Der Titel „Zerbrochenes Glas“ führt bei so manchem Leser afrikanischer Literatur zu stereotypischen Assoziationen: Der arme, gebeutelte Kontinent. Schicksale wie sie nur hier geschrieben werden können. Natürlich mit heldenhaftem Happy end. Doch weit gefehlt.
Zerbrochenes Glas ist der poetische Name eines Gastes in einer Kneipe in Kongo, dem „Kleinen Kongo“, das schon immer so hieß. Nicht zu verwechseln mit dem Kongo, der bis vor wenigen Jahren noch als Zaire auf der Landkarte benannt war. Dieses Kongo ist die Heimat von Autor Alain Mabanckou. Nach „Black Basar“ und „Stachelschweins Memoiren“ ist dies der dritte Roman, der auf Deutsch bei Liebeskind erschienen ist. Die Kneipe, in der er fast schon zum Inventar gehört heißt nicht minder aussagefähig „Angeschrieben wird nicht“. Sie wird geleitet von „Sture Schnecke“.
Und Sture Schnecke bittet Zerbrochenes Glas die Geschichte von „angeschrieben wird nicht“ aufzuschreiben. Dafür stellt er dem Dauergast ein Heft zur Verfügung. Und hier kommt die große Kunst von Alain Mabanckou zum Tragen. Er versucht gar nicht erst seinen Akteuren Namen zu geben, die scheinbar dem Querschnitt der Bevölkerung entsprechen. Seine verliehenen Namen sind Charakterstudien, Lebensgeschichten. „Angeschrieben wird nicht“ ist die einzige und deswegen ernst zu nehmende Gefahr für die Kirche gegenüber. Oft, zu oft, zieht der Strom der Gläubigen nicht in das hohe Haus mit den gekreuzten Balken, sondern schlurft gemütlich in die Kaschemme gegenüber. Nicht ohne vorher die Bibel und Gesangsbücher im Dreck vor der Einnahmequelle von Sture Schnecke respektlos „abzulegen“. Die Tränke ist ein wahrer dionysischer Hort der Philosophen. Jede Geschichte ist es wert niedergeschrieben zu werden. Und so wird Zerbrochenes Glas zum Chronisten der gescheiterten Existenzen. Die Männer in dieser Bar, Kneipe, Stampe – wie auch immer man „Angeschrieben wird nicht“ bezeichnen mag – haben es nicht leicht im Leben. Doch statt zu lamentieren, erzählen sie dem Saufkumpanen ihre Geschichte. Zerbrochenes Glas hört zu, assoziiert das Gehörte mit eigenen Erfahrungen (Alain Mabanckou versteht es meisterhaft die Gedankenspiele der Handelnden mit Storylines aus Büchern und Filmen zu vermengen). Seine Schlussfolgerungen bergen keine großen weltverbessernden Erkenntnisse, das will er – und will auch der Autor – nicht. Vielmehr ist das Niederschreiben eine willkommene Abwechslung im ewigen Auf und Ab des Alltags, der eh nur hier stattfindet.
Alain Mabanckous Afrika ist nicht das Afrika der Lodges und Safaris. Es ist das reale, alltägliche Afrika. Das Afrika, das kaum ein Tourist kennenlernen wird, wenn er nicht seine Gedanken zusammenhält und sich auf eigene Faust aufmacht, den schwarzen Kontinent zu erkunden. Erobern kann er ihn eh nicht. In „Zerbrochenes Glas“ treffen schwarzer Humor, afrikanisches Laissez-faire und eine kleine Portion Alltagsfrust aufeinander. Herauskommt eine gekonnt-witzige Mixtur, die Afrika in einem komplett neuem Licht darstellt.