Miss Muriel

Es sind nur sechs Buchstaben, die die ganze Perfidität wiedergeben, die das Leben der jungen Erzählerin umfasst. Sie ist zwölf. Eine gute Schülerin. Sie hat Freunde. Lebt komfortabel, ihr Vater betreibt mit ihrer Tante zusammen eine Apotheke. Sie sind die einzigen Schwarzen im Ort. Und da beginnt die Perfidität. Als Zwölfjährige versteht sie noch nicht alles. Aber sie sieht mehr als diejenigen, die im Laufe der Jahre gelernt haben (lernen mussten) wegzusehen und zu ertragen, was niemand ertragen muss.

Es sind die kleinen, offensichtlichen, täglichen Rassismen, die das Zusammenleben mit Fiebrigkeit erfüllen. Das merkt man sogar schon im Alter von Zwölf! Denn Muriel ist nicht einfach nur ein Markenname. Für viele ist es Anlass die eigenen „guten Manieren“ Anderen aufzuzwingen. Miss Muriel – so muss es heißen – so viel Zeit muss sein.

Allein schon die titelgebende erste Kurzgeschichte in diesem lässt den Leser erschauern. Offener Rassismus ist manchmal leichter zu ertragen als der Unterschwellige, denn er nistet sich tief unter der Haut ein und verweilt dort ein Leben lang. Ann Petry lässt den häuslichen Kokon der Erzählerin in wohligen Farben erstrahlen. Die kleinen Dellen in dessen Außenhaut sind sichtbar, aber nicht lebensbedrohend. Unmerklich und unaufhörlich jedoch beginnt diese Hülle zu zerreißen. Ein angsteinflößender Prozess, besonders für einen Teenager, der die ersten eigenständigen Schritte macht. Sie beobachtet wie die Liebe in Person des Schusters in ihr Haus einzudringen versucht. Er hat sich in Aunt Sophronia verguckt. Die lässt ihn jedoch abblitzen. Weil er weiß ist? Den Barpianisten Chink lässt sie aber ebenso wenig an und schon gar nicht in ihr Herz. Er ist ein Windhund, der nach der Badesaison wieder von dannen ziehen wird.

Die Parallelen zu Ann Petrys Leben sind offensichtlich. Auch sie wuchs in New England auf. Ihr Papa hatte eine Drogerie, später mehrere Läden. Sie selbst studierte anfangs Pharmazie bevor sie sich dem Schreiben endgültig zuwandte. Auch sie erfuhr Beleidigung und Erniedrigung – wegen ihrer Hautfarbe.

Jede einzelne Geschichte ist ein in sich geschlossener Kosmos, den man in seiner ganzen Vielfalt erkunden darf. Ganz unaufgeregt begegnet man ganz normalen Menschen in ganz normalen Situationen, die erst nach und nach aus ihrer Normalität herauskommen und hinauskatapultiert werden. Sie auf ihrer Umlaufbahn zu begleiten ist ein Privileg, das man mit Entsetzen verfolgt und mit einem Lächeln der Dankbarkeit ins herz schließt.