Estland. Welcher der drei baltischen Länder ist das nun? Das oben, in der Mitte oder das ganz unten? Es ist das Obere. Das an Finnland grenzt. Wer allein schon den Landesnamen in Originalsprache liest, kommt schnell auf die richtige Lösung: Eesti. Die Hauptstadt ist Tallinn. Damit ist das Wissen über Estland für die meisten schon ausgereizt. Ach ja, Estland liegt an der Ostsee. Und weiter?
Stefanie Bisping zeigt in ihrer Lesereise ein Land, das gar nicht so weit weg ist. Weder geografisch, noch sind die Menschen mit ihrer Kultur so weit entfernt, dass das Land wie eine völlig fremde Welt erscheint. Gleich im ersten Kapitel werden die Esten sehr anschaulich charakterisiert. Eigenbrötler, die die Gemeinschaft genießen. Eine Eigenschaft, die in unseren Breiten gern als Ideal angesehen wird.
Seit 1991 ist das Land unabhängig. Und seitdem nimmt die Wirtschaft mit ihrem Füllhorn an Innovationen immer wieder Anlauf sich an die Spitze zu katapultieren. Meist gelingt das auch. Wenn es so etwas überhaupt gibt, ist Estland das digitalisierteste Land Europas. Parktickets, Wahlzettel, Parlamentsabstimmungen – alles ohne Papier. Alles digital. Selbst in den abgelegensten Ecken des Landes, auch wenn nicht überall das Netz gleichmäßig stark vorhanden ist.
Die augenscheinliche Diskrepanz zwischen selbstgewählter Einsamkeit und fröhlichem Miteinander wird sichtbar, wenn man sich die Bevölkerungsverteilung anschaut. Dreißig Einwohner pro Quadratkilometer – zum Vergleich München hat ungefähr genauso viel Einwohner. Hier teilen sich über viertausend einen Quadratkilometer. Sobald es in Estland ein fest gibt, und davon gibt es mehr als Stunden im Jahr, trifft man sich, singt zusammen und genießt die estnische Küche. Die ist wie das Land einem ständigen Wandel unterworfen. Wo vor nicht allzu langer Zeit Fleisch, Kartoffeln und Gemüse die Teller füllten, haben sich einheimische Köche den einheimischen Pflanzen und allem, was der einheimische Boden hergibt, verschrieben. Allein die Aufzählung der Zutaten, lässt dem Leser das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Zu Estland gehört eine Vielzahl von Inseln. Irgendwas zwischen anderthalbtausend und zweitausend werden es wohl sein. Als estnische sozialistische Sowjetrepublik lebten hier fast ausschließlich Linientreue, meist Fischer, deren Boote am Abend weggeschlossen wurden. Schließlich war der Weg bis ins „freie Finnland“ überschaubar kurz. Heute erblühen hier kleine Paradiese. Idyllische Strände, unberührte Natur und ehrliche gelebte Traditionen. Wer echte Ruhe sucht, hat vielleicht nicht unbedingt den bequemsten Anfahrtsweg, wird aber im Gegenzug mehr als belohnt mit dem, was er im Tiefsten sucht. Die umfassend überarbeitete Neuauflage ihrer Lesereise kennt nur ein Ziel: Estland als weißen Fleck von der Landkarte der Reiseziele zu verbannen und in den Fokus derer zu rücken, die im Handumdrehen Moderne und Traditionsbewusstsein ohne viele Verrenkungen zu finden hoffen. Selten wurde ein Land so umfassend in kompakter Form beschrieben.