienen. Alles echt, alles wahr, alles genauso passiert. Nichts hinzugefügt, nichts beschönt. Nur in der Reihenfolge der Dramaturgie des Lesen angepasst.

Fast hundert Jahre sind seit Erscheinen des Buches vergangen. Der aufkommende Nationalismus im Schulterschluss mit Militarismus und Faschismus ist untersucht und dennoch sind die Anfänge in den Augen vieler nur Geschichte von damals. Die Parallelen zur Gegenwart sind frappant. Nein, offensichtlich. Immer öfter muss man den Finger auf die Lippen legen, um nicht anzuecken oder gar Schlimmeres zu erleiden. Gleichzeitig jedoch sind Aussagen, die seit jeher – schon immer – als verpönt galten oder es zumindest sollten, fast schon in den Alltagsslang übergegangen. Klar sichtbare Hinweise werden als Gedanken von Spinnern abgetan. Und so dürfen verbotene Gesten fast ohne Sühne publiziert werden. Wohin das führt, wird auch in diesem Buch eindrücklich beschrieben. Eines steht fest. Heinz Liepman war sicher kein Visionär. Doch dieses, sein Buch ist stellenweise so aktuell wie nie!

 

Fünf unlösbare Rätsel der Mathematik

„Eins und Eins, das macht Zwei … denn Denken schadet der Illusion“ – Na bitte. Da haben wir’s! Der schwere Kopf, der in jungen Jahren im Matheunterricht auf die Tischplatte sank, war die logische Konsequenz (und niemals falsch!) auf das, was da im Lehrbuch oder an der Tafel stand. Mathe kann so einfach sein!

Spaß beiseite! Ja, Mathe kann einfach sein. Aber nicht immer. Will man beispielsweise einen Behälter mit einem Kubikmeter Fassungsvermögen bauen, müssen die Innenseiten jeweils einen Meter lang sein. Und bei zwei Kubikmetern? Sind die Innenseiten dann zwei Meter lang? Nö. Nur in der Kneipe beim x-ten Bierchen, wenn das Denkvermögen irgendwo zwischen Eichstrich und Pinkelpause verloren gegangen ist.

Kehr am nächsten Tag der Denkalltag wieder ein, könnte man sich diesem Problem zuwenden. Allein der Rechenweg (drei Seitenlängen Malnehmen) zeigt die Schwierigkeit auf exakt zwei Kubikmeter zu erlangen. Es bleibt immer etwas übrig. So ungefähr ein kleines bis größeres Bierchen – womit sich aber keineswegs der Kreis schließt.

Fragt man Edmund Weitz, der ist Mathematiker, wird auch er keine zufriedenstellende Antwort parat haben. Aber er weiß, dass es sich dabei um das Delische Problem handelt. Das kennt man schon seit Jahrtausenden. Trotz Taschenrechner, ultraschneller Computer und seitdem erlangtem Wissen, ist es bis heute nicht möglich die exakten Längen des Zwei-Kubikmeter-Behälters zu berechnen. Und selbst wenn, wie soll man das denn dann auch noch herstellen. Also gibt’s immer einen Zuschlag.

Mathematik heißt „Kunst des Lernens“ – so die Altgriechen, die die Mathematik nicht erfunden haben, aber ihr (sie also weiblich?!) einen Namen gegeben haben.

Mit Hingabe und sehr unterhaltsam beschreibt Edmund Weitz von fünf Problemen, die die Mathematik – nicht nur nach heutigem Wissensstand – niemals beweisbar lösen kann. Es ist die Quadratur des Kreises. Manches kann man einfach nicht lösen – viele kennen das … aber aus anderen Bereichen…

Dieses Buch ist sicher kein Buch, das man ab und zu in die Hand nimmt, ein paar Seiten liest und dann wieder beiseitelegt. Nein! Auch wenn man die Lösung kennt (dass es keine Lösung gibt), ist es doch spannend zu erfahren wie die Mathematiker seit Jahrtausenden sich daran die Zähne ausbeißen, ohne das dabei Schadenfreude aufkommt. Grenzen ausloten, und trotzdem nicht aufgeben – darin liegt der Reiz des Forschens. Und des Lesens!

Tizianas Rosen

Na das ging ja schnell: Nicht einmal vier komplette Seiten gelesen und schon ein Geständnis der Täterin. Tiziana Mara hat Ulrich Vanderhoff ermordet. Wie will man da als Autor Geld verdienen?! Stefan Györke muss nun nur noch reichlich einhundertsiebzig Seiten füllen, um aus dem „Ich war’s“ einen Krimi zu kreieren, der auch ab Seite Fünf Spannung verspricht und den Leser bis zur letzten Seite fesseln wird. Soviel sei schon mal verraten: Er schafft es! Spielerisch!

Tiziana lebt in Zürich, ihre Eltern stammen aus Sizilien. Sie kommt sich wie in einem Film vor als sie von einer renommierten Anwaltskanzlei zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird. Alle sind freundlich zu ihr. Das Arbeitsklima schient erstklassig zu sein. Viel Arbeit, die obendrein auch noch Spaß macht – was will sie mehr. Ulrich Vanderhoff ist ihr neuer Chef. Ein Charmebolzen, eine elegante Erscheinung … und nicht abgeneigt auch außerhalb der Arbeitszeit Tiziana zu umwerben. Sie ebenfalls. Doch aus der anfänglichen Schwärmerei, der atemlosen Phase des Kennenlernens wird schnell Routine. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Kein Lächeln mehr. Kein Schmachten. Seinerseits. Tiziana fügt sich dem Schicksal und tut, was man ihr aufträgt. Auch als sie einem anderen Partner der Kanzlei zugewiesen wird – Ulrich scheint alle Verbindungen zu ihr durchgeschnitten zu haben – ergibt sie sich ihrem Schicksal. Zudem nähert sie sich auch wieder ihren Eltern an. Der Abnabelungsprozess von Mama und Papa (und ihren Geschäften!) ist in ihren Augen abgeschlossen.

Und dann … auf einmal … Rosen vor ihrer Tür … von Ulrich … und dann … ist … Ulrich … tot! Schnell erkennt sie, was zu tun ist. Das Geständnis überzeugt die Ermittler. Zunächst. Doch nichts ist wie es scheint…

„Tizianas Rosen“ rauscht wie eine Freccia rossa durchs Hirn des Lesers. Eine Liebesgeschichte, die furios beginnt und Knall auf Fall endet. Eine nebulöse Verbindung zu Tizianas Eltern. Eine Anwaltskanzlei im noblen Zürich. Und eine Hauptakteurin, die mehr weiß und mehr kann als man an der Oberfläche sieht. Wer spielt hier eigentlich Spielchen? Der Gentleman, der einst als Schwertschlucker durch Sizilien zog? Die Eltern, die immer nur das Beste für ihre Tochter wollten? Kommissar Zufall? Dunkle Machenschaften sind der Nährboden für diesen einzigartigen Krimi, der sich gar nicht wie ein Krimi verhält.

Beatrice Webb – Aus ihren Tagebüchern

Wer sich eine Biographie zur Hand nimmt, ist meist schon ein Fan desjenigen, dessen Leben beschrieben wird. Ob man ihn dann nach der Lektüre kennt oder „nur besser kennt“, muss man für sich selbst entscheiden. Besonders, wenn das Objekt der Begierde von einem Anderen beschrieben wurde. Je länger die Lebzeit her ist, desto größer der Einfluss und damit die Sichtweise der Gegenwart. Das beginnt bei der Wortwahl, der Biograph benutzt und endet noch lange nicht bei der zigsten Sichtung der Hinterlassenschaften. Und dann ist da immer noch das Damokles-Schwert, auf dem „wem nützt es?“ oder „was ist der Zweck der Biographie“ eingraviert ist… Briefe, Tagebucheinträge sind untrügliche Zitate, Meinungen, Momentaufnahmen. Wahrscheinlich sind sie näher an der Realität als so manche Nachbetrachtung.

Beatrice Webb und ihr Mann Sidney waren zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte Sozialreformer, Politiker mit gewichtigen Ideen und Worten. Sie gründeten die Fabianische Gesellschaft, um weitreichende Reformen in Gang zu setzen. Heute würde man das als Thinktank bezeichnen – so viel zum Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart.

Ihre Arbeit in der Fabianischen Gesellschaft – das war ihnen von Anfang an klar – benötigten sie Menschen mit Reputation, mit Ideen, mit einer weittragenden Stimme. Dazu gehörten in ihrem Fall unter anderem der Schriftsteller H.G. Wells, Upton Sinclair, ebenfalls Sozialreformer, aber auch der als Lawrence von Arabien berühmt gewordene Thomas Edward Lawrence. Und George Bernard Shaw. Wahrscheinlich würden sie heutzutage die sozialen Medien mit ihren reformerischen Ideen fluten und als Berufsbezeichnung würde so manches mal „Influencer“ unter ihrem Namen stehen.

In ihren Niederschriften lässt der spätere Nobelpreisträger und Oscargewinner (für Pygmalion und eine erste Verfilmung des Stoffes) einfach nicht los. Es ist keine süßliche Verliebtheit, die sie fesselt. Es ist der komplexe Kosmos eines findigen Autors, der mit Wortgewalt die Leser bis heute in seinen Bann ziehen kann. Doch ist auch der scheinbar widersprüchliche Charakter. Als Shaw Charlotte Frances Payne-Townshend kennenlernt, benimmt er sich zeitweise wie ein verliebter Teenager, der öfter das Herz sprechen lässt und der Vernunft – und der Etikette – eine Nase dreht. Für Beatrice Webb ein beschauliches Spektakel.

Die im Untertitel angekündigten Enthüllungen sind zeitlos. Wüsste man nicht, das Shaw bereits vor 75 Jahren gestorben ist, man würde ihn einen modernen Zeitgenossen nennen. Nur die Umrechnungen der genannten Summen erinnern einen daran, dass es sich hier um historische Persönlichkeiten handelt. Die Einträge von Beatrice Webb stecken voller Empathie und lesen sich noch heute wie spannende Artikel aus längst vergangener Zeit. Immer schüttelt man sich und kneift sich, weil die Moderne der Gegenwart scheinbar doch nicht so neuartig ist wie man sich selbst gern einredet.

Apulien

Fernab der Klischees von den typischen Rundbauten, den Trulli, dem immer warmen Badewetter und einer unüberschaubaren Anzahl von architektonischen Kostbarkeiten reist Reisebuch-Autor Andreas Haller durch einen Landstrich, der einen fast das Blinzeln vergessen lässt.

Da sind die großen Städte Bari und Lecce. Wer noch nicht dort war, bekommt schon nach wenigen Zeilen eine ziemlich exakte Vorstellung von dem, was da vor dem Auge erscheint, ist man schon bald in einer dieser Städte. Viel Hintergrundinformation für das, was im Vordergrund steht. Nicht nur in den gelben Kästen, die dem Leser Historie und Histörchen als Wegbegleiter und –bereiter dienen. Da ist für jeden was dabei. Tipps für die Unterkunft oder den schnellen und großen Hunger, Einkaufstipps – vor allem aber das komplette Programm für den Tag, um nichts zu verpassen. Jeder einzelne Abschnitt ist klar gegliedert, inkl. kleiner Hilfestellung wie sehr man dies oder das besuchen wollte.

Das Buch arbeitet sich von Norden nach Süden durch Apulien. Und dann immer im Wechsel von Küste und Hinterland. Da weiß man oft gar nicht wo man anfangen soll. Auch hier ist dieser Reiseband, immer hin schon die elfte Auflage, ein nützlicher Ratgeber. Denn wer nun wirklich gar keine Vorstellung hat, was er in Apulien besuchen möchte, liest sich einfach von Anfang bis Ende durch das Buch. Fündig wird man auf jeden Fall. Und Spannung und Vorfreude sind garantiert.

Dass am Anfang eines neuen Kapitels, das Buch ist in sechs Regionen unterteilt, schon die ersten Kurzzusammenfassungen wie kleine Appetithappen auf den hungrigen Leser warten, ist ein echter Segen. Besonders die Tipps zum Reisen vor Ort – wie gut kommt man denn nun von A nach B? etc. – sind echte Alleinstellungsmerkmale auf dem Reisebuchmarkt. Alles noch einmal kompakt zusammengefasst am Ende des Buches.

Bei all der Fülle an sorgsam beschriebenen Höhepunkten darf man nie aus den Augen lassen, dass das Buch der Wegweiser ist. Anschauen ist wichtiger, genießen ist Gesetz. Den Reiseband beiseite zu legen ist mindestens so frevelhaft wie ihn im Gepäck zu lassen. Griffbereit sollte er immer sein. Egal wie man unterwegs ist, per pedes, per Rad, mit dem Bus, dem Zug oder im Auto. Die lockere Sprache ohne dabei den Ernst des (Er-)Lebens aus dem Blick zu verlieren, passt in das Lebensgefühl an der unteren Rückseite des Stiefels. Wer A sagt, muss auch pulien sagen. Wer A sagt, muss auch ndreas Haller vertrauen. Er reiste 2024 mehrmals nach Apulien, um der Neuauflage das Neueste hinzuzufügen, Bewährtes zu aktualisieren und neue Wege zu beschreiten. Vor allem Pedalisten werden hier auf ihre Kosten kommen. Elf Wanderungen runden den Reiseband ab. Allesamt für jedermann zu bewältigen. GPS-Koordinaten im Buch sind mehr als nur bloße Festhaltepunkte zum Entlanghangeln. Und für Puristen gibt’s wie immer die faltbare Karte zum Herausnehmen und im Buch zahlreiche Karten und Pläne. Wer nun immer noch nicht weiß, was er in Apulien machen soll … dem ist … nein … der liest das Buch einfach noch mal.. Die Erkenntnis kommt garantiert!

Endure

Ausdauersportler erzeugen beim Publikum und bei Mitstreitern eine besondere Aufmerksamkeit. Wer es auf sich nimmt und beispielsweise beim Ironman-Triathlon auf Hawaii die Übertragung anschaut, versetzt sich unweigerlich in eine demütige Haltung. Wie kann man nur? Acht Stunden unter mehr als Volllast den eigenen Körper schinden. Der Glückshormonausstoß muss gigantisch sein – sofern man noch in der Lage ist genau das wahrzunehmen. So wie Jonathan Brownlee 2016. Anderthalb Kilometer ist er geschwommen, vierzig Kilometer auf dem Rad gerast. Und Neunkommasechs Kilometer gelaufen wie der Wind. Nur noch vierhundert Meter bis zum Ziel. Dann ist die WM-Serie für diese Saison beendet. Ganz frisch sieht er nicht mehr aus. Wie ein Betrunkener Panda tapst er dem Ziel entgegen. Als Erster, das ganze Feld hetzt ihn. Doch es reicht nicht! Alistair, sein Bruder, im Blute wie im Geiste, stützt ihn, muss ihn stützen. Zusammen erreichen sie das Ziel, als Zweite und Dritte. Hätte er es besser machen können? „Idiot“, wird er – im Spaß?! – beschimpft, vom eigenen Bruder.

Autor und Ausdauersportler Alex Hutchinson ist die Situation auch sicher bekannt. Schon Jahre zuvor hat er in einer Studie von Michael Joyner gelesen, wo die Grenzen des Machbaren liegen. Dieser prognostizierte eine Marathonbestzeit von knapp einhundertachtzehn Minuten. Zeiten von 130 Minuten galten damals als galaktisch, wenn auch machbar. Heute ist man drauf und dran an der Zwei-Stunden-Marke, einhundertzwanzig Minuten, zu kratzen. Geknackt hat man sie noch nicht – zumindest nicht in einem regulären, anerkannten Marathonlauf. Alles hängt davon ab, wie viel Sauerstoff man aufnehmen und verarbeiten kann, und vor allem an der Schmerzgrenze. Wissenschaftlich klingt das natürlich alles viel reiner, aber auch unverständlich.

„Endure“ heißt durchhalten, „Halte durch!“. Der deutsche Titel würde nicht mal dazu taugen auf schlapprigen sweat pants (wie „keep strong“ – sieht man nur allzu oft … und man muss automatisch lächeln) aufgedruckt zu werden. Endure – halte durch, nur noch ein bisschen. Das ist Kopfsache. Jeder kann für sich selbst ausloten, wo die Grenze des Machbaren liegt. Dabei gibt es gute und weniger gute Tage. An einem richtig guten Tag, kommt man vielleicht auch dem Geheimnis der Sauerstoff-Aufnahmemöglichkeiten auf die Spur. Dazu muss man aber schon ein ausgebuffter Profi sein.

Bei der Lektüre dieser Durchhalte-Fibel erstaunt es den Leser – und an manchen Stellen auch den Autor – wozu der Mensch in der Lage ist. Nun kann man nicht alle Ratschläge, aller Erkenntnisse im privaten oder beruflichen Leben zu hundert Prozent umsetzen. Nicht jeder kann immer und überall an die Grenzen gehen – Kaffeetassen-Weiheit: „Nur ein mittelmäßiger Mensch ist stets in Hochform“ – doch oft reicht es aus davon zu lesen, dass der nächste bisher unmöglich erscheinende Schritt doch umsetzbar ist.

Wenn zum Ende des alten Jahres, zu Beginn des neuen Jahres wieder einmal alle freudig trunken umherschwafeln, was sie im neuen Jahr anders machen wollen, ist das für die meisten Leser dieses Buches sicher schon der zweite Schritt in Richtung Wunscherfüllung. Denn der Wille zur Veränderung ist mit der Lektüre der erste Schritt. Auch eine lange Reise  beginnt mit einem ersten Schritt. Das steht nicht auf Kaffeebechern, sondern ist eine alte asiatische Weisheit. In diesem Sinne: Endure!

Briefe aus der Asche

Im Januar 2025 jährt sich zum sechzigsten Mal die Befreiung der Gefangenen im Konzentrationslager Auschwitz. Wieder werden Politiker der unmenschlichen Bedingungen und Schandtaten gedenken und große Worte finden. Bis heute ist das ehemalige deutsche Lager auf heutigem polnischem Boden ein zahlreich besuchter Ort, der das Gedenken in Ehren hält. Ein Wissenschaftlerteam ist immer noch damit beschäftigt die Abläufe dar- und Exponate im gerechten Licht auszustellen. Ein Ort, an dem man innehält – ganz automatisch.

Pavel Polian ist Historiker, Geograph und Philologe. Er hat die Grausamkeiten dank der Gnade der späteren Geburt nicht miterleben müssen. Er forscht seit Jahrzehnten zu den Gräueltaten, die hier passierten. So erfuhr er auch von heimlichen Mitschriften der Sonderkommandos in Auschwitz. In diesen Sonderkommandos wurden Gefangene, meist Juden, dazu gezwungen beispielsweise die Asche der Verbrannten zu beseitigen, Leichen auf Karren in die Gruben zu bringen. Sie hatten Sondervergünstigungen. Was es ihnen auch ermöglichte Skizzen zu zeichnen, teils sogar Fotos zu machen, vor allem aber Aufzeichnungen vorzunehmen. Diese Schriften aus der Asche versteckten sie. Erst Jahre, manchmal Jahrzehnte später wurden sie entdeckt, in Laboren untersucht, entziffert und entschlüsselt. Einige Namen der fast zweitausend Zwangsarbeiter in den Sonderkommandos sind bekannt. Erstmals sind in einem Band die Erkenntnisse der Forschungen und die fast kompletten Abschriften zusammengefasst.

Der erste Teil des Bandes ist der wissenschaftliche Teil. Statistiken, Einordnungen der Strukturen sowie die menschenverachtende Sprache werden hier anschaulich dargestellt. So sehr, dass es einen immer wieder verwundert, dass es immer noch Leugner gibt, und willfährige Helfer immer noch deren krude Theorien als Wahrheit annehmen. Und noch widerwärtiger sind die Günstlinge, die aus dieser Verblendung Kapital schlagen wollen – meist sogar im wörtlichen Sinne.

Für den zweiten Teil braucht man starke Nerven. Denn die Niederschriften von Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel, Marcel Nadjari und Abraham Levite sind der Horror in Buchstaben. Führt man sich allein schon vor Augen wie diese Sonderkommandos zusammengestellt worden, dreht sich einem der Magen um. Sie alle wussten, was in den Gaskammern passiert. Landsleute, Freunde, Fremde, Familienangehörige wurden durch Vergasung ums Leben gebracht. Ihre Schreie stecken noch heute in den Wänden. Und dann soll man dort wider für Ordnung sorgen, damit der Menschenmord weitergeht? Keine Chance für Verweigerung! Und dann diese Chroniken. Teils sachlich, teils emotional, immer jedoch wahrhafte Zeugnisse.

„Briefe aus der Asche“ ist ein Mahnmal. Mehr muss man nicht dazu sagen. Man muss es lesen. Das verstehen kommt von ganz allein.