Wenn der Schein das Sein übertrumpft, ist der Niedergang vorprogrammiert. So einleuchtend dieser Sinnsatz erscheinen (haha) mag, so gehaltvoll ist er im Nachhinein. Wenn man Barnes heißt, in einer irischen Kleinstadt wohnt, trifft es den Kern der Familiengeschichte ziemlich genau.
Dickie Barnes verkauft Autos. Er ist fast der einzige weit und breit, der das tut. Und trotzdem geht das übernommene Geschäft den Bach runter. Seiner Frau Imelda ist das Grund genug ihm endgültig die Liebe zu entziehen. Sie ist die Kleinstadtschönheit, die es genießt eben diese Rolle auszufüllen. Hier, wo man im Coffeeshop erstmal die aktuelle Familiensituation erläutern muss bevor man die dünne aufgebrühte Aromabombe zu sich nehmen kann, wo jeder jeden kennt, wo jeder, der nicht hierher gehört misstrauisch beäugt wird, ist das ein gefundenes Fressen für die Lästermäuler.
Am meisten leidet Cass unter dieser Situation. Sie ist achtzehn. Macht bald ihren Schulabschluss, was für sie kein Problem darstellt. Sie gehört zu den Klassenbesten. Ihre beste Freundin Elaine jedoch wendet sich urplötzlich von ihr ab. Das einstige verschworene Duett geht mit einem Mal getrennte Wege. Die Vertrautheit, die freundschaftliche Enge sind passé.
Der zwölfjährige PJ bekommt natürlich auch mit, dass der Haussegen schief hängt. Freunde machen komische Bemerkungen, das Getuschel in den Straßen beliebt auch ihm nicht verborgen. Wenn er doch nur älter wäre – dann würde er lieber gestern als heute abhauen. Pläne und Ideen hat er zuhauf.
Cass hat auch einen Plan dem Stumpfsinn, der bedrückenden Einöde zu entkommen. Bis zum Schulabschluss will sie dem Tageslicht die Farbenvielfalt des Rausches entgegensetzen. Nicht umsonst ist Irland für seine Destilliertradition bekannt.
Jeder hat einen Plan. Einen Plan, um dem Moment eine Mauer der Gleichgültigkeit in den Weg zu bauen. Doch warum das alles? Was ist denn nun eigentlich geschehen? Je länger man in den siebenhundert Seiten (!) liest, desto mehr fragt man sich, warum es diese bisher erfolgreiche Familie nicht schafft sich der Ursache des Schlamassels zu stellen. Das kann doch nicht alles angefangen haben als Imelda am schönsten Tag ihres Lebens von einer Biene gestochen wurde?! Auch der Unfall ein Jahr vor Cass’ Geburt kann nicht die Wurzel allen Übels sein. Und als Dickie schmerzhaft lernen musste was es heißt ein Mann zu sein, kann das allein nicht der Grund dafür sein.
Unterdessen entdeckt Imelda ihre Liebe zu Big Mike wieder. Der ist Elaines Vater und hatte schon immer ein Auge auf die Kleinstadtschönheit Imelda geworfen. So beschaulich das Kleinstadtleben bisher war – so bedrohlich ziehen dunkle Wolken am Horizont auf.
Paul Murray zeichnet ein graues Bild von der grünen Insel. Die Idylle der in sich geschlossenen Gesellschaft in der Kleinstadt, in der man auf den ersten Blick nichts zu vermissen scheint, ist trügerisch. Ein Jeder träumt vom Ausbruch aus der vorgeplanten Zukunft. Die, die bisher immer hier geblieben sind, haben ihre Träume auf dem Friedhof begraben und sich dem Schicksal ergeben. Die Barnes sind anders. Und doch mittellos, um sich selbst aus dem Sumpf der Verzweiflung zu ziehen. Paul Murray setzt dieser Trostlosigkeit jedoch etwas Besonders entgegen. Mit Wortwitz und Entschlossenheit gibt er den Barnes ein Werkzeug in die Hand, das jeden Widerstand aufzubrechen vermag: Humor.
Wer meint, dass man unbedingt einmal im Leben ein dickes Buch – siebenhundert Seiten – gelesen haben muss, der sollte dieses Buch als mehr als nur eine Option erachten.