Archiv der Kategorie: Urlaubslektüre

Berühmte Frauen der 50er und 60er Jahre

Liselotte Pulver – das Ambiente kann noch so trist sein, es dauert nicht lange bis die Stimmung ins knallbunte kippt.

Francoise Sagan – ikonischer Freigeist, der der eigenen Unnachgiebigkeit erlegen ist.

Niki de Saint Phalle – ihre Nanas werden alle Zeiten überleben und ihren Namen bekannt halten.

Brigitte Bardot – ewige Verlockung mit dramatischen Wendungen, die sich selbst nur schwer akzeptieren kann.

Maria Callas – von Ängsten geplagtes Einmal-Talent, deren Stimme nachfolgende Generationen ins Zittern geraten lässt.

Nur vier – durchaus die berühmtesten dieses Buches – Namen, Ikonen, Frauen einer Zeit, die nur auf dem Papier vergessen scheint. Stilistisch prägen die 50er und 60er Jahre noch heute das Erscheinungsbild von Städten und Menschen – Stil vergeht nicht.

Wie im Rausch blättert man durch dieses Buch und erfährt selbst über die, die man zu kennen glaubte, noch Neues und wundert sich, dass es einem als neu erscheint. Denn alles ist bekannt. Prinzessin Soraya, die erste Frau des letzten Schahs von Persien, war die Getriebene nach ihrer Scheidung von Mohammad Reza Pahlevi. Ruhe Stunden, Minuten, gar Sekunden kannte sie nicht. Irgendwo lauert immer eine Kamera. Und wenn nicht physisch, dann zumindest in den Gedanken der traurigen Prinzessin. Erst Jahrzehnte später wurden gesetzliche Vorlagen geschaffen, die die Privatsphäre derartig berühmter Menschen ein wenig besser schützen sollen. Ihr Verdienst.

Charlotte Ueckert hat sich Symbolfiguren der ersten Jahrzehnte nach dem Krieg herausgepickt und ihre ikonische Stellung und deren bis heute anhaltende Wirkung, herausgearbeitet. Herausgekommen ist mehr als nur eine bunter Blätterwald für all diejenigen, die „ach ja, die kenne ich noch … von damals“ mehr als nur eine Erinnerungslücke ansehen. Die Werke von Doris Lessing werden ihren Namen nie verblassen lassen. Ebenso das Werk von Niki de Saint Phalle. Die Aufführungen der Callas laufen in digitalisierter Aufbereitung noch heute in Kinos. Und die Bardot ist und bleibt das Sex-Symbol – ob sie es nun will oder nicht – ihrer Zeit. Sie alle sind auf irgendeine Art und Weise haltbar gewordene Erinnerungen. Doch meist sieht man nur ihre Hülle. Je mehr man in dieses Buch eintaucht, desto mehr gräbt man sich in das Leben der vorgestellten Frauen, die mehr waren als Beiwerk oder zweidimensionaler Augenschmaus für Jung und Alt, Mann und Frau. Ihr Tun hat mal mehr, mal weniger merklich Spuren hinterlassen, die niemand mehr verwischen kann. Dieses Buch hilft eindrucksvoll dabei diese Spuren zu erkennen.

Herz der Finsternis

Afrika, mittendrin, ganz tief drin … im Herz der Finsternis. Ein Traum. Auch für Jósef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski. Joseph Conrad hat er sich später genannt, und unter diesem Namen wurde er weltberühmt. Auch und besonders für „Herz der Finsternis“. Und wie seine Crew im Buch, der Erzähler und der Kapitän Marlow – unverkennbar Conrad selbst – reiste er. Doch nicht mit der Kamera in der Hand – nicht nur, weil Kameras im 19. Jahrhundert vielmehr Platzfresser als nützliches Erinnerungswerkzeug waren – sondern mit dem Herzen. Conrad bereiste, was möglich war.

Afrika war seine große Liebe. Auch wenn es im Buch manchmal nun wirklich nicht so aussieht. Auf dem Kongo ist was los! Waren werden von A nach B geschippert. Menschenhandel allenthalben. Die belgischen Kolonialisten überziehen brutal das Land.

Unvermittelt soll der Agent Kurtz aus dem Dschungel geholt werden. Er hat sich ein kleines reich geschaffen, das er mit harter Hand regiert. Und das ist den Machthabern ein Dorn im Auge. Auch und vor allem, weil die Gefolgsleute von Kurtz ihm blind folgen. Der Agent wird aufgetan, folgt brav und …

Bei dem Namen Kurtz, der Dschungel-Location klingeln bei allen Cineasten die Ohren. Na klar, das ist doch die Geschichte aus „Apocalypse Now“. Es ist natürlich umgekehrt, denn die Geschichte erschien bereits 1899, der Film erst acht Jahrzehnte später. Und mit diesem Wissen im Hinterkopf baut sich vor dem Leser eine Kulisse auf, die an Gigantismus nicht zu überbieten ist. Man spürt die drückende Hitze. Die Enge des Spielraums, der den Handelnden zur Verfügung steht ist beklemmend. Und immer wieder die feine, schneidende Humor, der bin in die kleinste Räume vordringt. Happy life an exotischen Orten ist anders. Hier herrschen andere Regeln, und man hat Zeit sich um die existenziellen Fragen des Lebens zu kümmern.

Jede Passage der Geschichte ist es wert mehrmals gelesen zu werden. Die eindrücklichen Beschreibungen von Natur, dem Leben in der Ferne, dem Elend und der ungezügelten Wut kleben den Leser an dieses Buch. Das praktische Format lässt keine Ausreden zu – von wegen, kein Platz für Literatur im Koffer. Dieses Buch passt in jede Gesäßtasche. Aber das buch gehört in die Hand, vor die Augen, in den Sinn. Für Immer! Zeitloser Klassiker, der in finsterster Nacht strahlt!

Spatriati

Zieht man eine Übersetzungs-App zu Rate, was Spatriati bedeutet, kommt man dem Kern nur sehr zögerlich nahe. Auswanderer, im Ausland lebende. In Apulien, wo Claudia und Francesco leben, nennt man so diejenigen, die nicht so recht ins Bild passen. Und Claudia und Francesco sind die idealen Aushängeschilder für diesen Begriff. Ist es bei Claudia vordergründig ihre äußere Erscheinung – allein ihr Teint und ihre Haarfarbe passen so gar nicht ins vorgefertigte Bild vom Süden – so ist es bei Francesco seine – ebenso wenig mit Süditalien in Verbindung gebrachte – Verschlossenheit.

Er ist verliebt in Claudia. Es ihr zu sagen, käme ihm aber nicht in den Sinn. Das ausgeflippte Mädchen mit den roten Haaren und der Mozzarella-Haut (farblich) sieht in ihm eigentlich nur einen Leidensgenossen. Zum ersten Mal kommen die beiden n Kontakt als Claudia Francesco eröffnet, dass seine Muter ihren Vater liebt. Und sie zusammenwohnen. Francesco hat das nicht mitbekommen. Aber so richtig wundern kann er sich nicht darüber. Er war und ist ein Einzelgänger mit eigenen Gedanken. Aber so kommt er wenigstens mit Claudia in Kontakt…

Doch die Freude währt nur kurz. Claudia hat ihren eigenen Kopf. Und ihre eigenen Ideen. Und Wünsche und Pläne. Da passt niemand mehr dazu. Schon gar nicht Francesco! Sie will raus! Raus aus Apulien, der sie erstickenden Enge. Weg, weit weg. London, vermutet Francesco. Doch bis zum Abschied dauert es noch. Claudia nimmt jede Gelegenheit zur Flucht wahr. Flucht in Gedanken. Jeden (An-)reiz zum Fliehen präsentiert sie sich selbst auf dem Silbertablett. Und Francesco zerreißt es jedes Mal das Herz, wenn Claudia sich in neue Abenteuer stürzt. Doch Treue ist ihm wichtiger als eigenes Glück.

Doch der Tag der wahren Flucht wird kommen. Und er kommt. Mit einem Mal. Statt London wird es Berlin. Claudia ist nun ca. zweieinhalb Flugstunden entfernt. Die Provinzenge ergreift auch von Francesco mit einem Mal Besitz. Die vertraute Beschränktheit der apulischen Provinz erdrückt auch ihn. Oder ist es die Sehnsucht nach Claudia? Beides. Und Berlino soll ihn nun befreien. Er folgt ihr in die gigantische Weltstadt und erfährt, was es heißt Freiheit selbst erhalten und gestalten zu müssen. Claudia ist ihm da keine große Hilfe. Aus den Aussetzigen sind Auswanderer geworden. Spatriati bleiben sie.

Auswandern als geographische Veränderung ist das Eine. Im Kopf diese Veränderung als Zugewinn zu betrachten etwas Anderes. Erwartungshaltung und Realität klaffen oft weiter auseinander als man es sich vorstellen kann – so manche Auswanderer-Soap beweist das seit Jahren. Mario Desiati blickt tief in die Seele derer, die von Träumen überfordert das Glück vor der Haustür nicht erkennen können.

Die Gärten des Alkinoos

Reisen bildet, auch wenn das ab und zu mit einem oberlehrerhaften Fingerzeig verbunden ist. Doch was ist schlimmer? Sich von einem erfahrenen Reisenden einen wirklich exponierten Aussichtspunkt zeigen zu lassen oder sich im Nachhinein eingestehen zu müssen, dass die hundert Meter und das zweimalige Abbiegen – das man abgelehnt hat – vielleicht doch besser gewesen wären als die Cola in der schäbigen Bar an der befahrenen Hauptstraße?

Odysseus war einer der ersten, der die Welt bereiste. Und dessen Abenteuer aufgeschrieben wurden. Seitdem hangeln sich Autoren aus aller Herren Länder an diesem Beispiel entlang und führen ihren Zeigefinger über die Landkarten der Erde. Wolfgang Geisthövel verbindet die Antike mit der modernen Zeit. Er folgt historischen Routen in der Gegenwart. Ja, sie sind noch da, die Hinweise. Und wenn man die Texte von Vergil und Homer intensiv liest, findet man die Orte fast so genau wie ein modernes Navi.

Was waren das noch für Zeiten als man den Zedernduft noch allerorts wahrnehmen konnte. Keine Rauchschwaden mit überzogenem Apfel-Zimt-und-was-weiß-ich-sonst-noch-Duft. Hügellandschaften, deren Bewohner den Reisenden im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verdrehten. Orte, die dem Reisenden mehr als ein „krass“ entlockten.

Apulien, Kalabrien, Kampanien, Sizilien, Korsika, Sardinien, Griechenland – nicht nur Sonnenanbeter werden bei der bloßen Erwähnung dieser Ziele unruhig und packen in Gedanken schon mal ihr Reisegepäck. In dieses Reisegepäck gehört so ganz nebenbei auch dieses Buch.

Denn wer sich nicht gern durch die oft rätselhaften Texte der alten Meister durchwühlen und durch die allzu lockeren Interpretationen ohne Ortsangaben sich nicht stressen lassen will, wird mit diesem Buch in der Hand – und da gehört es hin – eine Odyssee mit happy end erleben.

Es ist ein Erlebnis zu lesen, dass man in Taormina, Giardini-Naxos nicht zwangsläufig in Badeschlappen, schon am frühen morgen völlig erschöpft auf dem Bordstein sitzend auf den nächsten Bus warten muss. Und dass Palermo nicht nur aus lärmenden Märkten besteht, sondern auch Ruheoasen hatte, die man heutzutage zwar suchen muss, die aber schon Goethe kannte. Und vor allem seine Wegweiser bis heute weisend sind…

Es sind Bücher wie dieses, die Reisen in eine besondere Zeit verwandeln. Dort, wo schon viele waren, müssen nicht immer noch viele sein. Und wenn doch, hält man inne, blättert ein wenig durch die Seiten und lässt den Lärm der Moderne um sich herum im Rausch und Rauch der Worte aufsteigen.

Dieses Salzburg!

Schon in Salzburg verliebt? Schon dieses Buch gelesen? Oder noch nie in Salzburg gewesen und dieses Buch auch noch nicht gelesen? Salzburg und dieses Buch gehören zusammen wie Nockerln und Mozart – es geht nicht ohne!

Fast neunzig Jahre sind vergangen als dieses Buch zum ersten Mal erschien. Auf Englisch! Von einem Österreicher geschrieben. Ferdinand Czernin. Er musste Österreich verlassen – seine Einstellung zum Nationalsozialismus ließ ihm keine andere Wahl. Seit 1934 lebte er in London, später in den USA.

Über die Jahre hat dieses Buch seine Einzigartigkeit und Allgemeingültigkeit bewahrt. Das liegt zum Einen an dem einprägsamen Stil. Czernin nimmt sich selbst nicht so ernst, und zum Anderen ist es eine Wohltat zu lesen wie sehr doch der allgemeine Wandlungswahn nicht bis in jede kleinste Ritze vordringen kann. Zu der Zeit als dieses Buch erstmals erschien, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, war Salzburg einfach nur die Stadt mit dem weltberühmten Festival. Max Reinhardt inszenierte den Jedermann. Aus aller Herren Länder pflegte man den situierten Ausflug in die Alpen, um dem kulturellen Hochgenuss frönen zu können. Von gekrönten Häuptern bis hin zur Bohème traf man sich an der Salzach.

Ach und Mozart war für viele auch noch ein Grund hierher zu kommen. Um das Musikgenie kommt man eben nicht herum – auch wenn seine Lebensgeschichte auch eine Leidensgeschichte ist. Ein Genuss zu lesen wie Ferdinand Czernin die Ehehölle Mozarts als Triebfeder für seinen Komponierwahn heranzieht.

Aus heutiger Sicht ist diese – von Gabriele Liechtenstein kommentierte – Ausgabe ein echtes Fundstück. Als Zuckerli zum herkömmlichen Reiseband ist es fast schon unerlässlich. Czernin weist niemanden den Weg zum nächsten Highlight der Stadt. Er ist der gut informierte und eloquente Reisebegleiter, der neben einem herstiefelt und jede Anekdote kennt. Und vor allem nicht für sich behält!

Die elegante Aufmachung des Buches ist nicht mehr als die logische Konsequenz aus der Wiederentdeckung dieses Klassikers. Knallbunt und langlebig praktische Aufmachung wären nur fehl am Platze. Hier zählt der Inhalt, und der soll gefälligst in einem passenden Outfit seinen Dienst antreten. Und das tut er. Unermüdlich. Wissbegierig. Informativ. Und unterhaltsam. Der nächste Salzburg-Aufenthalt wird garantiert ein anderer sein.

Wage es nur!

Man muss ja nicht immer gleich das Schlimmste annehmen. Doch wenn die eigene kleine Welt ins Wanken gerät – und sei es nur im eigenen kleinen Hirn – muss man vorsichtshalber schon mal die Messer wetzen.

So sieht es zumindest Beth Cassidy. Sie ist die Top-Cheerleader an der Sutton Grove High. Auf der Pyramide aus eingefrorenem Lächeln, bunten glitzernden Pailletten und befreiendem Whooo-Rufen steht sie ganz oben. In jeder Hinsicht. Beth sagt, alle (!) Anderen kuschen. Besonders Addy, Addy Faddy. Sie ist Beth fast schon verfallen. Sie gibt ihr Halt – beim Cheerleading ist es umgekehrt…

Eine Tages steht Colette French auf der Matte. Die neue Trainerin der Cheerleader. Trillerpfeife und – das sieht man schon, das sehen alle – eine ausgebuffte Ex-Cheeleaderin. Und sie ist streng. Strenger als ihre Vorgängerin, die nun ihre Rolle als fürsorgliche Mutter ihrer Teenager-Tochter mit Mutterrolle wahrnimmt. Es geht richtig zur Sache. Militärischer Drill ist angesagt. Trödeleien gibt es nicht mehr. Und siehe da: Das Team wird besser, stärker, selbstbewusster. Nur Beth ist irgendwie so gar nicht begeistert von der Neuen. Beths Hauptrolle als unbestrittene number one wackelt gehörig.

Und dabei ist Colette French eigentlich gar nicht das alles fressende Monster. Sie ist professionell und liebenswert. Wer ihr die Harke vor die Füße wirft, dem tut sie nicht den Gefallen drauf zu treten und sich das Gesicht zu ruinieren. Doch Beth sieht das anders. Ganz anders. Sie muss was tun. Sie wird was tun.

Bis es soweit ist, wirft Autorin Megan Abbott ist ihr ganzes Können ihr die Waagschale, um dem Leser auf rund dreihundert Seiten die ganze Kunst der schleierhaften Spannung durch die Adern rauschen zu lassen. Man weiß, dass etwas passiert. Sogar was passiert ist klar – steht ja schließlich auf den ersten beiden Seiten. Wie es dazu kam, und was dieses ETWAS nun genau ist, das baut sich Kapitel für Kapitel, Seite für Seite, Absatz für Absatz langsam auf.

Der Ort ist so typisch Highschool-Amerika, dass es fast schon weh tut. Chocolate-Chip-Cookies, Wodka, Einkaufen am Honeycutt Drive, lässig über die Schulter hängende Collegejacken, Schmollmund – eine Setting wie in einem Teenagerfilm, der am Sonntagnachmittag die Sonne da draußen vergessen lässt. Doch hier brodelt es gewaltig im Kessel der Eitelkeiten. Das Blut spritzt erstmal nur als Galle, die die Zunge tröpfchenweise verlässt. Der bittere Geschmack bleibt jedoch haften. Und irgendwann … es bedarf nur eines kleinen Funken … wage es bloß nicht! Allein schon der Gedanke an Megan Abbotts nächsten Streich lässt die Hände zittern, die diesen noir in den Händen halten. By the way: Männer sind hier nur Staffage.

Wir könnten Dschungel sein

Gibt es wirklich eine endgültige Flucht? Ella versucht zu fliehen. Sie schon weit weg vorn dem, as sie einst umgab. Jetzt ist sie mitten im kolumbianischen Dschungel. Weit weg von allem, was sie einmal verstörte. Doch die Ferne ist nur eine geographische Ferne. Emotional sind ihr die Erinnerungen näher als sie es möchte.

Wie eine tödliche Umarmung ergreift der Dschungel ihre Gedanken. Dringt in sie ein. Und lässt sie nicht mehr los. In Wien ist sie aufgewachsen. Mit einer Mutter, die nicht für sie da sein konnte. Ohne einen Vater. Ihre erste Flucht war organisiert. Paris. Doch auch hier griff eine unsichtbare, dennoch greifbare Macht, nach ihr. An freies Durchatmen war nicht zu denken.

Der Kontinentwechsel – Ella ist inzwischen erwachsen – soll die Befreiung bringen. So wie dem Land. Kolumbien erwacht, die Bevölkerung erhebt sich. Doch das ist noch weit weg. Der Dschungel ist eine Barriere des Fortgangs. In jeglicher Beziehung. Farne peitschen ihr ins Gesicht. Und reißen alte Narben auf. Denn die Vergangenheit ist kein Narbengewebe, sie sitzt tiefer im Fleisch als alles andere. Narben heilen. Erinnerungen verblassen. Doch wie verblassen sie? Verschwinden sie hinter einem Vorhang?

Jedes Kapitel beginnt mit einer Rückblende. Auf den leicht abgedunkelten Seiten wird bruchstückhaft das ganze Ausmaß Ellas Vergangenheit sichtbar. Der Schleier hebt sich Stück für Stück. Die erdrückenden Erinnerungen verharren nicht hinter dem Dickicht der Vergangenheit, sie scheinen hindurch. Die folgenden Seiten ergeben erst im Zusammenspiel mit dem Grau der Erinnerungen ein komplettes Bild. Kein schönes Bild. Aber ein eindrückliches Bild, das Ella ein Leben lang verfolgt hat und noch lange verfolgen wird.

Der Dschungel um sie herum wird zum Freund. Denn er lockt die düstersten Momente ihres Lebens heraus. Die Schmach, die Pein, die Verletzungen liegen nun offen da. Sie wegzuwischen ist allerdings kein einfaches Unterfangen.

Isabella Feimer fügt der lähmenden Atmosphäre eine poetische Note hinzu. Sie macht sich angreifbar mit den „schönen Worten“ des Grauens. Ella kennt bisher nur Schmerz und Unfreiheit. Jede Zeile in diesem Buch ist jedoch ein Ausbruch aus diesem Gefängnis. Das ist die wahre Pracht dieses kleinen Buches, das dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Hirn und zehn Finger

Man fragt sich immer wieder, wie es derart kleine Bücher (und damit ist allein nur die haptische Dimension gemeint) immer noch und immer wieder schaffen Vergangenheit und Gegenwart so eindrücklich zu vereinen. Jugoslawien 1943. Die italienische Armee führt Krieg auf fremden Boden. Eine kleine Gruppe von … ja, was sind sie denn?: Slowenen, Kroaten, Serben? Kämpfer? Widerständler? … Menschen! Mit Anstand, Mut und Charisma beraubt die Aggressoren ihrer Munition. Munition im wortwörtlichen Sinne. Um ihrem Mut selbst Munition zu geben – im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinne. In den Wäldern sind sie sicher. Zumindest sicherer als auf weiter Flur. Doch die Sicherheit trügt. Die italienischen Soldaten kommen näher, durchforsten jeden Quadratzentimeter. Flucht oder Angriff? Flucht. Ja, weil sie nur einem Ziel dient: Endlich entscheidend anzugreifen. Die Beute soll die Wende herbeiführen. Und wenn nicht, dann wenigstens einen herben Rückschlag erzeugen.

Es sind junge Männer, vielleicht sogar noch halbe Kinder, die mit dem Mut der Verzweiflung nur ein Ziel kennen: Durchkommen, damit der Diebstahl der Munition nicht umsonst war. Doch die Flucht durch die Wälder, über Berge und Flüsse ist kein Zuckerschlecken. Die einzige Brücke ist hinweggeschwemmt worden. Eine Durchquerung des Flusses äußerst riskant. Blauäugig oder wohl durchdacht? Die Flussquerung wird zum Abenteuer.

Die Gruppe von Partisanen ist ein wild zusammengewürfelter Haufen. Auf dem Papier passen sie gar nicht zusammen. Doch der gemeinsame Feind lassen das Pamphlet der Vorurteile zusammengeknüllt im Morast der Zweifel verrotten. Nicht alle werden durchkommen. Niemand wird Zeit haben die Toten zu betrauern. Und nicht alle werden das ersehnte Ziel erreichen.

Gerald Kersh wacht über diese Truppe vermeintlicher Nichtzusammenpassender wie eine mütterliche Drohne. Er dirigiert sie in die richtige Richtung. Schonungslos lässt er Träume platzen. Unbarmherzig erzählt er ihre Geschichte. Ein kleines Buch, das jedoch auf jeder Seite so bedingungslos offen der Welt die Fratze der Gewalt zeigt. Wer Mut hat, kennt keine Grenzen. Ein Fluss ohne Brücke muss nicht zwangsläufig unüberwindbar sein. Nationalitäten und Ressentiments sind auf Papier gehaltene Klischees, für die das Leben der ultimative Tintenkiller ist. Ein braucht nicht viel, um voran zu kommen. Manchmal reichen ein Hirn und zehn Finger, um Großes zu schaffen.

Marken

Klingt auf den ersten Blick gar nicht italienisch: M-A-R-K-E-N. Ist es aber! Und wie! Die Region bietet alles, was das italienische Sehnsuchtsgefühl verlangt: Berge, weite Landstriche und Meer. Und jede Menge Kultur. Und sogar stundenlange Spaziergänge, in denen man nicht einen einzigen Touristen im abgeschmackten Fußballtrikot sieht.

Urbino ist sicherlich das Herzstück der Region. Eine Stadt, die vor Renaissance-Pracht strahlt. Da läuft einem das Auge über. Paläste und Straßencafés, großzügige Plätze und kuschelige Gassen. Und wer ein bisschen nach außerhalb wandert, wird mit einzigartigen Aussichten belohnt, die noch lange anhalten werden. Wie beispielsweise oberhalb der Marmitte-Schlucht bei Fossombrone. Ein grandioses Tal, dessen Hänge sich ihre Wildheit bewahrt haben. Und direkt an der Via Flaminia, die – wie soll es anders sein – direkt nach Rom führt.

Fano hingegen ist wohl nur denjenigen bekannt, die sich Rimini im Norden (gehört aber schon zur Emilia Romagna) schon abgewöhnt haben. Eine 60.000-Einwohner zählende Stadt, die mit ihrer Lage am Meer zu punkten weiß. Es lohnt sich den sauberen Sand- und Kiesstrand zu verlassen, um die Stadt zu erkunden. Und wer ganz genau hinsieht – oder in diesem Reiseband blättert – findet so manches historische Leckerli.

Sabine Becht und Sven Talaron machen einer Region die Aufwartung und zeigen jedem Willigen Orte, Plätze, Aussichtspunkte, die man nie wieder vergessen wird. So vergessen wie es scheint, ist Marken nicht. Zwischen hübsch herausgeputzt, urigen Wanderpfaden und einer traditionellen Küche finden sie noch viel mehr Wissenswertes, das bisher kaum oder noch nie in einem Reiseband vorgestellt wurde. Die Wege sind manchmal etwas weiter als anderswo auf dem Stiefel. Dafür ist hier öfter der Weg das Ziel.

Und wer sich die zahlreichen farbigen Kästen im Buch genau durchliest, staunt immer wieder wie viel typisch Italienisches aus dieser Region stammt. Der Maler Raffael wurde hier geboren, um die vielleicht wichtigste Person einmal zu nennen.

Sassoferrato ist mit Bestimmtheit einer der typischsten Orte in der Region. Ein zweigeteilter Ort – unten geschäftig, oben ganz ruhig – der seine Schönheit jedem ganz offen zeigt. Hier findet jeder, was er braucht. Wenn man sich unter die siebentausend Einwohner mischt, fällt man sicherlich auf – wie an vielen Orten der Marken – doch man fühlt sich im Handumdrehen heimisch. Wer sich bisher noch nicht für die Marken als nächstes Italienziel entschieden hat, dem wird hier eine gehaltvolle Entscheidungshilfe geboten. Wer Marken schon auserkoren hat, wird staunen, was er auf seiner To-Do-Liste noch vergessen hat.

Der Stich der Biene

Wenn der Schein das Sein übertrumpft, ist der Niedergang vorprogrammiert. So einleuchtend dieser Sinnsatz erscheinen (haha) mag, so gehaltvoll ist er im Nachhinein. Wenn man Barnes heißt, in einer irischen Kleinstadt wohnt, trifft es den Kern der Familiengeschichte ziemlich genau.

Dickie Barnes verkauft Autos. Er ist fast der einzige weit und breit, der das tut. Und trotzdem geht das übernommene Geschäft den Bach runter. Seiner Frau Imelda ist das Grund genug ihm endgültig die Liebe zu entziehen. Sie ist die Kleinstadtschönheit, die es genießt eben diese Rolle auszufüllen. Hier, wo man im Coffeeshop erstmal die aktuelle Familiensituation erläutern muss bevor man die dünne aufgebrühte Aromabombe zu sich nehmen kann, wo jeder jeden kennt, wo jeder, der nicht hierher gehört misstrauisch beäugt wird, ist das ein gefundenes Fressen für die Lästermäuler.

Am meisten leidet Cass unter dieser Situation. Sie ist achtzehn. Macht bald ihren Schulabschluss, was für sie kein Problem darstellt. Sie gehört zu den Klassenbesten. Ihre beste Freundin Elaine jedoch wendet sich urplötzlich von ihr ab. Das einstige verschworene Duett geht mit einem Mal getrennte Wege. Die Vertrautheit, die freundschaftliche Enge sind passé.

Der zwölfjährige PJ bekommt natürlich auch mit, dass der Haussegen schief hängt. Freunde machen komische Bemerkungen, das Getuschel in den Straßen beliebt auch ihm nicht verborgen. Wenn er doch nur älter wäre – dann würde er lieber gestern als heute abhauen. Pläne und Ideen hat er zuhauf.

Cass hat auch einen Plan dem Stumpfsinn, der bedrückenden Einöde zu entkommen. Bis zum Schulabschluss will sie dem Tageslicht die Farbenvielfalt des Rausches entgegensetzen. Nicht umsonst ist Irland für seine Destilliertradition bekannt.

Jeder hat einen Plan. Einen Plan, um dem Moment eine Mauer der Gleichgültigkeit in den Weg zu bauen. Doch warum das alles? Was ist denn nun eigentlich geschehen? Je länger man in den siebenhundert Seiten (!) liest, desto mehr fragt man sich, warum es diese bisher erfolgreiche Familie nicht schafft sich der Ursache des Schlamassels zu stellen. Das kann doch nicht alles angefangen haben als Imelda am schönsten Tag ihres Lebens von einer Biene gestochen wurde?! Auch der Unfall ein Jahr vor Cass’ Geburt kann nicht die Wurzel allen Übels sein. Und als Dickie schmerzhaft lernen musste was es heißt ein Mann zu sein, kann das allein nicht der Grund dafür sein.

Unterdessen entdeckt Imelda ihre Liebe zu Big Mike wieder. Der ist Elaines Vater und hatte schon immer ein Auge auf die Kleinstadtschönheit Imelda geworfen. So beschaulich das Kleinstadtleben bisher war – so bedrohlich ziehen dunkle Wolken am Horizont auf.

Paul Murray zeichnet ein graues Bild von der grünen Insel. Die Idylle der in sich geschlossenen Gesellschaft in der Kleinstadt, in der man auf den ersten Blick nichts zu vermissen scheint, ist trügerisch. Ein Jeder träumt vom Ausbruch aus der vorgeplanten Zukunft. Die, die bisher immer hier geblieben sind, haben ihre Träume auf dem Friedhof begraben und sich dem Schicksal ergeben. Die Barnes sind anders. Und doch mittellos, um sich selbst aus dem Sumpf der Verzweiflung zu ziehen. Paul Murray setzt dieser Trostlosigkeit jedoch etwas Besonders entgegen. Mit Wortwitz und Entschlossenheit gibt er den Barnes ein Werkzeug in die Hand, das jeden Widerstand aufzubrechen vermag: Humor.

Wer meint, dass man unbedingt einmal im Leben ein dickes Buch – siebenhundert Seiten – gelesen haben muss, der sollte dieses Buch als mehr als nur eine Option erachten.