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Forughs Enthüllungen

Es ist viel geschehen seit seiner Geburt. Darius wurde 1950 im Noren Teherans geboren. Jetzt ist es 1974, er lebt nicht mehr im Iran, dem Land seines Vaters, das seit seiner Geburt nicht minder grundlegenden Veränderungen unterworfen war. Mossadegh war an der Macht, dann kam der Schah zurück und unterwarf sein Volk und gaukelte der Welt ein traumhaftes Reich vor, in dem der Prunk aus jeder noch so dreckigen Ritze quillt. Dass dem nicht so war, wusste jeder und trotzdem…

Darius Vater ist gestorben. Er will und wird ihm die letzte Ehre erweisen. Nicht aus Pflichtgefühl, ein bisschen vielleicht, vielmehr aus Respekt. Sein Vater war ein angesehener Mann. Doch Darius weiß eigentlich gar nichts über seinen Vater. Das wird sich ändern. Vom Aufstieg und Fall des Vaters – alles kennt Forugh, Darius Cousine. Doch sie weiß, dass nicht alles wissen manchmal besser ist. Sie kennt Darius nicht. Sie spürt, dass Darius wissbegierig ist. Aber sie weiß auch, dass Bruchstücke nicht zwingend ein glänzendes Mosaik ergeben.

Riss um Riss kittet Darius die Erinnerungslücken aus seinem frühen Leben und der jüngeren Vergangenheit des Vaters. Freudig strahlend bis hin zur Schockstarre – Forughs Erzählungen sind ein sprudelnder Quell, aus dem nur so viel sprießt wie Forugh es gewährt.

Als 1953 mit einem Putsch der Reformer Mossadegh – er wollte die Ölförderindustrie verstaatlichen – seines Amtes enthoben und unter Arrest gestellt wurde, wurde es eng für viele Staatsbedienstete. Ihre gut eingesessen Positionen wankten, viele fürchteten um ihre Privilegien. Einige andere blickten hoffnungsvoll nach vorn. Denn sie waren willfährige Werkzeuge der lang geplanten Aktion Ajax, mit der Mosadegh entmachtet wurde.

Darius kennt die Geschichte, kaum aber die Geschichten. Schon gar nicht die, in die sein Vater verstrickt zu sein schien…

Eva Wiesenecker verwebt unverrückbare historische Fakten mit dem fiktiven Schicksal von Darius. Vehement und unerbitterlich schildert sie eine Zeit (und ein Schicksal), das schon lange aus dem Fokus der Geschichtsschreiber verschwunden scheint. Iran – das ist islamische Revolution, Atomprogramm und unerschütterlicher Feindschaft. Doch das ist alles Geschichte der vergangenen 50 Jahre. Doch Iran, und vor allem Persien, das ist Jahrtausende alte Weltgeschichte, die von Eroberungsdrang und Gier geprägt wurde. Sagenhaft und brutal real. „Forughs Enthüllungen“ ist der einzig passende Titel für dieses Buch, das so viel Geschichtsunterricht beinhaltet wie ein meterlanges Lexikon, komprimiert auf das Schicksal eines jungen Mannes, der seine Wurzeln sucht, sie hegen und pflegen will.

Die Herrin der Vögel

Wieder ein Buch von Bachtyar Ali, das einen dahinschmelzen und ins reich der Worte gleiten lässt ohne dabei den Halt zu verlieren. Jedes weitere Wort zum Inhalt ist ein Wort zu viel. Nur so viel. Sausan ist verliebt. Verliebt in das Leben. Süchtig nach Geschichten. Brennend vor Leidenschaft für das Neue, Unbekannte. Doch ihr Körper fesselt sie an ihr Zuhause. Bücher bieten ihr die Fluchtmöglichkeit, die ihr Körper ihr verwehrt.

Sie begehrt. Und so stehen eines Tages gleich drei Verehrer vor der Tür. Sausan ist schlau. Sie wird heiraten. Und sicherlich auch einen der Drei. Doch so einfach macht sie es ihnen nicht. An der Seite eines Mannes bedeutet für sie an der Seite eines weltoffenen, gewandten, belesenen, gereisten Mannes zu sein. Ein jeder soll die Welt bereisen – acht Jahre lang (selbst die kitschigsten Teilnehmer an der kitschigsten Kuppelshow im Fernsehen würden so eine Forderung nicht mal bis zum Ende anhören). Von unterwegs sollen sie ihr Vögel schicken. Nach erfolgreicher Expedition sollen sie berichten, Zeugnis ablegen, dass ihre Reisen nicht bloßes Sightseeing waren, sondern ihren Geist geformt haben. Dann wird sich Sausan entscheiden.

Klingt wie im Märchen. Ist es vielleicht auch. Aber die realitätsnahe Sprache, die zu überwindenden Hindernisse, das betragen der Drei, die Wünsche von Sausan sind so modern, dass man sich nicht davon abbringen lässt, alles für wahr anzusehen. Wie zu einem Liebeslied voller Soul wiegt man seinen Kopf zur Melodie der Worte von Bachtyar Ali. Sausan tanzt wie ein alles um sich vergessende Fee um einen herum. Die Zeit steht still.

Nur wenigen gelingt es mit leichter Feder den Leser derart zu fesseln, dass der sich nicht befreien kann. Solchen Käfigen kann und will man nicht entkommen.

Politisches Engagement, Kritik an herrschender Ordnung ist stets Teil des Werks von Bachtyar Ali. Sie ist scharf und gerecht. Aber sie drängelt sich nicht nach vorn, um der Poesie gönnerhaft den zweiten Platz zu überlassen. Kritik tritt zurück, wenn ihre Wirkung auf einer poetischen Ebene noch wirksamer wird. Bachtyar Ali ist ein Meister dieser kunstvollen Kritik an allem, was Menschen unterwirft.

1000 places to see before You die

Im Leben gibt es unzählige Listen, die man erstellt. An die meisten hält man sich, wie den Einkaufszettel. Andere hingegen dienen – so meint man – der eigenen Beruhigung etwas zumindest in Planung zu haben. Meist gehen diese Listen irgendwann den Weg in den Abfall. Und dann wiederum gibt es Listen, die sind so dick, weil gehaltvoll, die werden niemals ihre Anziehungskraft verlieren. Bucketlist nennt man das.

Und so eine liegt in diesem Fall einmal mehr vor. Tausend Orte, die man besuchen muss bevor man es nicht mehr kann. Unmöglich? Schon möglich. Aber genauso möglich ist es tausend Orte zu bereisen. Doch wo anfangen? Hier kommt dieses Monster an Ideen, Ratgebern, Tipps, Tritten in den Allerwertesten ins Spiel. Von nun an gibt es keine Ausreden mehr! Der Anfang ist gemacht. Und der erste Schritt ist bekanntlich der erste von vielen, die noch folgen werden. Und wenn man schon mal angefangen hat…

… dann auf zum Lac d’Annecy oder nach Riga. Am besten mit einem Abstecher zu den Stränden Goas in Indien oder Sanibel und Captiva vor Florida. Oder der größten Sandinsel der Welt, Fraser Island in Australien. Zu ruhig? Dann hilft eine Shopping- oder Sightseeingtour über die quirligen Märkte von Saigon.

Man muss das Buch nur in die Hand nehmen und ein wenig darin blättern. Und schon hat man Reisefieber. Und eine Reisefibel auf dem Schoß. Klar gegliedert nach Kontinenten und Ländern. Ganz Mutige nehmen diesen Schmöker als festen Reiseplan – viel Spaß beim Urlaubsantrag ausfüllen: „Chef ich bin dann mal weg. Wenn ich das Buch abgearbeitet habe, komme ich wieder. Bis in … Jahren!“. Die Vorstellung ist doch schon sehr verlockend.

Ein Sinnes-Overkill ist garantiert. Berge, Täler, Strände, Stadtzentren, Architektur, Naturwunder, über und unter Wasser, Aussichtspunkte, Absteige wie Kletterpartien – wer hier nicht fündig wird, der hat entweder schon alles gesehen (was fast unmöglich scheint) oder will einfach nicht. Man kann dieses – nein, man sollte – dieses Buch als niemals versiegende Inspirationsquelle sich regelmäßig aus dem Regal nehmen. Reisen bildet. Lesen macht Appetit. Bei 1220 Seiten kann man sich niemals satt sehen und inspirieren lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Heute hier, morgen da. Der Sehnsucht einfach mal Futter geben. Sich selbst austesten, was alles möglich sein kann. Schon allein dafür lohnt sich ein Blick in diesen Schmöker.

Die Zauberkugel

Was Märchen erzählen, ist wahr! Mit dieser Einstellung wird dieses Buch zu einer Reise zu den Sternen. Die Sterne strahlen über Algerien, über das Volk der Kabylen, einem Berbervolk. Was weiß man als Allgemeinreisender, vielleicht als Vielleser schon über die Menschen, die im Nordosten Algeriens leben? Vielleicht fallen einigen wenigen ausgewählten Lesern die Namen Jean und Fadhma Amrouche ein. Nun kommt Tao Amrouche hinzu. Sie ist die Schwester von Jean und die Tochter von Fadhma.

Ihr allein fällt das Lob zu die Geschichten der Ahnen gesammelt und zu Papier gebracht zu haben. Natürlich ist es nicht wahr, dass der Geistervogel die schöne und tüchtige Tochter einer Familie auf ihren Schwingen ins Paradies holt. Aber mal ehrlich: Ein Märchen ohne Phantasie ist doch nichts als ein trüber Abklatsch der Realität. Bleiben wir doch gleich bei dem Gewittervogel. Die Tochter, Yamina, begleitet den Gewittervogel gern. Er wird sie für immer beschützen, all ihre Wünsche in Erfüllung gehen lassen. Und hier kommt das alle Märchen der Welt vereinende Element ins Spiel. Er stellt eine Bedingung. Sie wird niemals sein Gesicht sehen. Und solange sie nichts unternimmt ihren Mann, den Gewittervogel, anzuschauen, bleibt alles so wie es ist – nämlich paradiesisch perfekt. Doch nach elysischen Jahren wächst in ihr der Drang ihre Familie wiederzusehen. Wunsch erlaubt. Dreißig Tage wird sie im Schoß der Familie weilen würfen. Inzwischen ist Yamina zu einer bildhübschen jungen Frau gereift. Als der Abschied naht, lässt sie sich von ihren Geschwistern überreden eine Kerze mitzunehmen. Im Kerzenlicht soll sie das Gesicht ihres Beschützers erkennen. Der Plan misslingt. Vorbei das schöne Leben. Vorbei der Beschützer. Und das irdische Leben hält auch nur noch Enttäuschungen für sie parat. Das ist nur eine Geschichte in diesem Sammelband.

Verlagen wie dem Kinzelbach-Verlag ist es zu verdanken, dass fremde Kulturen nicht länger im Schatten verborgen bleiben oder aus irgendwelchen Gründen derart verfremdet werden, dass ihre Ursprünge kaum noch zu erkennen sind. Dieses Buch lesen die Großen den Kleinen vor, und beide empfinden den gleichen Spaß dabei. Besser geht’s nicht!

Tief ins Fleisch

Ismaïl hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Er und Médée waren so was wie ein Traumpaar. Beide erfolgreich im Beruf, drei Kinder, Haus – was man halt so braucht, um glücklich zu sein. Doch Routine und der ewige Kampf um die eigene Frau haben ihn zermürbt. Das bildet er sich jedenfalls ein. Besonders nachdem er Meriem kennengelernt hat. Sie arbeitet in der gleichen Klinik wie er. Könnte irgendwann einmal – wenn sie alt genug ist – seine Nachfolge antreten. Doch vorerst wird sie die Nachfolge von Médée antreten… Ohne großartig ein Wort zu verlieren, verlässt er Médée. Sehr zum Zorn seiner Kinder. Ismaïl denkt sich, dass es die beste Lösung ist – für ihn, aber vor allem für Médée. Dass er dabei total daneben liegt, fällt ihm nicht auf. Tief im Inneren weiß er jedoch, dass sein Fortgang, und besonders die Art und Weise, keinen Sieger kennen kann.

Mit Meriem ist alles so einfach, so leicht. So endgültig. Sie verzichtet sogar auf den lukrativen Job in New York. Für ihn! Und da setzt nach und nach das Hirn wieder ein. Er ist sich bewusst, dass er niemals von ihr verlangen kann, ihre Bedürfnisse hinter seine zu stellen. Hat er auch nicht. Zumindest nicht vordergründig. Doch allein schon die Tatsache, dass er Médée verlassne hat, um mit Meriem zusammen sein zu können, ist Druck genug.

Unverhofft tritt eine seiner Töchter auf den Plan. Sie reist aus London an. Samia hatte schon immer eine enge Beziehung zu ihrem Vater. Doch der findet nicht den Mut die Tochter der neuen Frau an seiner Seite einander bekannt zu machen. Meriem ist verletzt. Auch Ismaïl ist nicht ganz wohl. Die eigene Feigheit verstört ihn. Mehr als eine halbherzige Entschuldigung kann er nicht hervorbringen. Das Gestammel lässt Meriem einen Entschluss fassen…

Yasmine Chami berichtet von einer Familie im Marokko der Gegenwart wie es sie zuhauf gibt. Nicht nur in Marokko. Ohne sämtliche Klischees einer so genannten Midlife crisis dieser Familie anzudichten, beschreibt sie den inneren Kampf eines privilegierten Mannes, der alles hat und dennoch das Unerreichte sucht. Ebenso verzichtet Yasmine Chami darauf die Frau, Médée in die Opferrolle zu drängen. Sie ist selbstständig genug, um ihr Leben allein zu meistern. Auch wenn der Verlust des Mannes an ihrer Seite natürlich schmerzt. Schlagworte wie Emanzipation und Selbstbestimmung sucht man ebenso vergebens wie endlose Schuldzuweisungen und sich ewig um sich selbst drehende Egoismen. Hier stehen selbstbewusste Figuren im Vordergrund mit all ihren Macken, ihren Fehlern und ihren Zweifeln. Scheitern ist keine Option – Kämpfen ohne jeglichen Pathos sehr wohl.

Nachtdiebe

Es ist schon seltsam wie manche Bücher entstehen. Bodo Kirchhoff bedient sich dieses Mal bei sich selbst, beim Roman „Der Sandmann“. Und schöpft den Rahm seiner Handlung noch einmal ab, um daraus die Novelle „Nachtdiebe“ zu kreieren.

Quint und sein Sohn Julian sind zum ersten Mal gemeinsam auf Reisen. Nach Tunis – sicher nicht das erste Ziel, wenn man den einen aufregenden Roman schreiben will. Doch Bodo Kirchhoff schafft es mit Leichtigkeit dieser alten Stadt die Ehre zu erweisen und webt eine Geschichte aus mehr als nur tausendundeiner Nacht.

Quint stiehlt sich hinaus in die Dunkelheit seines eigenen Lebens. Als Lichtkegel an seiner Seite sein Sohn, der ihm ein ums andere Mal auf den Boden der Tatsachen zurückholen kann. Und Quint hat wahrlich Hilfe nötig. Christine, seine Frau ist beruflich in Paris. Und Quint kann nach Helen suchen. Sie war das Kindermädchen von Julian. Und von einem auf den anderen Tag verschwunden. Eine Postkarte ließ Quint aufbrechen. Die Karte von Helen war kurz und sachlich. Es gehe ihr gut. Sie ist am Leben. Und sie ist auch persönlich. Sie wünscht allen nur das Beste.

Und Quint? Was wünscht er sich? Helen? Christine? Julian! Klar. Aber mit wem zusammen? Helen wollte nie das, was nur Christine zustand – ein wunderbarer Satz, der die Tragweite des Themas mit wenigen Worten einfängt.

Quint ist in Tunis. Er findet das Hotel, in dem Helen arbeitet. Aber sie ist schon wieder weiter gezogen. Quint bleibt trotzdem. Die Wirtin des Hotels, Melrose, eine Reminiszenz an vermeintlich bessere Zeiten, sieht in ihm mehr als nur den einen Gast. Und Quint hat auch so manche schwache Minute. Und dann ist da noch Dr. Branzger. Der weiß mehr als er zugibt. Er kennt Helen auch. War hinter ihr her, wenn man das einmal so schnöde sagen darf. Und in einem schwer erreichbaren Versteck sind Helens Aufzeichnungen. Die will, die muss Quint lesen…

Allein schon die Wahl der Namen ist richtungsweisend. Quint – ein außergewöhnlicher Name. Ruhig, besonnen, nachdenklich, kalkulierend, zurückhaltend. Helen – Verheißung anmutend, fremd und nah zugleich. Dr. Branzger – so heißt niemand, der sich mit Wohlgefallen Freunde macht. Und Melrose – Phantasie, träumerisch. Daraus formt Bodo Kirchhoff mit dem ihm eigenen Stil eine Phantasiewelt, die sich in ihren Grundfesten nicht erschüttern lässt. Hier und wackelt es zwar ordentlich im Gebälk, doch aus den Angeln wird sich diese Welt nicht so schnell heben lassen.

Reparationen – Im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland

Algerien ist seit der Abspaltung des Südsudan das größte Land Afrikas. Die Fußballnationalmannschaft ist immer mal wieder ein unangenehmer Gegner bei Meisterschaften. Und die grüne Revolution hat hier viel Blut hinterlassen. Und wer schon mal Camus’ „Die Pest“ gelesen hat, dem ist Algerien nicht ganz fremd. Und weiter? Was wissen wir über das Land, das Europa geographisch so nah ist? Was wissen wir über das Land, das so fern erscheint? Die Antwort dürfet bei dem überwiegenden Teil der Befragten ziemlich spärlich ausfallen.

Wer jedoch das Programm des Verlages Donata Kinzelbach kennt, weiß, dass es ein Land voller kultureller Blüten steckt. Blüten, die lange ihren Reiz zeigen, die Tiefe der Geschichte nicht als Absturz begreifen, sondern als Vollbad der Erinnerungen. Und da verwundert es nicht, dass dieses Buch des Politologen Claus Leggewie hier verlegt wird. Hier ist die Heimat all derer, die Algerien in all seiner Pracht, inklusive der Schattenseiten, darstellen möchten.

„Im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland“ lautet der Untertitel des Buches. Die Verbindung Algerien – Frankreich ist allgemein bekannt und logisch nachzuvollziehen. Der Unabhängigkeitskrieg Mitte des vergangenen Jahrhunderts wirkt bis heute nach. Doch Deutschland – Algerien? Nur als Spielansetzung bei der WM 1982 und 2014 noch immer präsent. Aber sonst? Auf über dreihundert Seiten kommen Antworten auf den Tisch, die verblüffen und zum Nachdenken anregen.

„Reparationen“ – dieses Wort lässt jeden, der es hört erstmal in Habacht-Stellung gehen. Der, der es ausspricht, weiß um die Macht des Wortes. Da hält jemand die Hand auf, die der Andere zu füllen hat. Doch Claus Leggewie ist weder Moderator zwischen Gebendem und Nehmenden. Er ist der Wegweiser aus der Vergangenheit und Animateur für alle, die sich unschlüssig sind, diesen Weg weiterzugehen. Ausschweifend, ohne den Spannungsbogen abfallen zu lassen, lässt er die Geschichte des nordafrikanischen Landes vor dem Auge des Lesers paradieren.

Dieses Buch ist sicher keine Lektüre, um sich mal schnell ein bisschen Wissen über ein Land anzueignen. Der Autor legt Schicht für Schicht der Geschichte frei, um alsbald der Gegenwart die Ehre zu erweisen und der Zukunft den roten Teppich auszurollen. Wer Algerien als Kulturkreis verstehen möchte, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Monsieur Orient-Express

Monsieur Orient-Express, Belgier, mit dem gewissen Sinn fürs Wesentliche – das kann doch nur Hercule Poirot sein! Non, ist er nicht. Auch wenn einem sofort die Assoziationen zu dem Mann, der die kleinen grauen Zellen so geschickt einsetzte, in den Kopf schießen. Es handelt sich um Georges Lambert Casimir Nagelmackers. Geboren im Sommer 1845. Vater Bankier, die Mutter stammt aus einer Industriellenfamilie, die sich in Teilen bis in die Regierung hochgearbeitet hatte. Der „goldene Löffel im Mund“ wurde dem Sprössling also in die Wiege gelegt. In der Schule waren Sprachen – Latein und Griechisch – seine erfolgreichsten Fächer. Privat war es in der Familie Nagelmackers eher kühl. Die Eltern wurden gesiezt, die Kinder speisten zusammen mit dem Personal. Damit der junge Georges sich endlich die Liebe zu seiner Cousine aus dem Kopf schlägt, schickte ihn die Familie in die Neue Welt. Und hier kam er einer neuen, großen, nachhaltigen Liebe auf die Spur: Der Eisenbahn.

Die katastrophalen Zustände der amerikanischen Eisenbahn – die Wände dünn wie Zeitungspapier, Toiletten nur von außerhalb zu betreten etc. sollten der Grundstein sein, der Georges Nagelmackers zu dem machte, was er einmal werden sollte: Der Chef des Orient-Express.

Georges sah, dass die Welt zusammenwuchs. Doch überall nur Schranken, in jeder Hinsicht. Sein Traum war es – und schon ein paar Jahre später legte er einen weiteren Grundstein dafür, dass Schranken bald nur noch für „die Anderen“ gelten sollten – die Welt miteinander zu verbinden. Und natürlich das Portemonnaie zu füllen. Sein Portemonnaie.

1883 nahm der Orient-Express das erste Mal Fahrt auf. Von Paris nach Konstantinopel. Luxuriös reiste man. Es ruckelte zwar hier und da ein wenig, dafür war man aber binnen Tagen am anderen Ende des Kontinents.

Dass dabei viel Kohle (auch hier wieder: in jeder Hinsicht!) verbrannt wurde, beunruhigte den Visionär Nagelmackers nur am Rande. Geldgebern kann man ja schließlich aus dem Weg gehen. Das klappt aber nur zeitweise. Auf der Weltausstellung 1900 in Paris greift er nach einem weiteren Strohhalm, um das finanziell angeschlagene Unternehmen einmal mehr zu retten. Gen Osten soll der Luxuszug nun gleiten. In jedem der größten Pavillons, die in der Weltmetropole Paris ihr Land präsentieren, lässt er Waggons seiner Eisenbahnlinie ankarren. Nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass ein Waggon 35 Tonnen wiegt, die Pavillons nicht ans Schienennetz angeschlossen sind und die Pferdewagen eigentlich nur vier Tonnen bewegen können.

Eine rentable Bahn auf die Schiene zu bringen, ist bis heute ein Fass ohne Boden. Das musste auch Georges Nagelmackers erkennen. Doch im Gegensatz zu den Vorständen der Gegenwart, die die Vokabel Subventionierung so inflationär benutzen wie manch anderer Toilettenpapier, ließ er sich nicht von seiner Idee abbringen den westlichsten Westen mit dem östlichsten Osten zu verbinden. Geblieben ist allen Unkenrufen zum Trotz mehr als nur die nostalgische Vorstellung einmal tief im Sessel zu versinken und vom Eiffelturm, am Stephansdom vorbei entlang der Donau, über den Balkan ans Goldene Horn zu reisen. Diese Vorstellung inspirierte Menschen seitdem es die Eisenbahn gibt, nicht nur Agatha Christie.

Gerhard J. Rekel lässt den Mythos Orient-Express einmal mehr aufleben. Dieses Mal jedoch bekommt er ein Gesicht. Georges Nagelmackers schürte  mit seiner Idee Sehnsüchte, die bis heute und in alle Ewigkeit nachwirken. Und dieses Buch sorgt dafür, dass nichts davon in Vergessenheit gerät.

Erfüllung

Auch das Unglück braucht seinen Raum, um sich entfalten zu können. Da ist nur wenig Platz für die Dinge, die glücklich machen. Michèle Akli, 38, Französin im Algerien des Jahres 1977, versucht ihre Gedanken in einem Heft festzuhalten. Und zwar in der Hoffnung, dass sich das Unglück nicht allzu sehr ausbreitet und das Glück bald schon wieder Einzug in ihr Leben hält.

Vor fünfzehn Jahren ist sie mit ihrem Mann Brahim in sein Heimatland gekommen. Algerien hatte sich entbehrungsreich von der einstigen Kolonialmacht Frankreich gelöst. Ein guter Zeitpunkt zurückzukommen. Für Brahim. Algier ist die neue Heimat. Erwan ist der Sonnenschein in der Dunkelheit von Michèles Leben. Ihren zehnjährigen Sohn betrachtet sie so oft es geht. Sie verfolgt wie sich sein Körperbau verändert, malt sich aus welch prächtiger Mann er einmal sein wird. Doch sieht sie auch die Veränderungen in seinem Wesen. Als Bruce in Erwans Leben tritt, macht sich Angst breit bei der mittlerweile desillusionierten Michèle. Ist Bruce die erste Liebe in Erwans jungen Leben? Bruce ist ein Mädchen, das bemerkt Michèle erst später. Die beiden – Erwan und Bruce – nebeneinander, von der Ferne wie zwei Jungen, die beschlossen haben die Welt zu erkunden und eines Tages aus den Angeln zu heben. Michèle ist besorgt. Wird Bruce Erwan ihr entreißen? Wird sich der Sprössling von ihr loslösen? Bruce ist eine greifbare Gefahr. Doch wofür?

Ebenfalls spürbar, doch viel subtiler ist die Situation in Algerien. Der Freiheitsgedanke ist religiösem Regelwerk gewichen. Telefonate werden abgehört. Auf der Straße wird man beobachtet, sogar verfolgt. Und Brahim … der ist einfach nur noch der Mann, den sie einmal innig liebte. Verlangen – Fehlanzeige. Vielmehr genießt sie die unbeschwerte Zeit mit Erwan, erforscht ihren Garten, beobachtet den Himmel, sehnt sich nach der Freiheit, die immer so selbstverständlich war. Michèle beklagt sich nicht, sie nimmt wahr. Und ihr Tagebuch ist letztendlich der klägliche Rest Freiheit, der ihr geblieben ist. Die Pakete aus ihrer Heimat sind Trostpflaster, die sie zu gleichen Teilen belasten und hoffen lassen.

Die Sorge um den Verlust Erwans lässt sie immer mehr Schreckensszenarien ausmalen. Sie ist tief im Inneren eifersüchtig auf Bruce. Denn dieses kleine Mädchen kommt ihrem Sohn näher als Michèle jemals war. Nur ihr Tagebuch hält die Lunte davon ab sich ihren Weg zur Explosion zu suchen. Bei all den Gedankengängen entgeht Michèle die enorme Kraft zu lieben, die in ihr steckt. Die Gedanken an Catherine, ihre Freiheit, ihr Talent sind bloße Projektionen. Tief im Inneren empfindet sie Liebe für Catherine, Bruce und selbstverständlich ihren Sohn Erwan. Sie kann es nur nicht immer erkennen und akzeptieren. Dann erkennt Michèle, dass Fassaden auch bröckeln können…

Nina Bouraoui verweigert nur scheinbar ihrer Protagonistin das Glück, die Erfüllung, die ihr unweigerlich zusteht. Es ist ein dorniger Weg zur Erkenntnis, dass das Glück niemals mit Pauken und Trompeten an die Tür klopft. Erst der selbst gewählte Weg verheißt Linderung im schmerzhaften Gerangel um das Glück. Und das Glück der Anderen bringt oft selbst den Stein ins Rollen, der die Erfüllung bringt.

Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt

Usama Al Shahmani schafft es mit seinen Büchern zum Einen eine Poesie in die deutsche Bücherlandschaft zu tragen, die lange vermisst war. Ohne großartig Pathos an den Tag zu legen, lässt er dem Leser keine Chance sich seinen Worten zu entkommen. Andererseits gibt er Einblicke in Leben, die um einen herum passieren, die man aber (bewusst oder unbewusst) nicht wahrnimmt.

So auch in seinem neuen Buch. Schon der Titel „Der Vogel zweifelt nicht an dem Ort, zu dem er fliegt“ lässt es erahnen: Beständigkeit ist kein Makel. Sein Held Dafer lebt in Deutschland, er spricht die Sprache, geht arbeiten, hat eine eigene Wohnung. Für viele mag das als angepasst gelten, zumindest als starke Grundlage dafür. Und sicherlich ist Dafer ganz gut integriert.

Dafer ist vor Jahren aus einer Diktatur geflohen. Eigentlich ist er Akademiker. Und eigentlich kein Tellerwäscher (den Traum vom Millionär am Ende des Weges träumt er nicht – er ist Realist). Ja, und eigentlich ist er sogar glücklich. Eigentlich, ein scheußliches Wort, wenn man sich selbst vor der Wahrheit schützen muss. Denn eigentlich ist Dafer unglücklich. Und das, weil er sich vor dieser Wahrheit schützen muss.

Ein Zwangsurlaub zwingt ihn mit sich selbst ins Reine kommen zu müssen. Doch er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht – so poetisch das klingen mag, so real ist das für Dafer. Seine Familie weiß nicht, welch scheinbaren sozialen Abstieg er hinter sich hat. Der gebildete Sohn als „normaler Arbeiter“ – was würden sie sagen, wenn sie das wüssten? Für Dafer beginnt eine Zeit, die sein ganzes Wesen in Anspruch nehmen wird.

Wie oft fragt man sich, was der Mensch an der Kasse vor einem, der Kollege, ein Nachbar im Tiefsten eigentlich (ha, da ist es wieder: Eigentlich!) ist. Es gibt keine einfache Formel, um dem Anderen, dem Gegenüber, dem Nebenstehenden in die Seele oder gar ins Herz schauen zu können. Selbst Big Brother sieht nur das ohnehin Sichtbare.

Eindringende Worte ziehen den Leser nicht hinab in die Tiefen eines Lebens in der Fremde, sie saugen den Leser in eine Welt, die räumlich nah ist, im Inneren aber ungefähr so weit entfernt ist wie die Sonne. Mit jeder Seit, die einen erobert, staunt man über sich selbst wie wenig Gedanken überhaupt ausreichen, um abzustumpfen.

Immer wieder wirft Usama Al Shahmani Fragen auf, die jedem Menschen irgendwann einmal in Wallung bringen. Die Intensität des Nachdenkens lässt einen nicht mehr los. Verpackt ist dieses oberflächlich emotional schwere Buch in zarten Worten, die auf einem Blumenteppich der Poesie ausgebreitet werden. Ein starker Stoff, der sofort ins Hirn geht und dort seine Spuren hinterlassen wird. Und dieses Mal (nicht eigentlich!) für immer haften bleibt.