Archiv der Kategorie: 1001

Das Warten auf Leben

Manchmal hängt ein Leben am seidenen Faden. Diese fast schon als poetisch einzustufende Phrase birgt jedoch mehr in sich als es sich die meisten vorstellen können. Manchmal aber auch hängt das Leben an einem papiernen Faden. Genauer gesagt am Papier, an den Papieren selbst. Wenn einer davon erzählen kann, dann ist es Moussa Mbarek. Und Yvonn Spauschus hat seine Geschichte aufgeschrieben.

Moussa Mbarek gehört zum Volk der Tuareg. Ihr Land, das nicht durch geographische Grenzen erkennbar ist, sondern Land ist, auf dem sie wandern, und das nicht im Sinne von pfeifend, mit dem Wanderstock, um ans Ziel zu gelangen! Sie haben ihre eigene Kultur, Sprache und Schrift. Doch in jedem Land (welches durch eine geographische Linie sich von anderen Ländern abgrenzt) werden sie argwöhnisch beäugt. Sie sind staatenlos. Sie sind nicht aus Mali, Niger, Libyen, Algerien oder Burkina Faso. Das ist nur solange ohne Belang bis sie sich ausweisen müssen, damit sie nicht ausgewiesen werden.

Ihm gelang es nach Deutschland zu kommen. Als Künstler wollte er arbeiten, sich ausdrücken und auch auf die Situation seines Volkes aufmerksam machen. Die erste Hälfte dieses besonderen Buches zieren diese Werke, die mit kurzen Texten die Ursprünge der Bilder erklären. Linolschnitte, Aquarelle und Drucktechniken sind die bevorzugten Techniken von Moussa Mbarek.

Es ist unerlässlich zu erwähnen, dass ein Künstlerleben oft mit Entbehrungen einhergeht. Das Klischee das daraus oft die eindrücklichsten Ergebnisse erzielt werden, mag das schlichte Gemüt entzücken, ist aber in keinster Weise eine zwingende Erforderlichkeit. Schon gar nicht Vertreibung aus dem angestammten Lebensraum, weil man nicht der ausgeschriebenen Norm entspricht. Wenn das so wäre, würde der Kunstmarkt unter der Wucht beispielsweise der afrikanischen Kunstflut zusammenbrechen.

Dieses kleine Büchlein ist einzig allein nur im Format vielleicht als klein zu bezeichnen. Im Inneren entblättert sich seine wahre Größe. Stilechte Kunst aus den Händen eines Tuareg, die bei längerem Verweilen immer wieder neue Sichtweisen aufzeigt. Kraftvolle Farben, die den Betrachter ins ferne Afrika ziehen, das durch eben diese Kunst so nahbar wird.

Die Texte von Yvonn Spauschus im zweiten Teil zeigen keineswegs nur Verzweiflung, sondern sind Mutmacher für all diejenigen, die den steinigen Weg der Flucht ebenso kennen.

Eine Nebensache

Eine der unzähligen widerwärtigen Seiten des Krieges ist die Namenlosigkeit der Täter. Die Opfer und deren Angehörige wissen nicht, wem sie die Schuld geben können. Die wenigen namentlich bekannten Täter bekommen so eine Bedeutung, die ihrer Gewissenlosigkeit eine Bedeutung angedeihen lässt, die sie niemals verdienen.

Und passt es ins Bild, dass eine namenlose junge Frau, Palästinenserin, von einem Vorfall liest, der exakt ein Vierteljahrhundert vor ihrer eigenen Geburt stattgefunden hat. Israels Soldaten patrouillieren an der frischen Grenze, um potentielle Angreifern, Gegnern, Saboteuren, Feinden Einhalt gebieten zu können. Dabei greifen sie auch eine junge Frau auf. Tage später ist sie tot. Gefangen genommen, gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt, ermordet. Im Namen … ja, im Namen von wem, von was? Die Frau hatte einen Namen, die Täter auch. Dennoch liegen ihre Gesichter im Schatten der Geschichte.

Die junge Palästinenserin, der das Datum des Todes dieser jungen Frau (und dabei spielt es überhaupt keine Rolle woher sie kam, welche Nationalität sie gehabt hat) so nahe geht, macht sich auf die Suche nach den Begebenheiten, die damals geschahen. Sie will nicht anklagen, Opfersteine errichten oder Gerechtigkeit erwirken. Sie ist persönlich an dieser Geschichte interessiert. Und das nur wegen dieses Datums: 13. August 1974.

Sie bricht auf, um eine Reise zu tun, die sich verändern wird. Checkpoints in und um Ramallah erschweren ihr ein ungehindertes Weiterkommen. Immer im Gepäck: Die Angst bei ihrer vermeintlich illegalen, zumindest sich unerwünschten, Recherche aufzufliegen. Und im Kopf rattern die Gedanken in Lichtgeschwindigkeit. Immer sind es die kleinen Dinge, die ihr auffallen. Schon oft ist ihr ein Detail eher ins Auge gestochen als das große Ganze. Warum nur? Warum passiert ihr das immer?

Adania Shibli wurde 1974 in Palästina geboren. Die Parallelen zu der namenlosen Frau in ihrem Buch treten offen zutage. Vielleicht ist sie selbst diese Frau, in Grundzügen sicherlich. Beim Lesen wird einem immer wieder bewusst, dass ein Krieg niemals mit der Unterschrift unter einem Vertrag beendet ist. Er ist niemals zu Ende. Auch wenn die Hoffnung stiftende Spruch, dass Menschen und nicht Kanonen töten, sie sind es ja schließlich auch, die ihn beginnen.

Es kann Gras über eine Sache wachsen. Doch was folgt ist immer wieder Gras. Es wird immer wachsen. Im Anbetracht der aktuellen Lage in Osteuropa erlangt dieses Buch eine Bedeutung, die über die Grenzen Israels, Palästinas und der Region hinausgeht. Es bleibt allein die Hoffnung, dass auch durch dieses Buch so manches Auge weiter geöffnet wird.

In der Ferne sprechen die Bäume arabisch

Auch wenn es immer wieder versucht wird, ist Integration keine Frage von Zahlen, Tabellen und Diagrammen. Sie findet im Kopf statt. Und es gehören immer zwei dazu. Derjenige, der integriert wird und derjenige, der integrieren kann. Die Sprache ist sicherlich der Schlüssel zum Erfolg. Doch was ist mit den alltäglichen Dingen? Die, die in keinem Reiseratgeber stehen.

Usama Al Shahmani wurde im Irak geboren, lebt nun in der Schweiz und schreibt in seinem weitgehend autobiographischen Buch „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ auf sehr poetische Art und Weise von den Schwierigkeiten die neue Kultur (in seinem Fall die der Schweiz) für sich anzunehmen. Das beginnt beim anfänglichen Unverständnis über den Begriff des Wanderns. Das kannte er bisher nicht. Einfach in den Wald gehen und „ein bisschen herumzulaufen“, sich die Lust um die Nase wehen zu lassen. Im Hintergrund hat er sein schwebendes Asylverfahren. Geht alles gut, wird er bald arbeiten mit einer soliden Bezahlung. Doch das dauert. Und so verbringt er die Zeit mit einem schlecht bezahlten Job und …, er probiert es mit dem Wandern. Die Ruhe der Natur lässt alte Erinnerungen aufflammen. Doch die stören ihn keineswegs. Im Gegenteil. Instinktiv verbindet er das Jetzt mit dem, was einmal war. Dem Rauschen der Blätter, die gesamte Geräuschkulisse kommen ihm seltsam vertraut vor.

Es sind die kleinen Geschichten, die die Neuentdeckung der neuen Umwelt einem die Seiten so wissbegierig umblättern lassen. In poetischen Worten – als studierter Sprachwissenschaftler weiß er um die Kraft der Worte und kann sie entsprechen einsetzen – nimmt Usama Al Shahmani den Leser an die Hand und zeigt ihm seine alte Welt und die neue Welt, die dem Leser vertrauter sein sollte. Er schafft es dem schon immer Umgebenden neue Aspekte abzugewinnen. So lernt man selbst das Alltäglich noch einmal neu kennen.

Man wird in eine Welt hineingezogen – integriert – die man selbst zu kennen scheint. Doch immer wieder stößt man an die eigenen Grenzen des Verständnisses. Hat man das erstmal verinnerlicht, versteht man die Schwierigkeiten „der Anderen“ um ein Vielfaches besser. Und das kann ja nun wirklich nichts Schlechtes sein.

Mein Onkel, den der Wind mitnahm

Der Traum vom Fliegen. Schon seit Menschengedenken zieht es den Menschen nach Oben in die Lüfte. Man kann Gott näher sei, ihm ebenbürtig. Man kann dem Elend „da Unten“ entfliehen. Und: Man kann Fliegen! Wer kann das schon!

Djamshid Khan kann fliegen. Er weiß es aber erst seit dem Zeitpunkt als ihm die Gefängnismauern zu eng werden. Als Kommunist diffamiert, lernt er den kargen Alltag hinter dicken Mauern kennen. Und dann … fliegt er einfach davon.

Jahre später kehrt er zu seiner Familie zurück. Alle, die mit ihm eingesperrt waren, sind mittlerweile auch wieder daheim. Die Verwunderung ist groß, die Freude umso größer. Die Verblüffung, dass er immer noch fliegen kann, ist unendlich. Der Erzähler, sein Neffe, verfällt kurzum der naiven Idee mit dem Onkel an der Leine spazieren zu gehen.

Doch es kommt anders. Im Krieg zwischen Iran und Irak muss die Familie, die dank ihrer Herkunft einen gewissen Ruf und Anerkennung genießt, kämpfen. Auch der Onkel. Er kann schließlich fliegen, als Aufklärer aus der Luft ein entscheidender Vorteil.

Es vergehen die Jahre. Der Onkel ist immer mal wieder weg. Die Entwurzelung wegen seiner Fähigkeit zu fliegen, ist nur ein Grund. Erst am Ende des Buches darf er landen. Endlich sich niederlassen. Zur Ruhe kommen. Sich selbst erkennen. Sein Körpergewicht erlaubt es ihm nicht mehr zu fliegen… Natürlich eine Metapher.

Bachtyar Ali gelingt mit dieser leicht erzählten Geschichte das schwere Trauma seines Volkes, den Kurden, in unterhaltsame Wort zu kleiden. Wähnt man sich anfangs noch in einer phantastischen Erzählung, so kehrt sich die Sichtweise doch ziemlich schnell ins Grübeln. Ein Volk ohne Land, dessen Heimat sich über mehrere Landesgrenzen erstreckt, wird immer kämpfen müssen, um die eigene Identität am Leben zu halten. Der Onkel, der fliegen kann, poetisch „den der Wind mitnahm“, steht stellvertretend für ein ganzes Volk. Sie müssen kämpfen, immer wieder. Doch die, die sich da gegenüberstehen sind nicht Freund und Feind, sondern Feind und Feind. Das Schwarz-weiß, das man sich gern in einem Konflikt aneignet, um Stellung beziehen zu können, existiert nicht. Da bleibt einem nur die Phantasie und die Geradlinigkeit der Gedanken.

Orientreisen

Annemarie Schwarzenbach wuchs nicht mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund auf. Sie hatte einen ganzen Besteckkasten, ihre Familie zählte zu den reichsten der Schweiz. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählte sie nicht nur aufgrund dessen zu einer auserlesenen Elite, sondern einzig allein durch ihre Reisen und ihre darüber veröffentlichten Reportagen. Schon früh zog es die freiheitsliebende (und bei ihr ist es wirklich angebracht von Freiheit zu sprechen) in die Ferne. Mit der Familie gebrochen, sich offen zu ihrer Sexualität zu bekennen, sich gegen die Faschisten und ihre Ideologie zu stellen und die arabische, afrikanische, persische Welt zu erkunden.

Vieles, was sie in ihren Reportagen beschrieb, ist heute so nicht mehr zu erleben. Man stelle sich vor – welch wunderbare Vorstellung! – die Buddha-Statuen von Bamiyan würden noch stehen. Oder mit einem Kleinflugzeug über die syrische Wüste zu fliegen und die Schakale aufzuscheuchen. Und das zu einer Zeit, in der Frauen als Alleinreisende in einem kaum erschlossenen Gebiet mehr Mut brauchten als heutzutage kurzgeschorene Europa am Hindukusch verteidigende Goldgräber.

Es sind über 80 Jahre vergangen seit dem Annemarie Schwarzenbach ihre Reisen gen Osten unternahm. Vieles ist nicht mehr zu sehen. Sei es durch Zerstörung, sei es durch Bebauung, sei es durch den Zahn der Zeit. Doch sich ein stilles Plätzchen zu suchen, die Luft tief einzuatmen und diese Reiseimpressionen auf sich wirken zu lassen, hat einen höheren Lerneffekt als beim Discounter gebuchte Reisen in die Shoppingparadiese der glitzernden Malls zwischen Wüste und Golf.

Mit einfachen Worten und bildhafter Sprache zieht Annemarie Schwarzenbach den Leser in eine Zeit, die nicht mehr zurückzuholen ist. Die Türkei zum Beispiel befindet sich seit ein paar Jahren im größten Umbruch, den man sich vorstellen kann. Schrift und Sprache werden einer Radikalkur unterzogen. Dennoch gibt es vieles, was heute noch zu besichtigen ist und mit den Worten der Autorin im Hinterkopf, erkennt man vielleicht manches, was einem sonst verborgen geblieben wäre. Isfahan im Iran mit seinem markanten Meidān-e Naqsch-e Dschahān fasziniert sie damals und wirkt bis heute auf den Betrachter wie ein unwirklicher Traum.

Annemarie Schwarzenbach trieb es in Ferne, nicht um anderen etwas zu beweisen. Sie wollte selbst die Welt entdecken und erleben. Unabhängig sein und die Welt an ihren Abenteuern teilhaben lassen. Ihr gelang es mit Bravour, wie dieses Buch eindrucksvoll beweist. Leider war ihr Leben nach zu kurzer Zeit zu Ende. Sie starb im Alter von 34 Jahren nach einem Unfall und den Folgen einer falschen Behandlung.

Highlights Oman mit Dubai und Abu Dhabi

Reiseberichte bergen in sich immer einen Hauch Abenteuer und Sehnsucht. Man liest von exotischen Tieren, von prachtvollen Bauten und außergewöhnlichen Menschen. Die Bilder im Kopf sind bei jedem andere. So manches Mal wünscht man sich ein wenig an die Hand genommen zu werden, um der Phantasie einen Schubs zu geben. In diesem Bildband / Reisebericht passiert einem das garantiert nicht.

Die unzähligen Abbildungen sind aber nicht nur farbenprächtige Untermalungen der Reiseberichte. Sie sind vor allem optische Appetithäppchen, die man sich vor den Augen zergehen lässt. Das liegt vor allem an den ausgewählten Reisezielen. Oman, das einzige Land der Erde, das mit einem O beginnt. So richtig wahr nimmt man es erst seit rund einem halben Jahrhundert. Als überall, wo bereits Öl gefördert wurde, aus Dollarscheinen eine bis heute wachsende Tourismusindustrie erwuchs, verfügte Oman nur über eine einzige asphaltierte Straße. Heute nimmt das Land für sich in Anspruch sehr wohl auf der Ölwelle mit zu schwimmen, doch dem überbordenden Boom in Sachen Party und Baugigantismus die kalte Schulter zu zeigen.

Hier reist man gediegener. Oman stellt seine Geschichte mehr in den Vordergrund als seine ihn umgebenden Nachbarn, die man sowohl luxuriös bereisen kann als auch an der Discounterkasse buchen und bezahlen kann. Das Land des Weihrauches zeigt sich stets von seiner freundlichen Seite, wie die Autoren zu berichten wissen. Man ist gern eingeladen und wird derart fürstlich bedient, dass ungeübte Reisende aus Unwissenheit vor dem Neuen Scheuklappen aufsetzen. Was ein großer Fehler ist!

Dieses Buch ist nicht nur ein Augenschmaus für jeden Neugierigen, es ist ein Leitfaden, den man nicht aus der Hand legen darf. Fünfzig Ziele, Aussichtspunkte, Sehenswürdigkeiten warten nur darauf entdeckt zu werden. Sie sind allesamt mehr als nur präsentabel, sie strahlen im Sonnenlicht um die Wette, dass man gar nicht weiß wo man anfangen soll. Prunkvolle Moscheen, die in ihrer Vielfalt jeden in den Bann ziehen. Eine Oper in der Wüste, besser in einer Oase, die seit knapp zehn Jahren das Publikum in eine andere Welt hineinzaubert. Oder einfach nur Markttreiben, bei dem das Weitergehen durch das reichhaltige, oft noch fremde Angebot erschwert wird.

Oman bietet aber nicht nur unzählige Möglichkeiten den Geldbeutel im Handumdrehen von seiner Last zu befreien. Landschaftlich bietet es mehr Abwechslung auf relativ kleinem Raum als so manch vergleichbares Land. Die Höhlen von Al Hoota sind erst seit 2006 für Besucher geöffnet. Im Inneren warten Tropfsteinhöhlen und einen See, der fast einen Kilometer lang ist.

Dubai hingegen ist schon seit einigen Jahren länger kein weißer Fleck mehr auf der Tourismuskarte. Action und Shopping sind sofortige Assoziationen, die einem in den Sinn kommen. Wem das Herz nicht schnell genug schlagen kann, der ist hier bestens aufgehoben. Den Gigantismus muss man etwas abgewinnen können, streift man durch die Stadt. Ebenso der Hitze. Man gewöhnt sich schnell an klimatisierte Räume, Malls und Restaurants.

In Abu Dhabi bekommt man schnell den Eindruck, dass Tradition und modernes Luxusgefühl eine Symbiose eingehen. Man kann den Louvre besuchen – die Wartezeiten in der Wüste sind wesentlich kürzer als an der Seine – oder die Sheikh Zayed Grand Mosque besuchen. Die Augen werden übergehen und man selbst will nicht aufhören hinzuschauen.

Dieses Buch ist ein Juwel, wenn man sich vom Glanze jeder Art verführen lassen kann. Ein Buch, drei Länder, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede selten so detailreich dargestellt wurden. Als Appetitanreger, als Geschenk oder als Erinnerungsbuch immer die beste Wahl!

Im Fallen lernt die Feder fliegen

Von einer Reise vom Regen in die Traufe zu sprechen, würde dem Schicksal Aidas nicht gerecht werden. Ihre Eltern flohen vor dem Kriege zwischen Iran und Irak in den feindlichen Iran (wo sie in einem Flüchtlingslager geboren wurde) bis sie ihre Reise schlussendlich in der Schweiz in ruhigere Bahnen gelenkt wurde. Sie wuchs hier mit ihrer älteren Schwester auf. Fast schon war die Schweiz so etwas wie Heimat. Fast, denn das ewige Nachhängen des alten Lebens im Irak, was ihre Eltern, besonders ihren Vater, umtreibt, belastet den Alltag.

Der Vater kann und will sich nicht eingliedern. Zu fremd das gastfreundliche Land, das sie aufnahm, aber nach und nach auch Integrationserfolge sehen will. Die Eltern wollen zurück. Denn der Krieg ist vorüber. Die Diktatur Geschichte. Dass dem nicht so ist, davor verschließen sie gedankentreu die Augen. Was soll Aida machen? Sie ist zu klein, um allein in einem letztendlich doch fremden Land zu bleiben. Und außerdem gehört ein Kind zu seinen Eltern!

Vater bestimmt, Mutter folgt, die Kinder haben keine Wahl. Der Irak soll ihnen eine neue Heimat werden. Doch die neue Heimat ist alles andere. Als ihre Schwester unter die Haube soll, ob sie will oder nicht, kreisen die Gedanken nur noch um Eines: Flucht. Wieder einmal. Wieder einmal in die Schweiz.

Doch auch hier wird Aida nicht so glücklich wie sie es in einer richtigen Heimat wäre. Niemand da, dem sie sich anvertrauen kann. Es sind nicht die materiellen Dinge, die sie eine Heimat vermissen lassen. Gespräche, freie Gedanken sprühen in ihrem Kopf herum- Sie beginnt sie aufzuschreiben.

Usama Al Shahmani zündet ein Feuerwerk der leisen Gefühle. Die Aida, die er schuf, reift zu einer Persönlichkeit heran, die so unnahbar ist wie eine Feder im Wind. Sie selbst ist immerwährend auf der Suche. Nach sich, nach Heimat, nach Verbindungen. Sie findet sie nur, wenn sie ihr Leben niederschreibt. Auch ihr Freund dringt nicht vollends zu ihr durch. Aber er ist die Stütze, die sie braucht. Ein erster Pfeiler in einem heimatlichen Boden. In selbigen gerammt vom Schicksal. Unerschütterlich.

Aidas Leben beginnt sich wieder zu drehen. Doch es geht dieses Mal nicht darum, eine Bewegung anzuhalten oder umzukehren, sondern den Weg beizubehalten und mit Würde und Freude beschreiten zu können. Ein endgültiger Zieleinlauf ist nicht absehbar, doch nach den zahlreichen Kurvenläufen, ist die Zielgrade sichtbar.

Ein wunderbar poetischer Roman, der jegliche Klischees einer Flucht außen vor lässt. Was Flucht mit Menschen macht, wird mit sensiblen Worten und nie gekannter Sprachgewalt dargestellt.

Augenstern

Nichts ist mehr wie es einmal war. Damals als er in den Krieg zog, den Krieg gegen Irak. Er, Amir, auf iranischer Seite. Der Irak unter der Führung eines gewissen Saddam Hussein wird vom Westen mit Waffen unterstützt, um dem neuen Gottesstaat Iran den Garaus zu machen … was seit einem Jahrhundert immer wieder und fortwährend geschieht, aber niemals endgültig zu Erfolg führt. Die iranische Bevölkerung wurde Jahrtausende von einem Schah mit Folter und Bespitzelung unterdrückt. Jetzt hält eine Schar religiöser Führer das Land mit Folter und Bespitzelung im Schwitzkasten. Doch Amir zieht mit Begeisterung in den Kampf.

Momentan muss er nicht mehr an der Front kämpfen. Ein Arm fehlt ihm, genauso die Erinnerung an das, was einmal war. Reyhaneh ist an seiner Seite. Sie liebt ihn, doch die Zweifel an seiner Aufrichtigkeit nagen an ihr. Auf seinen Schultern – und darin liegt die Einzigartigkeit dieses Romans – leben, schreiben, lasten zwei Engel. Einer links, einer rechts. Sie notieren alles aus seinem Leben. Das haben sie auch schon vor dem Krieg getan. Ihre Niederschriften sind Amirs Gedächtnis. Doch die Engel spielen ihm immer wieder einen Streich. Da ist hinter einem dichten Schleier, der nur vage Andeutungen durchlässt diese Frau. Ein wildes Ding. Sie nimmt sich, was sie braucht. Auch von Amir. Er kann es ihr nicht geben.

Viel klarer sind dagegen die Kriegserinnerungen. Granaten, di in zerfetzten Körpern stecken und ihre Arbeit nicht verrichten, dennoch ihr Ziel erreichten. Widerwärtiger Gestank und poetische Träume lassen in Amir zwei Herzen schlagen. Nicht immer im Gleichklang.

Und zwischendrin das, was selbst Europäer immer wieder von einer fremden Welt schwärmen lässt. Die Basare des Landes. Das funkelnde Gold. Für Amir hat es eine tiefere Bedeutung. Das Gold, das so strahlend und funkelnd das Gesicht der geheimnisvollen Frau erleuchten lässt.

Shariar Mandanipur schafft eine geheimnisvolle Welt, die so real ist, dass man sich in ihr heimisch fühlt. So greifbar die Gedanken Amirs sind, so unnahbar sind im Gegenzug seine Erinnerungslücken. Man fiebert mit dem Protagonisten mit und wünscht ihm so sehr, dass seine Welt wieder in die richtigen Bahnen gelenkt wird, obwohl man weiß, dass dies mit großen Opfern verbunden ist. Liebesgeschichte vs. Kriegstrauma? Oberflächlich gesehen, ja! Doch hinter der Fassade des Bösen wartet ein Zaubergarten mit duftenden Blüten und wohlschmeckenden Früchten, die dem Leser das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.

Ein Witz für ein Leben

Schon bei Durchlesen des Klappentextes steht fest, dass in diesen Kurzgeschichten nichts so sein kann, wie es beschrieben wird. Da folgt ein Junge einer Kuh. Warum? Na, weil sie in einem Kino saß und dann davon trabt. Doch warum ist sie in einem Kino? Na, weil sie vor einer Falle türmte als sie in einem Panzer saß. Alles klar?

Mazen Maarouf lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass seine Geschichten tatsächlich so passiert sein können. Unbeirrt setzt er Ideenfackeln in eine Welt, die real ist. Doch in ihr zu leben, ist nicht einfach. Wie auch, wenn neben einem Granaten einschlagen und man trotzdem zur Schule gehen muss? In einer Welt, in der Schläge vom Vater als Adelung gelten. Ein Paprikastrauch zum Symbol für Überleben und Verantwortung reift. In der ein Aquarium zum Kinderzimmer mutiert.

Die Welt dreht sich weiter. Bei Mazen Maarouf dreht sie sich nicht schneller, nur manchmal in eine andere Richtung. Mit faszinierten Augen stellt man fest, dass alles aus den Fugen geraten scheint, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Immer wieder zieht Mazen Maarouf den Leser in seine surrealen Phantasien hinein. Und immer wieder fühlt man sich darin wohl. Wenn Milizen ihren perfiden Geschäften nachgehen, ist man angewidert. Wenn ein Junge seinen Bruder verkaufen will, um dem Vater ein Glasauge zu kaufen, schockiert die Selbstverständlichkeit der Worte, mit der der Autor den Leser verführt.

Palästina ist die Heimat von Mazen Maarouf. Mittlerweile lebt er als Autor und Übersetzer in Reykjavik und Beirut. Wer in seinen Geschichten den einen Witz sucht, wird ihn nicht finden. Das ganze Buch ist gespickt mit doppelten Böden, irren Begegnungen, kindlichem Reigen. Man verbietet sich selbst mehr als einmal zu schmunzeln. Wie kann in einer derart verdorbenen Welt ein Lächeln über die Lippen kommen. In einer Geschichte fragt sich das auch der Protagonist. Seit seinem neunten Lebensjahr hat er seine Lippen nicht mehr zu einem Lächeln geformt. Aus Protest. Und doch huschen immer wieder ein Lachen oder ein Anflug dessen über das Gesicht. Humor ist die einzige, die kein Embargo aufhalten kann.

Die Lehmbauten des Lichts

Jedem den Jemen. So einfach lässt es sich leider nicht machen. Der Jemen gehört noch lange nicht zu den Top-Destinationen für Erholungssuchende. Schon gar nicht für die, die schon am Morgen im Pool ihr erstes Heineken-„Bier“ intus haben und sich am Büffet ein cholsterinwertversauendes Würstchen mit pappigem Rührei einverleiben. Es ist ein Land für Abenteurer oder Leute, auf Einladung von Kulturorganisationen im Land ein ausgedehnter Aufenthalt ermöglicht wird. Dann sollte aber auch darüber berichtet werden. Guy Helminger gehört zur letzten Sorte und hat seinen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit aller erfüllt. So nüchtern darf man sich diesem Buch aber nun auch nicht nähern. Denn Guy Helminger hat ein realistisches, gefühlvolles und lebensnahes Portrait eines Landes erstellt, das von der Geschichte und ihren Akteuren arg gebeutelt wurde. Im folgenden Jahr, 2020, begeht man – wie auch immer – den dreißigsten Jahrestag der Wiedervereinigung des Jemens. Damit sind die möglichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Land am Golf von Aden und dem Roten Meer aber auch schon erschöpft.

Erschöpft wirkt Guy Helminger nicht im Geringsten, wenn er davon berichtet wie er im Jemen ankommt, sich durch ein fremdes Land vorsichtig bewegen muss und es nach einigen Wochen wieder verlassen hat. Das war 2009. Bis heute haben sich die Nachrichtenmeldungen über das Land kaum verändert: Elend, Krieg und Hunger sind die Hauptschlagworte, wenn über das Land berichtet wird.

Lange suchen musste der Autor nicht, um seine Geschichten zu finden. Jeder, mit der durchs Land reiste, mit dem er faszinierende Orte besichtigte, sprach über Korruption. Ohne Bakschisch geht hier nichts. Was den Gesamteindruck von Land und Leuten nicht im Geringsten trübte. Denn so manche vermeintlich gefährliche Situation löst sich nach einigem Hin und Herr schnell in Wohlgefallen auf. Etwa bei einer Verfolgung wie in einem Agententhriller: Guy Helminger wird – wie so oft – von einem Fremden angesprochen. Er möchte jedoch nicht dessen Dienste in Anspruch nehmen. Helminger sieht wie der Verschmähte sich mit einem Anderen unterhält. Beide Männer verfolgen den Autor. Schon bald ist ein Dritter im Spiel und man trifft sich in einem dunklen Keller wieder – Geheimpolizei! Doch die haben sich nur gewundert, warum jemand so viel fotografiert.

Der Jemen ist heute – zehn Jahre nach Guy Helmingers Reise – immer noch kein Land, das zusammengewachsen ist, und in dem man als Tourist barrierefrei von A nach B kommt. Für die Menschen im Land, die mehr unter der Knute von Rebellen leiden als in den meisten Diktaturen der Welt, ist es ein Leben, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Da scheint die Sehnsucht nach diesem Land, die in diesem Buch durchaus geschürt wird, wie ein unanständiger Wunsch.