Archiv der Kategorie: Urlaubslektüre

Dorf im Himmel

Große Leinwand, das Licht geht aus, der Vorhang lichtet sich. Aus der Erde erheben sich die Toten, schieben mit dem Nacken die Erde nach hinten – Charles Ferdinand Ramuz versteht es meisterhaft aber ersten Zeile (!) den Leser für sich zu gewinnen.

Nun sind wir aber nicht im Kino, sondern halten ein Buch in der Hand, das großes Kino ist. So viel darf schon mal verraten werden. Wer „Sturz in die Sonne“ gelesen hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er hier eine Fortsetzung in den Händen hält. Catherine kann ihre Enkelin Jeanne wieder in den Arm nehmen. Pierre Chemin, der Schreiner ist quasi arbeitslos. Zuvor, bevor er unter der Erde lag, schreinerte er Särge. Bé kann sehen, was er vorher nicht konnte. Und Chermignon hat wieder zwei Beine. Alles wie im Paradies. Man geht arbeiten, weil man es will – ist ja wie im Kommunismus, und das vor traumhafter Kulisse in der Westschweiz.

Das Paradies gedeiht. Alle lächeln. Es gibt ja auch keinen Grund Trübsal zu blasen. Denn das Drumherum ist wie früher. Die Seele ist nun aber frei. Die Sonne scheint, brennt alle Sorgen hinweg. Erste Risse kommen im „Dorf im Himmel“ auf als Thérèse mit einer Ziege weniger ins Dorf zurückkehrt als sie es am Morgen verlassen hat. Das muss Schicksal sein. Denn so viel Glück hat niemand verdient. Egal, was er im vorherigen Leben getan hat. Karma ist eine ruhelose Seele.

  1. F. Ramuz war ebenso eine ruhelose Seele. Er wollte vom Schreiben leben, weswegen sein geistiger Ausstoß enorm war. Oft schrieb er an mehreren Werken gleichzeitig. Entwürfe wurden überarbeitet. Titel geändert. Nur, um dann doch wieder in der ursprünglichen Fassung vollendet zu werden. „Dorf im Himmel“ ist so ein Buch. Vier Versionen gibt es. Und diese hier nun hat ihm wohl am besten gefallen. Was nachvollziehbar ist.

Wo andere Autoren sich dutzende von Seiten ellenlange Einleitungen ausdenken, kommt Ramuz gleich auf den Punkt. Schon vor dem ersten Umblättern kennt man die Lokalität in- und auswendig. Bei so viel beschriebener Freude muss man einfach mitlächeln mit den Auferstandenen. Und wenn sich der Himmel über den Bewohnern verdunkelt, fühlt man die Verzweiflung der Protagonisten bis in die Fingerspitzen. Ein Paradies in Buchform, das man nicht nach physikalischer Größe beurteilt.

Zeig mir den Platz an der Sonne: Eine deutsche Chronik in Schlagern

Zum Schlager hat einfach jeder eine Meinung. Und es gibt, wenn man es genau nimmt auch nur zwei Meinungen: Man mag ihn (sprich vergöttert ihn) oder man hasst ihn (und das mit Haut und Haaren). Aber eigentlich … ach was soll’s: Man kann ihn in Teilen mögen. Das komplette Spektrum des deutschen Schlagers ist unmöglich. Es gibt also drei Meinungen. Liebe – Hass – Teilsympathie.

Da steht man im Publikum bei einem Konzert einer Band, von der ein Teil zu den Urgesteinen des deutschen Hardrocks gehört. Und plötzlich kreischt einer „Da sprach der alte Häuptling der Indianer“. Was’n hier los?! Rockmusik, sägende Gitarren und dann „Hu, ha“. Es passt aber dann doch irgendwie ins Bild. Melodie, Mitsingzwang, Körperertüchtigung zu Liedern, die man seit Jahren, Jahrzehnten kennt. Und dabei war der Schlager mal tot. Toter als tot. Erst mit der Neuen Deutschen Welle, und dem mit Verzögerung folgenden Spaß-Schlagerboom der Neunziger wurde die „Heile-Welt-Attitüde“ wieder salonfähig. Heute ist Schlager für viele gescheiterte Musiker die einzige Chance die Miete bezahlen zu können. Oh, das war gemein. Aber schaut man sich die Szene und die Ursprünge von einige Musikern an, dann ist der Schlager nicht die logische Konsequenz ihres Tuns…

Wolf Kampmann legt die Plattenspielernadel behutsam ans Herz des deutschen Schlagers. Er findet „Spuren im Sand“, wird gehetzt vom „Hund von Baskerville“ (unglaublich, dass das Sinnbild des deutschen Schlager „Cindy & Bert“ „Black Sabbath“ einmal coverten), zieht mit den „Fischern von Capri“ aufs Meer hinaus – es wird klar, worauf es hinaus läuft, oder?!

Und er nimmt den Schlagerfreund höflich an die Hand und zeigt ihm, dass seichet Melodien durchaus ernsthafte Inhalte vermitteln können. Entertainment ist in Ordnung, aber mit einer Botschaft bleibt länger etwas haften im Ohr des Hörers. Feminismus ist nun wahrlich keine Erfindung der Neuzeit. Der Begriff ist nun vielleicht häufiger zu hören, aber die Inhalte, die Forderungen waren schon immer da. Mal leicht sarkastisch als „Wenn Du denkst, du denkst, dann denkst Du nur Du denkst“ – wohl der leichteste Marsch (in der Musik) der Geschichte – ein anderes Mal schon kämpferischer bei Ina Deters „Neu Männer braucht das Land“ – ist das noch Schlager?

Wie auch immer: Jeder kann mindestens zwei Händevoll Schlager aufzählen und sogar mitsingen/-grölen. Noch immer gehen Künstler auf Tour, die mit einem oder mehreren Hits tatsächlich Generationen beeinflusst haben. Liedzeilen, die in den Sprachgebrauch übergegangen sind und Neuinterpretationen von Hits durch Nachfolgegenerationen lassen das Genre nicht noch einmal sterben. Und dieses Buch ist zum Einen eine Rundreise durch Schlagerdeutschland, zum Anderen Lexikon wider das Vergessen mit einem Augenzwinkern, das so schön strahlt im Scheinwerferlicht der Konzertarenen…

Leben verboten!

Manchmal weiß man schon vorher, dass der Tag nicht so verlaufen wird wie es sein sollte. Die Zeichen sollte man nicht ignorieren. Ernst von Ufermann muss nach Frankfurt fliegen, um mit den erhofften Krediten die Firma zu retten. Ihm geht’s soweit gut. Haus, Frau, Kind, Hausmädchen, Chauffeur – für das Jahr 1931 ein angesehener Mann. Doch die Aufregung vor dem Flug lässt ihn des Nachts nicht zur Ruhe kommen. Anzeichen Eins. In Windeseile lässt er sich zum Flugplatz Tempelhof chauffieren, gibt seinem Chauffeur noch ein paar Anweisungen mit auf den Weg. Und stürzt sich ins Getümmel am Flughafen. Er wird angerempelt. Ist ja normal, bei so vielen Menschen. Und plötzlich bemerkt er, dass Geld, Papiere, Ticket verschwunden sind. Das war kein Zufall, dass Ernst von Ufermann angerempelt wurde. Anzeichen Zwei. Was soll er nun machen? Frühstück, Zeitung lesen. Auf Anzeichen Drei warten? Und da ist es schon. Das Flugzeug, in dem er sitzen sollte, stürzt ab. Alle Passagiere kommen ums Leben. Auch er, der vermeintlich prominente Fluggast. Anzeichen Drei entpuppt sich plötzlich als einzigartige Chance. Was, wenn er weiterhin für tot geglaubt werden würde? Seine Frau bekommt die Lebensversicherung ausgezahlt, eine enorme Summe. Die Firma ist gerettet. Das Leben der Familie gesichert. Doch was ist mit ihm, Ernst von Ufermann.

Wien ist sein erster Anlaufpunkt. Hier wird er zu Edwin von Schmitz, das „von“ muss bleiben… Eine Prostituierte hat ihm die Flucht bzw. den Fluchtpunkt ermöglicht. Für einen Gefallen, den er ihr und ihren Kumpanen tun soll. In Wien ist alles anders. Die Tochter der Familie, bei der er unterkommt, verliebt sich in ihn, nachdem sie ihn lange misstrauisch beäugt. Er vertraut ihr und gibt sich als Ernst von Ufermann zu erkennen.

Es wird Zeit zurückzukehren, nach Berlin. Doch die Zeiten haben sich geändert. Niemand erkennt ihn, will ihn wieder erkennen. Und plötzlich tritt auch die Polizei in Erscheinung. Dann kommt, nach langer Zeit, Anzeichen Nummer Vier. Nach langer Zeit der Ruhe, einem neuen Leben, der Sehnsucht nach dem alten Leben, wird es rasant im Leben von Ufermann/Schmitz. Das letzte Anzeichen bewahrheitet sich vollends. Dieser Tag wird nicht so verlaufen wie er sollte…

Maria Lazar verließ ihr Wien rechtzeitig vor dem Terror des braunen Mobs. Ihre Romane wurden viel gelesen, meist waren sie unter Pseudonymen veröffentlicht. Sie floh nach Dänemark, wo sie auch Bertolt Brecht und seien Frau Helene Weigel einen Unterschlupf organisieren konnte. Doch nach dem krieg war sie vollends in Vergessenheit geraten. Eine langwierige Krankheit die schwindende Aussicht auf Heilung ließen sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Es dauerte mehrere Jahrzehnte bis ihre Romane wiederentdeckt wurden. Sie sind immer noch frische, vor Spannung platzende Zeugnisse einer Zeit, die die Autorin zerfleischte, ihre Leserschaft aber bis heute fasziniert.

Albanien

Vier Jahre lagen zwischen der ersten und der zweiten Auflage dieses Reisebandes. Da hat sich einiges getan. Nicht nur im Land selbst, sondern und vor allem deswegen im Reiseband. Man stelle sich vor: Man ist mit einer Billig-Airline auf dem Rückflug von Süditalien nach Deutschland. Zwischenstopp in Tirana. Sieben Stunden. Was machen? Es gibt sicher einige, die erst mal im Oberstübchen kramen müssen, wo Tirana liegt (oder noch schlimmer: Was das überhaupt ist!). Tirana ist die Hauptstadt des kleinen Landes auf dem Balkan. Und beim Kramen im Oberstübchen fällt einem nicht viel ein, wie man denn nun die sieben Stunden Aufenthalt in diesem weitgehend unbekannten Land gestalten könnte. Die Seiten 25 bis 48 sind da ein guter Appetitanreger. Schnell stellt man fest, dass es hier vor Abenteuern nur so wimmelt. Da ist zum Ersten sicher die Küche. Nix mit Schnitzel und Kartoffeln. Hier wird’s feurig, würzig, deftig. Zum Angucken gibt’s natürlich auch jede Menge – aber das erliest man sich am besten selbst, ganz nach gusto. Und schon merkt man, dass sieben Stunden Aufenthalt gar nicht so viel sind wie man eigentlich braucht, um allein nur die Hauptstadt zu erkunden. Die Schlussfolge: Der nächste Trip geht – zusammen mit diesem Reiseband – nach Albanien. Inklusive Abstecher nach Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien. Alles in einem Buch, klar gegliedert, übersichtlich und jederzeit sofort abrufbar.

Wie wäre es zum Beispiel mit Berat. Nie gehört? Alles halb so wild, hier wird geholfen. Die Stadt der tausend Fenster. Museumsstadt und seit fast zwanzig Jahren UNESCO-Weltkulturerbe. Autor Ralph-Raymond Braun greift auf bewährte Mittel zur Erkundung zurück, Reiseberichte von Ersterkundschaftern und Autoren. Die haben immer noch einiges zu erzählen, was noch unverändert an Ort und Stelle steht. Albanien war durch das Regime von Enver Hoxha jahrzehntelang von jeglichem Fortschritt hermetisch abgeriegelt. So blieb einiges erhalten, was sonst vielleicht sozialistischem Baudrang zum Opfer gefallen wäre.

Albanien ist eines der wenigen europäischen  Länder, das noch viel Ursprüngliches zu bieten und zu erkunden hat. Da ist es mehr als hilfreich einen fundierten Ansprechpartner bzw. Reiseband zur Hand zu haben. Ob Auf und Ab auf Schusters Rappen oder der geeignete Strandabschnitt am Ohridsee an der Grenze zu Nordmazedonien, Tipps, wo man sich beruhigt niederlassen kann und wo man auf örtliche Gepflogenheiten zu achten hat. Reich an Schätzen ist Albanien ohne Zweifel. Man muss sie suchen. Man wird sie finden. Einfacher wird das mit diesem Buch!

Maikan

Einskommaneunmilliarden. So in einem Wort geschrieben ist es schon beeindruckend. 1 900 000 000 Kanadische Doller. So viel hat die Regierung des zweitgrößten Landes Autochthonen zugesprochen, die in der Vergangenheit in Internaten untergebracht wurden, wo ihnen ihr indigener Lebensstil vor allem wortwörtlich aus dem Leib geprügelt wurde. Völkermord nennt man das klangvoll und markant. Eine Entschuldigung (zusammen mit der Zusage auf Entschädigung) gab es erst vor ein paar Jahrzehnten. So weit so gut. Doch wie kommen die Berechtigten an ihr – nein, nicht an Gerechtigkeit! – zustehendes Recht? Oft sind ihre Namen aus den Archiven getilgt. Sie wissen nichts von Entschädigung, leben am Ende der Gesellschaft.

Die Anwältin Audrey Duval versucht die Maikan, die Wölfe, wie sie diskreditierend von Nonnen und Mönchen, die den Internaten vorstanden und ihrer Willkür freien Lauf ließen, genannt wurden, aufzuspüren.

Sie findet unter anderem Marie. Sie war eine von mehr als einhundertfünfzigtausend Kindern, die ihren Eltern, ihrer Heimat, ihrer Art zu leben entrissen wurden und in einem der weit über hundert Internate verschwanden. Ihre Sprachen duften sie nicht mehr sprechen. Bei Zuwiderhandlungen drohten Strafen, die nicht nur an Folter erinnern. Es war Folter! Marie ist Alkoholikerin. Das Leben hat sie ausgespuckt auf die Straßen der Provinz Quebec. Hier wird sie auch angespuckt. Der Teufel hat sich ihre Seele schon gesichert. Hoffnung fällt ihr nicht im Leben ein zu buchstabieren.

Michel Jeans Romane erzählen auf eindrucksvolle Art und Weise vom menschenverachtenden Umgang mit Autochtonen, von ihrer Kultur und ihrem harten Kampf ums Überleben. Wenn die Kultur verschwindet, verschwindet der Mensch. Wölfe können beißen. Doch die Maikans haben ihren Biss verloren. Alle Reißzähne wurden ihnen herausgerissen. Nur Audrey Duval kann ihnen teilweise einen Teil ihrer Würde, zumindest aber einen gehörigen teil ihres ihnen zustehenden rechts zurückgeben.

Immer wieder liest und hört man von Völkermord. Ein Wort, das schon so oft verwendet wird, dass man es kaum noch wahrnimmt. Egal, ob in aktuellen Kriegen oder in Reportagen über die Geschichte Europas, Asiens, Afrikas und Amerikas. Dass auch Kanada zu den Übeltätern gehört ist weitgehend unbekannt. Michel Jean ist in seinem Land ein Star. Auch und gerade wegen der Themen, die er in seinen Romanen anspricht. „Maikan“ gehört zu den wichtigsten Büchern, die man lesen muss, um menschliche Abgründe zu erkennen.

Gabriele

Hier Schloss Planegg, da die Gurktaler Alpen. Hier der Wörthersee, da die Gitschen, der Kronawetterschnaps. Gabriele wächst mit dem goldenen Löffel im Mund auf. Ihr Herr Papa ist der Baron. Die Welt ist noch in Ordnung, der Weltkrieg liegt noch in der Ferne. Doch die Wolken verdunkeln sich. Gabriele sieht, dass ihr Leben wie sie es kennt bald schon ein Ende haben könnte. Ihr Herr Papa sieht das nicht – k.u.k. ist sicher wie der Fels in der Brandung. Und die Frau Mama? Na die ist mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Familie.

Gabriele ist nun in dem Alter, in dem man sich schon mal einen Mann fürs Leben aussuchen könnte. Doch das ist gar nicht so einfach. Die Monarchie lebt es Tag für tag vor. Ein Attentat hier, ein Skandal da. Speichellecker wohin man sieht. Und als gebildete junge Frau hat sie auch Ansprüche.

In Wien, wo man als Familie von Welt ebenso wohnhaft ist wie in der beschaulichen Provinz im Westen des riesigen Kaiserreiches, ist es um ein Vielfaches leichter sich zu präsentieren und vielleicht den Gemahl fürs Leben zu finden. Muss nicht immer die große Liebe sein…

Der Herr Alfred bietet sich an. Eine Karriere kann er anbieten. Doch dem Herrn Papa – und da tritt er dann doch wieder in den Vordergrund – ist dieser Herr zu … tja, windhundig? Ernst kann er ihn nicht nehmen. Gabriele ist da noch hin- und hergerissen.

Das Trauerspiel an diesem so gefühlvollen, mit Anekdoten gespickten, vor Lokalkolorit nur so sprühenden Roman ist die Unvollkommenheit. Unvollkommen im Sinne von, dass der Autor nicht das Ende selbst schreiben konnte. Paul Wiegler war Lektor in Berlin, unternahm mehrere Reisen an die Adria, den Balkan und natürlich ins damals noch riesige Österreich. Seine Erlebnisse fasst er in kurzen Fragmenten zusammen, die am Ende des Buches stehen. Sie sind die Grundlage für diesen Roman, der keine Liebesgeschichte ist mehr eine Bestandaufnahme der Gesellschaft vor etwas über einhundert Jahren. Dieses Grundgerüst reicht jedoch vollkommen aus, um in eine Welt eintauchen zu können, die längst nicht mehr existiert. Die volksnahe Sprache, die hier eigenen Begriffe ziehenden Leser in einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Er weckt die Lust an der Wiederentdeckung der Reisen von Gabriele. Ragusa und Spalato oder doch Dubrovnik und Split? Schon nach wenigen Seiten wird klar: Beides. Und immer mit dabei: Dieses Buch!

Die Nixen von Estland

Ja, es gibt sie. In allen Erscheinungsformen. Sie haben unterschiedliche Fähigkeiten. Nixen. Besonders in Estland. Es muss sie einfach geben. Denn sonst wäre dieses außergewöhnliche Buch in dieser faszinierenden Aufmachung einfach nur ein Witz. Enn Vetemaa hat das erste Bestimmungsbuch für Nixen in Estland geschrieben. Und es wird auch das letzte Buch zu diesem Thema sein. Mehr geht nicht!

Die Najadologie ist ein eigenständiges Wissenschaftsfeld. Nixen gibt es wirklich. Selbst in Kanistern haben sie es sich gemütlich gemacht. In Sträuchern leben sie oft unerkannt. Frühsommer ist eine der Jahreszeiten, in denen man sie am häufigsten erspähen kann. Dafür braucht man nicht einmal eine spezielle – oder gar außergewöhnliche – Ausrüstung.

Und es gibt so wundervoll poetische Unterteilungen. Es gibt Schönhaarige, Waschversessene, Nackttitten (zweimal Doppel-T – wenn das nichts ist?!), Kopfkratzerinnen und Lauthalsige. Wer nun meint, dass er es hier mit einem durchaus fragwürdigen, eventuell frauenfeindlichen Buch zu tun hat, wird ob des wissenschaftlichen Duktus und der überaus expliziten und umfassenden Darstellungen der Objekte eines Besseren belehrt. Nudimamillaris gigantea klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich anmutend. Wer hingegen von Nackttittigen Wuchtbrummen liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in jeder Phantasie ein Fünkchen Wahrheit steckt. Stecken muss.

Es ist so: Ein bisschen Glaube schadet nicht. So wie bei schwarzen Katzen die den Weg kreuzen. Laufen sie nach links, ist alles in Ordnung. In der Gegenrichtung wird man schon gern einmal dazu verleitet am Abend den Tag Revue passieren zu lassen und zu überprüfen, ob selbiger wirklich gut verlaufen ist seitdem die Mieze von Links nach Rechts gelaufen ist. „Die Nixen von Estland“ als pure Folklore ohne echten Anspruch auf Richtigkeit abzutun, wäre fatal. Denn wer weiß, taucht beim nächsten Strandspaziergang eine Nixe auf. Und dann? Darf man das Wort Nixe benutzen? Oder verschwindet sie dann gleich wieder in den Fluten? Sind sie hilfereiche Begleiterinnen in schwierigen Lebenslagen? Muss man Argwohn hegen? Wie erkennt man sie? Dringt man unaufgefordert in ihren Lebensraum ein – was passiert?

Die Gestaltung dieser Ausgabe durch Kat Menschik wischt jeden noch so schwachen Zweifel von der Existenz der Nixen mit zielgerichteten Strichen vom Tisch! Mit mehr als einem Augenzwinkern gestaltet sie Räume ohne Wände. Dem Leser sind Text und Bild Wegweiser in eine faszinierende Welt voller Mythen, Hingabe und Frieden. Anders als so mancher Wühltischautor sich aus einem Mix aus Stammtischweisheiten und Vorabendserien seine eigenen Phantasien bierseelig zusammenreimt, ist „Die Nixen von Estland“ ein ernstzunehmendes, vor allem aber sinnlich anregendes Buch, das die Schönheit der Welt in den Vordergrund stellt. Eine Garantie Nixen auch wirklich zu treffen, kann auch dieses Buch nicht geben.

Detektiv Ameisis: Ein fast unlösbarer Fall

Ging man als Frau noch vor achtzig, neunzig Jahren in das Büro eines Breiwäteihs, irgendwo in Njuhjoork oder Ellehh konnte man davon ausgehen, dass man als Püppchen oder Missy bezeichnet wurde. Da konnte man noch so selbstbewusst sein. Irgend so ein Sam Spades oder Philipp Marlowe lauert garantiert hinter der Milchglasscheibe. Aber man konnte genauso davon ausgehen, dass das Anliegen prompt und zur Zufriedenheit aller gelöst wurde.

Heute geht man zu einem Ameisenbär. Klar, mit der Nase ist er ja prädestiniert selbige in die Angelegenheit hineinzustecken und dabei allerlei herauszu… finden, zu erschnüffeln … den Fall zu lösen. Unlösbare Fälle gibt es für Detektiv Afri Ameisis nicht.

Nita Nasoni betritt das Büro des abgehalfterten Schnüfflers. Sie stammt aus dem noblen ersten Ring. Die Stadt ist in Ringe unterteilt. Je geringer die Zahl, desto gehobener ist die Stellung der Familie. Afri Ameisis lebt im dritten Ring. Weiter draußen geht nicht. Kurzum: Für ihn kann es demzufolge nur nach Oben gehen. Jedenfalls vermisst Nita Nasoni ihre Tochter Naomi. Sie wurde entführt. Ein lohnendes Objekt, wenn man bedenkt, dass Nitas Gatte ein hohes Tier in der Finanzbehörde ist.

Afri Ameisis springt sofort an. Fast unlösbare Fälle regen seine Phantasie an, sie gehen ihm direkt unter das dichte Fell. Er kommt dunklen Machenschaften auf die Spur, landet sogar selbst hinter schwedischen Gardinen, er muss all seine Sinne zusammenhalten, um nicht in eine Falle zu tappen, aus der es kein Entrinnen gibt.

„Detektiv Ameisis: Ein fast unlösbarer Fall“ ist ein lupenreiner noir. Nichts ist wie es scheint, und trotzdem ist man immer auf der Höhe der Ermittlungen. Das beweisen unter anderem die Lesungen des Autors Matthias Kröner, der seine junge Leserschaft regelmäßig auf die Probe stellt. Wie aus der Pistole geschossen fliegen ihm dann die Antworten ihm die Ohren. Wer also meint, Krimis im Allgemeinen und schwarze Krimis im Speziellen seien nichts für junge Ohren, der irrt. Wenn Matthias Kröner zur Rätselstunde lädt, staunt man Bauklötzer (die bis in den 47. Stock reichen – dieser Vergleich ergibt sich gleich zu Beginn des Buches). Die oft zitierte Schere zwischen Arm und Reich und die damit verbundenen Vorurteile sowie die zweifelsohne bestehenden Diskrepanzen werden hier auf eine strenge und gleichzeitig für jedermann leicht verständliche Ebene gehoben.

Eine Frage bleibt jedoch unbeantwortet: Wann kommt der zweite Fall?

Millionärsurlaub auf einer kommunistischen Insel

Was sind wohl die prägendsten und ältesten Erinnerungen, die ein Mensch haben kann? Es sind wohl die an die Oma und den Urlaub. Und erst die Erinnerungen an den Urlaub bei oder mit der Oma. Nur noch zu toppen, wenn man im Urlaub mit Mama, Papa, Geschwistern, Großeltern bei den Urgroßeltern ist. Maura Lonzari hat das Nonplusultra an Erinnerungen in diesem kleinen, so fröhlichen Büchlein festgehalten.

Anfang der Fünfziger ging es für die Dreijährige zum ersten Mal nach Lussinpiccolo, Mali Losinj, einer jugoslawischen Insel in der Adria. Das Heim in Triest glich schon Wochen zuvor einem Arsenal an Dringlichkeiten und erfüllten Wunschzetteln. Die Wartezeit, ob das Visum genehmigt wird – der Eiserne Vorhang war hier vielleicht durchlässiger als anderswo, dennoch nicht minder starr und widerstandsfähig – wurde mit Vorfreude, Organisationsexpressionismus und logistischer Präzisionsarbeit ausgefüllt. Und dann endlich. Ankunft in Lussinpiccolo. Streng wurde darauf geachtet, dass Neugierige und Ankömmlinge sich nicht sofort vermischten. Die kleine Maura wollte auch nicht mehr warten und umgehend mit der ihr noch unbekannten Uroma Ballspielen. Was die Oma mit Engelsgeduld und der ihr eigenen Überzeugungskraft zu verhindern wusste.

Zuhause in Triest war die Familie eine von vielen. Hier waren sie die Attraktion. Voll gepackt mit tausend Sachen, die das Leben schöner machen, und der Neugier auf das Leben der Anderen, die so nahe wohnen, dass man ihnen vom Küchenfenster fast zuwinken könnte, gepaart mit der Anspannung, was der zeitlich begrenzte Systemwechsel (eigentlich nur ein Hereinschnuppern) so alles mit sich bringt.

Die Jahre vergehen. Die Urlaube in Lussinpiccolo sind Routine geworden. Maura Lonzari wächst zu einer jungen Frau heran, die ihre Freiheiten auslebt. Mit Folgen. Und dann auch noch im Ausland. In einem Ausland, das Familie bedeutet, aber auch Abgrenzung ob der sichtbaren, unverrückbaren Unterschiede. Die Sommer, in denen sie unbeschwert sie selbst sein kann, sind ein lieb gewonnenes Ritual. Geplante Familienzusammenführung aus Zeit mit der Leichtigkeit der Jugend.

Dieses kleine Büchlein ist die ideale Urlaubslektüre. Nicht nur für die Adria. Die Hingabe, mit der die Autorin ihre Erinnerungen sich selbst noch einmal vor Augen führt, berührt ab der ersten Seite. Schnörkellos und absolut ehrlich vollführt sie einen Freudentanz, dem man sich nur anschließen kann.

Mein Vater, vielleicht

Es lag immer ein Schatten über der Erzählerin. Ein Schatten, der ihr die Sicht niemals verdunkelte, dennoch immer präsent war. Es war der Schatten ihres Vaters. Nun, da sich die Mutter den Ende ihres irdischen Daseins nähert, nimmt der Schatten immer öfter schärfere Konturen an. Ein Satz hier, eine Andeutung da. Sobald es konkret wird, blockt die Mutter ab. Bis ihr eines Tages ungewollt, ungeplant, doch erleichtert die Wahrheit herausrutscht: Der Mann, der als Vater die Tochter erzogen hat, ist nicht ihr Vater. Nicht ihr Erzeuger, um es genau zu sagen. Die Unschärfe der Vermutungen nimmt klare Formen an. Was nun?

Soll sie ihn suchen? Ihn ausfindig machen? Ihn zur Rede stellen? Warum? Was würde sich ändern? Doch nichts tun, ist auch keine Lösung. Die Legende, dass er auf der Straße zusammengebrochen ist und unter Fremden friedlich starb, ist ein wohlwollendes Bildnis, das ihr niemals Schmerzen bereitet hat. Soll sie Wunden an Stellen aufreißen, die bisher von jeder Pein verschont blieben.

Sie entschließt sich dem Vater näher zu kommen. Näher als sie ihm jemals war. Aber auf gar keinen Fall persönlich. Ihr Ausweg – wenn man es so bezeichnen will – ist dieses Buch: „Mein Vater, vielleicht“. Schatten und Licht begleiten von nun an sie und den Leser auf einer Spurensuche, die keine sichtbaren Spuren im eigentlichen Sinne hinterlassen wird. Es sind Spuren im Herzen, im Bauch, im Kopf, die Laura Forti in den Pfad des Ungewissen setzt.

Die Familiengeschichte ist stark von Religion geprägt. Die Familie ist jüdisch. Während der NS-Besatzung Italiens eine lebensgefährliche Situation. Die Mutter ist verliebt. Sie und der Mann an ihrer Seite leben in ständiger Gefahr. Als die Zeiten wieder besser werden, trennen sich die beiden. Sie telefonieren heimlich, haben ein geheimes Signal. Stehen ständig in Kontakt. Lauras Heranwachsen ist für ihren Vater, ihren leiblichen Vater kein Mysterium. Für alle anderen herum, ist er es umso mehr.

Laura Forti gehört zu den meist gespielten Dramatikerinnen im Ausland. Mit Leichtigkeit nähert sie sich einem Thema, das schwerer kaum wiegen kann. Es ist nur logisch, dass sie in der limone-Reihe des nonsolo-Verlages mit „Mein Vater, vielleicht“ eine gewichtige Rolle einnimmt. Das Leben im Moment bekommt mit diesem Buch eine bedeutende Komponente hinzugefügt. Kein rastloses Suchen, kein zu Tränen rührendes Finden, von Kitsch so gar keine Spur. Rational und dabei zugleich emotional tiefschürfend kreist ihre Vatersuche nur um den einen Gedanken nach Erlösung aus dem Kreislauf des ewigen Fragens.