Blaue Flecken auf der Seele

Einem Dichter beim Schreiben, beim Ersinnen einer Geschichte über die Schulter zu schauen – fast unmöglich. Man stelle sich vor dem großen Thomas Mann bei seiner Routine gestört zu haben. Er hat den gesamten Tagesablauf seinem Werk untergeordnet. Störte ihn eines seiner Kinder, gab’s oft mehr als nur einen mahnenden Blick.

Und bei Françoise Sagan? Die lässt sich bei der Arbeit selbst auch nicht auf die Finger schauen. Sie kokettiert aber sehr wohl mit der Vorstellung dem Leser bei der Auferstehung ihrer Figuren teilhaben zu lassen. Zumindest gewinnt man diesen Eindruck, wenn man „Blaue Flecken auf der Seele“ Seite für Seite weiter in sein Herz lässt. Da sind Eléonore und Sébastian. Bruder und Schwester aus Schweden, die im Frankreich der Siebziger Jahre ihrem scheinbar nutzlosen Dasein unbeirrt frönen. Wenn sie denn etwas tun, dann nur, um den Zustand der absoluten Freiheit, den Zustand des Müßigganges, den Status des In-Den-Tag-Hineinlebens nicht zu verlieren. Ein paar Liebeleien hier, ein Kuss da. Ansonsten wälzt man sich im Antlitz der Sonne auf dem Boden der Nonchalance.

Die Zwischentöne, die man sich als Leser sonst selbst zusammenreimen darf, kann, muss (wie auch immer man aufgelegt ist), liefert die Autorin frei Haus gleich mit. So richtig weiß sie noch nicht wohin mit diesen beiden lustigen Gesellen, die der Gesellschaft – im Buch wie in der Realität) gehörig auf den Wecker gehen. Nonkonformismus, Alkoholismus, Genialität und Erfolgssucht – sicher Attribute, die man nur allzu gern Françoise Sagan andichtete. Hier und da vielleicht zu Recht. Doch niemals mit Allgemeinheitsanspruch. Genau so wie Eléonore und Sébastian im Grund schlechte Menschen sein können. Sie lassen ihre Schöpferin am ausgestreckten Arm über dem Abgrund des Scheiterns baumeln. Doch Sagan lässt sich nicht hängen, und schon gar nicht fallen.

Sie schaffte es immer wieder neue Geldquellen aufzutun. Immer kurz vor knapp entrann sie den Gläubigern. Und das schwedische Geschwisterpaar? Mal wird Schmuck versetzt, um weiterhin dazu zu gehören. Sie machen sich Politik und Erotik zum Spielball ihres Lebens. Nimm Du ihn, ich hab ihn. Was wie eine sinnbefreite Floskel klingt, ist für die beiden Lebenselixier. Doch das Ende naht. Eléonore und Sébastian sind clever genug dies zu erkennen. Und handeln.

Die Parallelen zu Sagans Leben sind offensichtlich. Sie zögerte nie das Leben prompt und ausgiebig zu genießen. Das Morgen ist weiter entfernt als manchem lieb ist. Dieses Buch ist ein Schulterblick über den zugewandten Rücken einer Autorin, die sich – wie ihre Figuren – nicht verbiegen ließ. Dieses Leben hinterließ Spuren, die bis heute sichtbar sind.

Die sterbenden Europäer

Immer wieder staunt man doch wie wenig man als weit gereister, weltoffener Europäer über den eigenen Kontinent weiß. Das standardisierte Europa kennt man. Allenthalben werden einem die konformistischen Begriffe um die Ohren gehauen. Doch abseits von EU, Europa, Außengrenze gibt es mehr als nur Statistiken, die brav von Beamten gefüttert werden, um dem Tun eine Zahl anzuheften. Mit dieser Zahl, mit diesen Zahlen lässt sich leichter arbeiten.

Aber in Europa lebt man, nicht um zu arbeiten, sondern um zu leben, es zu gestalten. Und so kommt auch, dass auf dem Balkan, in Bosnien, es für Spanier teilweise sehr leicht ist sich zu verständigen. Die Sepharden wurden Ende des 15. Jahrhunderts, zu der Zeit als Kolumbus die Neue Welt entdeckte, aus ihrer Heimat vertrieben. Dem Ruf Bajezet II. folgend trieb es sie gen Osten. Ins Osmanische Reich. Religionsfreiheit, Sicherheit im Recht und in wirtschaftlicher Hinsicht waren gute Argumente der iberischen Halbinsel den Rücken zu kehren. Einige blieben auf dem Balkan hängen. Hier stand man dem Judentum ebenfalls aufgeschlossen gegenüber. Karl-Markus Gauß lässt sich in Sarajevo, einer Stadt, die noch immer vom Krieg gezeichnet ist, von Jakob Finci die Geschichte seines Volkes erzählen. Finci ist der Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Von Clinton bis zum Papst und dem UN-Generalsekretär ließen sich bei ihm nieder, um seinen Worten zu lauschen.

Das Volk der Sorben ist in unseren Breiten sicher das bekannteste unter den im Buch vorgestellten europäischen Völkern. Von Bautzen bis zum Spreewald sind die auffälligsten Hinweise auf ihre Existenz die zweisprachigen Ortsschilder.

In Süditalien trifft man – bei Weitem nicht so offensichtlich – auf die Arbëresche. Sie kamen einst aus dem Süden Albaniens. Einige wenige Dörfer Kalabriens sind durch ihre Kultur geprägt. Gauß wird bei seiner reise gebeten einen Streit zu schlichten. Ihm als überzeugten Europäer traut man das wohl zu. So entspinnt sich eine Geschichte über einen bedeutenden Teil europäischer Geschichte.

Um die Jahrtausendwende war Karl-Markus Gauß in Europa unterwegs, um nach Menschen zu suchen, deren Identität nicht durch Landesgrenzen bestimmt wird. Ihre Geschichte verläuft oft im Treibsand der Vergangenheit. Nur wenige Reste ihrer Kultur sind noch vorhanden. Gesetze und Regeln, Traditionen und Gebräuche zu bewahren liegen in den Händen einzelner sich noch bewusster Sepharden, Gottschee (in Slowenien) Arbëresche, Sorben und Aromunen (in Mazedonien). Ihre Länder existieren nicht mehr, wenn es sie denn je gab. Sie leben in einem Europa, das sich durch Vielfalt auszeichnet. Und sie sind sich ihre Verantwortung das in Jahrtausenden Geschaffene an die nächsten Generationen weiterzugeben, bewusst. „Die sterbenden Europäer“ ist ein provokativer Titel. Der Autor Karl-Markus Gauß richtet ein starkes Licht auf ihre Kulturen, auf dass sie niemals verblassen. Preisgekrönter Autor mit dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung 2022.

Eine Nebensache

Eine der unzähligen widerwärtigen Seiten des Krieges ist die Namenlosigkeit der Täter. Die Opfer und deren Angehörige wissen nicht, wem sie die Schuld geben können. Die wenigen namentlich bekannten Täter bekommen so eine Bedeutung, die ihrer Gewissenlosigkeit eine Bedeutung angedeihen lässt, die sie niemals verdienen.

Und passt es ins Bild, dass eine namenlose junge Frau, Palästinenserin, von einem Vorfall liest, der exakt ein Vierteljahrhundert vor ihrer eigenen Geburt stattgefunden hat. Israels Soldaten patrouillieren an der frischen Grenze, um potentielle Angreifern, Gegnern, Saboteuren, Feinden Einhalt gebieten zu können. Dabei greifen sie auch eine junge Frau auf. Tage später ist sie tot. Gefangen genommen, gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt, ermordet. Im Namen … ja, im Namen von wem, von was? Die Frau hatte einen Namen, die Täter auch. Dennoch liegen ihre Gesichter im Schatten der Geschichte.

Die junge Palästinenserin, der das Datum des Todes dieser jungen Frau (und dabei spielt es überhaupt keine Rolle woher sie kam, welche Nationalität sie gehabt hat) so nahe geht, macht sich auf die Suche nach den Begebenheiten, die damals geschahen. Sie will nicht anklagen, Opfersteine errichten oder Gerechtigkeit erwirken. Sie ist persönlich an dieser Geschichte interessiert. Und das nur wegen dieses Datums: 13. August 1974.

Sie bricht auf, um eine Reise zu tun, die sich verändern wird. Checkpoints in und um Ramallah erschweren ihr ein ungehindertes Weiterkommen. Immer im Gepäck: Die Angst bei ihrer vermeintlich illegalen, zumindest sich unerwünschten, Recherche aufzufliegen. Und im Kopf rattern die Gedanken in Lichtgeschwindigkeit. Immer sind es die kleinen Dinge, die ihr auffallen. Schon oft ist ihr ein Detail eher ins Auge gestochen als das große Ganze. Warum nur? Warum passiert ihr das immer?

Adania Shibli wurde 1974 in Palästina geboren. Die Parallelen zu der namenlosen Frau in ihrem Buch treten offen zutage. Vielleicht ist sie selbst diese Frau, in Grundzügen sicherlich. Beim Lesen wird einem immer wieder bewusst, dass ein Krieg niemals mit der Unterschrift unter einem Vertrag beendet ist. Er ist niemals zu Ende. Auch wenn die Hoffnung stiftende Spruch, dass Menschen und nicht Kanonen töten, sie sind es ja schließlich auch, die ihn beginnen.

Es kann Gras über eine Sache wachsen. Doch was folgt ist immer wieder Gras. Es wird immer wachsen. Im Anbetracht der aktuellen Lage in Osteuropa erlangt dieses Buch eine Bedeutung, die über die Grenzen Israels, Palästinas und der Region hinausgeht. Es bleibt allein die Hoffnung, dass auch durch dieses Buch so manches Auge weiter geöffnet wird.

Stadtabenteuer Paris

Ja, Paris ist eine Reise wert! Ja, Paris ist eine Weltmetropole! Ja, Paris muss man gesehen haben! ABER: Jede Wette, dass achtzig Prozent der Besucher dasselbe gesehen haben. Was auf den ersten Blick auch nicht verwerflich ist. ABER: Schöner wär’s doch Paris, die Weltmetropole so zu erleben wie nur ganz Wenige. Es so sehen zu können wie es vielleicht sogar die Pariser nicht einmal erleben. ABER: Wie?

Augen auf beim Reisebuchkauf! Denn es gibt nur ein Buch mit wirklichen Abenteuern. Dieses hier! Birgit Holzer ist mit offenen Augen durch die Stadt der Liebe und der Lichter gewandert und hat das gefunden, was einen unvergessenen Paris-Trip auch wirklich unvergessen macht.

Ein Croissant auf den Stufen vor Sacré Cœur genießen, ein Genuss. Aber zur Mittagszeit oder kurz vor dem bzw. rechtzeitig zum Sonnenuntergang die Stadt aus exklusiver Höhe bestaunen und sich dabei den Gaumen kitzeln lassen – da muss man schon lange suchen, um fündig zu werden. Oder man schaut in die Stadtabenteuer Paris, Seite Quarante.

Auch ein Besuch auf dem Prominentenfriedhof Pere Lachaise mit Abstecher zu Edith Piaf und Jim Morrison lohnt sich. Man bekommt einen Plan zu den Promi-Gräbern und dackelt besonders in der Ferienzeit den Massen hinterher. Zweifelsohne ein besonderes Erlebnis. Dennoch ist es doch um einiges Nachhaltiger einmal in einem echten Klassiker herumzustromern. Hier liegt kein Schreibfehler vor. Ja, in einem echten Klassiker herumstromern. Und man darf sich sogar unterhalten, ohne dass der Maestro einem ein „Silence!“ entgegenschmettert. Man wandelt soeben durch ein Kino der besonderen Art. Eine ehemalige Fabrik wurde in ein lebendiges Museum verwandelt. Um einen herum schweben (besser man wandelt durch) Gemälde von Claude Monet, Auguste Renoir oder Henri Matisse. Man ist Teil der impressionistischen Revolution und Werke. Alles so lebendig… und das in Paris, der Stadt der Lieb und Lichter.

Es ist ein Privileg mit diesem Stadtabenteuer-Reisebuch durch Paris zu staunen. Dass es hier immer wieder was zu entdecken gibt, steht außer Frage. Doch wo suchen, wo beginnen, wo aufhören? Die Antworten lauten in umgekehrter Reihenfolge: Niemals, und zweimal in diesem Buch.

Wer das Wort Abenteuer allzu wörtlich nimmt und ein wenig zögert, dem sei versprochen, dass Abenteuer nicht automatisch mit Säbelrasseln gleichzusetzen ist. Es ist vielmehr das exotische Kribbeln auf der Haut, das man empfindet, wenn man etwas erlebt, was viele andere eben nicht erleben, weil sie schon an der Frage nach dem Wo scheitern. In der Reihe Stadtabenteuer sticht dieser Band besonders heraus. Denn sowohl Paris-Neulinge wie auch Experten werden große Augen machen.

The Narrows

Was, wenn es nicht passen darf, obwohl es eigentlich passt? Wer darauf die Antwort findet, ist der Wahrheit dicht auf den Fersen. Link hat es geschafft. Er hat einen ordentlichen Schulabschluss und sieht darüber hinaus noch verdammt gut aus. Er arbeitet in einer Bar. Warum nur? Mit seinem Zeugnis wäre doch viel mehr drin für den schneidigen jungen Mann. Das Problem ist zweigeteilt. Zum Einen befinden wir uns im Amerika der 50er Jahre. Zum Zweiten ist seine Hautfarbe ein wenig zu dunkel geraten, um auf der Karriereleiter Sprosse für Sprosse zu erklimmen. Das nennt man Rassismus. Und es ist bis heute ein gravierendes Problem. Nicht nur in den Narrows, bei New York, sondern weltweit. Bis heute!

Camilo ist von derlei Problemen dank Herkunft, der Brieftasche ihres Gatten und vor allem ihrer Hautfarbe ungefähr so weit entfernt wie Link vom Amt des Präsidenten der USA.

Hier treffen zwei im Inneren glückliche Personen aufeinander. Ohne Kalkül, mit Sorgen im Gesicht, im Herzen und im Kopf passiert, was nicht passieren darf. Link und Camilo leben nicht nebeneinander her. Sie sind Link und Camilo. Mit allem, was zu einer Affäre, Beziehung dazugehört. Allem bedeutet in ihrem Fall aber auch, dass offene Anfeindungen zum Alltag gehören. Ein Happy end scheint in unerreichbarer Ferne.

Ann Petry gelang in den USA mit „The Narrows“ der große Durchbruch. In Europa war dieses Meisterwerk bis heute Literatur, die es zu entdecken gilt. Jetzt endlich, nach fast siebzig Jahren, ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod (sei starb Ende April 1998), gibt „The Narrows“ einen unverblümten Blick auf eine Zeit frei, die qua Gesetz als beendet gilt. Sie schafft es, ohne auf die Tränendrüse zu drücken, jede Minute der Unterdrückung nahbar zu machen. Wie schon in ihren anderen Büchern „The Street“ oder auch „Country Place“ zeichnet sich auch „The Narrows“ durch eine fast schon nüchterne Distanz zu ihren Figuren aus. Aus eigenen Erfahrungen wusste sie, was es heißt anders zu sein. Ihre Familie war in dem Ort, in dem sie lebte die einzige schwarze Familie. Finanziell musste sie nicht darben. Emotional war es kein Zuckerschlecken. Doch sie biss sich durch.

Link und Camilo müssen sich ebenfalls durchbeißen. Ihrer Liebe steht nicht nur ein gedemütigter Ehemann entgegen. Es ist eine ganze Gesellschaft mit all ihren Vorurteilen. Im Dickicht der Liebe können sie sich frei entfalten. Was man halt als frei bezeichnen kann, wenn die ganze Welt wie ein Bollwerk im Weg steht.

Layla aus dem Zauberwald

Layla, ein kleines Mädchen, rennt aufgeregt durch die Stadt. Sie rempelt Leute an, wird von Autofahrern angehupt, weil sie auf der Straße läuft. Voller Begeisterung schaut sie die Schaufenster an, voller Bestürzung erblickt sie einen Pelzmantel. Was ist geschehen?

Layla wohnt im Wald. Die Blätter bieten ihr Schutz vor regen und Kälte. Die Tiere im Wald sind ihre Freunde. Sie – und nur sie – kann mit ihnen reden. Die Eule Windflug überbringt den Tieren des Waldes und Layla die bedrückende Nachricht, dass die Menschen in der Außenwelt dabei sind die Natur zu zerstören. Es gibt nur eine Möglichkeit den Irrsinn zu stoppen: Layla muss den Menschen die Augen öffnen. Die Sache hat allerdings einen Haken. Layla bleibt nicht viel Zeit. Sobald die Sanduhr, die Windflug ihr gegeben hat, das letzte Sandkörnchen durchrieseln lässt, kann Layla nicht mehr zurück in den Wald, nicht mehr zurück zu ihren Freunden. Ihr Leben wäre dann ein anderes…

Gänzlich ohne Pathos, mit allgegenwärtiger Empathie bringt Nicole Nickler in ihrem ersten Buch die Probleme der Zeit auf den Punkt. Ein kleines Mädchen wird zur Retterin der Welt. Okay, ein bisschen Pathos darf es dann doch sein. Aber den erhobenen Zeigefinger sucht man vergebens.

Auffallend sind die Tuschezeichnungen von Muntaha Al-Robaiy. Sie untermalen die ernsthafte Geschichte. Schwarz und Weiß wie die Zeichnungen ist die Geschichte nicht. Denn das draußen in der Außenwelt gibt es Spezies, die sich mit dem Untergang eine Existenz aufgebaut haben. Die Ratte Rocco ist so ein Opportunist. Ohne Müll und Gestank wäre sie verloren. Rocco weiß nur nicht, dass es auch ohne den Verfall ein gutes Leben geben kann. Layla weiß Rat.

Kinderbüchern mit aktuellem Bezug liegt oft ein Hauch von blindwütigem Aktionismus bei. „Layla aus dem Zauberwald“ bildet die rühmliche Ausnahme. Mit einfachen Worten und entwaffnend einfacher Argumentation tut Kindermund die Wahrheit kund.

Der Nachbar

Es gibt viel Arten zu nerven. Und es gibt Arten genervt zu sein. Wenn der liebe Nachbar von oben drüber des Nachts permanent die eigenen Nerven durch akustische Attacken überstrapaziert, gehen einem schon mal die nerven durch. Weil es nervt!

Mal mit ihm reden, denkt sich der Biologierlehrer, dessen nächtliche Ruhe durch das Getrappel, den Fernseher, Gespräche, Streit, kurzum: Durch Lärm, beeinträchtigt wird, ist nicht drin. Das hilft nichts. Der Typ da Oben, Ygor, mit Ypsilon, was ein Quatsch, ist einfach unbelehrbar. Dem müsste man mal so richtig … die Leviten lesen. Ihm den Hals umdrehen. Sogar noch Schlimmeres geht dem Pädagogen durch den Kopf.

Ein Schüler könnte diesen heiklen Job ausführen. Der Grobschlächtigste unter ihnen wäre prädestiniert dafür. Nach der Schule bessert er sein spärliches Nebenjobgehalt mit Überfällen auf. Doch was, wenn der Grobschlächtige mal auf die Idee kommt den Auftraggeber, ihn, den Lehrer später einmal zu erpressen? Keine gute Idee. Da muss man selbst Hand anlegen. Selbst ist der Mann. Wenn seine Frau das wüsste. Was für ein ganzer Kerl er ist. Dann würde sie ihn wohl nicht verlassen wollen. Aber vielleicht ist es dafür eh schon zu spät?!

Die Tat im unruhigen Schlafe zu ersinnen, das ist einfach. Doch den letzten, entscheidenden Schritt auch wirklich zu gehen, dafür braucht man Mut. Die letzten spärlichen Überreste dieser Courage im Herzen, setzt der Biologielehrer einen Schritt vor den Anderen. Die Tür öffnet sich. Pause. Im Bad liegt die Leiche des lärmenden Übeltäters mit Ypsilon. Wie ein Held fühlt er sich nicht. Auch wenn er weiß, dass die nächtlichen Stunden nun in Morpheus Armen vergehen werden. Wäre da nicht das schlechte Gewissen.

Bei der Gerichtsverhandlung versucht der Anwalt des Angeklagten einen Kniff. Lärmbelästigung als mildernder Umstand. Doch Milde schützt vor Strafe nicht. Das Böse hat schlussendlich gesiegt.

Patrícia Melo lässt dem Bösen ungeheure Freiheiten. Das Gute ist gefangen im Korsett der Regularien und der eingefahrenen Pfade dessen, was tun darf und was man zu unterlassen hat. Bevor es still wird um den Lehrer, der doch nur Ruhe suchte, muss er durch das Fegefeuer der Faszination gehen. Fans säumen den Weg ins Gerichtsgebäude und später ins Gefängnis. Sie sehen in ihm einen Helden, der das recht selbst in die Hand genommen hat. Dass er dabei nur verlieren konnte, wird vom Neuartigen, vom Mut überstrahlt. Des Teufels Helfer ist spannender als der willfährige Gefolgsmann des Gesetzes.

Alice

Ein Roman wie ein Popsong. Ein sich wiederholender Refrain, lyrische Verarbeitung dessen, was einem umgibt und antreibt. Variationen eines Themas.

Max Rossmann ist Redakteur beim Anzeiger, 70er Jahre, Schweiz. Den Kulturteil des Lokalteils darf er füllen. Das füllt ihn aus. Die Träume, die man mit Anfang Zwanzig noch hat, behält er für sich.

Der Abend soll in einer Bar ausklingen. Bier, Kippen und ein bisschen Live-Musik – ja, so könnte aus dem Alltag ein vergnüglicher Ausklang werden des selbigen werden. Doch alles kommt ganz anders.

Auf der Bühne stimmt eine Sängerin umständlich ihre Gitarre. Doch als Alice Bay zu singen beginnt, brechen bei Max alle Dämme. Tränenüberströmt bricht er innerlich zusammen. Diese Stimme! Max reißt sich zusammen und beschließt, dass er diese Frau, mit dieser Stimme unbedingt interviewen muss. Was war passiert?

Kurzum: Alice. So hieß auch seine Ex-Freundin. Mittlerweile im gedanklichen Aktenschrank unter Erfahrung oder „das war’s“ angelegt, springt ihm im Kopf mit voller Wucht entgegen. Er erinnert sich. An Paris, die schönen Zeiten mit Alice. Und nun ist Alice, also der Name wieder aus der Ablage auf seinem Schreibtisch gelandet.

Der erste Versuch des Interviews scheitert. Alice Bay erscheint nicht. Kurze Zeit später treffen sich Max und Alice Bay wieder. Sein Artikel hat ihr eine erhebliche Zuschauermenge beschert. Sie freut sich riesig. Denn sie will berühmt werden. Weil sie die Menschen berühren, vielleicht sogar verändern will. Doch dann … ist Alice Bay (wieder einmal) verschwunden. Dafür Alice wieder da. DIE Alice. Seine Ex.

Max Rossmanns Leben wird ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt. Für ihn ist das aufregend. Nicht wissen, dass es noch lange nicht das Ende sein wird. Denn Alice Bay ist wieder (einmal) da. Noch nicht einmal in die richtige gedankliche Aktenschublade einsortiert, tobt über Max ein Orkan.

Frank Heer gibt dem Pop-Phänomen Alice neues Futter. Die beiden Alice leben nicht neben Max – sie leben mit ihm, sind mitten in seinem Leben. Angekommen ist er noch lange nicht. Weder mit noch ohne Alice. So oft er sich einredet zu wissen, was Liebe ist, so oft scheitert er bei der Umsetzung im echten Leben. Die Musik der Zeit – von Bowie bis Reed, von Led Zeppelin bis Roxy Music – hilft ihm dem Vielklang eine gewisse Ordnung abgewinne zu können. Doch mehr auch nicht.

„Alice“ ist der Soundtrack einer vergangenen Zeit. Die Parallelen zur Gegenwart sind unübersehbar. Und das nicht nur, weil heutzutage jedes noch so gut verträgliche Riff in Mixes bis zur Unkenntlichkeit verarbeitet wird. Nein. Dieses Buch beweist, dass die Lösung von Problemen niemals einfacher werden.

Stadtabenteuer Stockholm

Wenn man schon mal hier ist – dann muss man auch alles mitnehmen, was mitzunehmen ist. Wenn man schon mal hier ist – so lautet auch eine Rubrik am Ende eines jeden Kapitels. Wenn man schon mal hier ist – braucht man dieses Buch.

Stockholm als schlummernde Grazie zu bezeichnen, ist noch richtig. Doch die Hauptstadt Schwedens erwacht immer öfter, immer früher, immer heftiger. Waren noch vor zwanzig Jahren nur eine Handvoll Städte auf der To-Do-List für Cityhopper, so sind es mittlerweile so viele, dass man sie kaum noch zählen kann. Und immer öfter wird die schwedische Hauptstadt genannt. Zu Recht, das wissen auch Antje und Johannes Möhler.

Die den Kinderschuhen entwachsene Buchreihe Stadtabenteuer, geht in eine neue Runde. Und den Auftakt dieser Runde macht Stockholm. Eine zerklüftete Stadt, die aus unzähligen Inseln und Inselchen besteht. Klar, dass man hier noch echte Abenteuer erleben kann. Das Abenteuer beginnt schon auf der ersten Umschlagseite. Sieben Fragen, die natürlich alle im Buch beantwortet werden, führen den Neugierigen auf die richtige Fährte.

Warum nicht mal in einem Museum ein Abenteuer erleben? Klingt auf den ersten Blick nicht besonders dramatisch. Muss es ja auch nicht werden. Aber allein schon die Vorstellung, dass es möglich ist… Die Rede ist vom Schnapsmuseum. Nicht nur gucken lautet hier die Devise. Und wenn man schon mal hier ist … das ist es wieder … um die Ecke kann man dem dicken Kopf, dem Kater, wie auch immer, noch mehr Futter geben. Der Vergnügungspark Gröna ist gleich um die Ecke. Wem dieses Abenteuer doch zu abenteuerlich ist, der nüchtert beim Spaziergang durch die Wälder der Insel Djurgården aus. Auch das Wasamuseum lässt den Kopf schnell das Hochprozentige Abenteuer vergessen.

In Stockholm ist sogar eine Shoppingtour ein Abenteuer. Upplandsgatan und Odengatan lauten die Zauberworte, die die Autoren zum Flanieren verleiten. Retrochic und echte Unikate warten hier nur darauf endlich aus der Versenkung geholt zu werden.

Stockholm als einzigartiger Abenteuerspielplatz? Ja, aber. Natürlich rennt man nicht mit brennender Fackel und Säbel zwischen den Zähnen durch die Stadt, um sich wie ein Abenteurer zu fühlen. Man erobert sie auch nicht, um sie sich Untertan zu machen. Vielmehr lädt dieses außergewöhnliche Reisebuch dazu ein, vieles fernab der festgetrampelten Pfade selbst zu entdecken. Antje und Johannes Möhler halten sich nicht still im Hintergrund, vielmehr stupsen sie den Leser und Besucher der Stadt immer wieder an, den nächsten Schritt zu wagen. Wenn das kein Abenteuer ist?!

Comer See

Einer der am meisten gemachten Fehler ist wohl, den Comer See überkorrekt einzudeutschen: Es ist nicht der Comoer See! Will man nicht gleich als Touri unangenehm auffallen, sondern etwas auf sich halten, verbringt man die Zeit am Lario, römisch für Lacus Larius. So nennen die Einheimischen den Comer See. Wie alle oberitalienischen Seen nimmt auch der Lago di Como eine besondere Stellung unter den eiszeitlichen Hinterlassenschaften ein. Und das nicht nur, weil Hollywood den See für sich entdeckt hat, George Clooney kann man ab und an hier urlauben sehen. Doch wer will schon Georg Clooney hinterherhecheln, wenn er in dieser grandiosen Kulisse die schönste Zeit des Jahr verbringt?!

Beginnend an der Schweizer Grenze im Norden schlängelt sich eine der beeindruckendsten Landschaften durch die Alpen. Ein Blau, das so kitschig ist, dass es schon wieder wahr sein muss. Das ist der Lago di Como. Bei einer Seefahrt (wortwörtlich zu nehmen) sieht sich das Auge nicht satt genug. Alles so hübsch, so ansehnlich, so fein. Reisebuchautor Eberhard Fohrer ist auch dieser Faszination erlegen. Doch rasch aus dem Rausch erwacht, macht er sich ans Werk und beweist auf mehr als zweihundertfünfzig Seiten, dass nicht allein das Wort hübsch ausreicht, um die Sinne mit Eindrücken zu fluten. Fast schient, dass er keinen Steinen auf dem anderen gelassen hat, um seinen Reiseband nachhaltig mit Wissen zu füllen. Ob man nun zu Fuß, mit dem Rad oder dem Auto unterwegs ist, Fohrer war schon da. Und er weiß wirklich alles, was man wissen muss. Jetzt muss man nur noch selbst auswählen, was man sehen, tun, erkunden will.

Abwechselungs- und kenntnisreich kann man jedem Tipp des Autors folgen. Como, die namensgebende Stadt, verschlungene Pfade, exzellente Restauranttipps, unvergessliche Aussichten – und immer wieder kleine Geschichten am Rande (in diesem Fall in farbigen Kästen) lassen jeden Ausflug im, am und rund um den Comer See zu einem besonderen Erlebnis werden. Selbst die große Geschichte hat vor dem See nicht Halt gemacht. Ende April 1945 wurde hier der Duce auf der Flucht von Partisanen aufgegriffen. Einen Tag später baumelte sein lebloser Körper in Mailand auf dem Piazzale Loreto.

Noch ein letztes Wort zu Hollywood und Comer See. Der Ort Bellagio am Kamp, wo sich der See in zwei Arme teilt ist nicht nach dem gleichnamigen Casino in Las Vegas benannt. Das war wohl eher anders herum…

Es gibt nur wenige Seen, die es schaffen, dass ein Autor ein Buch über sie so reichhaltig füllen kann. Inklusive Ausflüge gen Milano und Bergamo und umliegende Seen ist es dank dieses Buches ein Leichtes hier viele Tage und Wochen ohne den leisesten Anflug von Routine zu verbringen.