Der Sommer 2017 brachte der Literaturwelt und ihren Lesern ein besonderes Stück Weltliteratur zurück in die Herzen: Die Neuübersetzung von Charles Baudelaires „Blumen des Bösen“. Ein Buch, eine Gedichteflut voller Hingabe, die auch diejenigen überzeugte, die mit Gedichten nicht allzu viel anfangen konnten. Jetzt durften sie sich in die Schar derjenigen einreihen, die dem großen – zu Lebzeiten verkannten, verhassten und gescholtenen – Autor nun für immer folgen würden.
Der Sommer 2019 vervollständigt nun das Bild des Charles Baudelaire und seiner Kunst der wohligen Worte. Man muss kein Prolet sein, um Missstände direkt anzuprangern. Man muss nicht immer hinter vorgehaltener Hand das Offensichtliche, doch Unaussprechliche nach außen tragen. Baudelaire kannte keine falsche Scham. Ekstase und Kontemplation waren für ihn nicht einerlei, sondern zart verwobene Tatsachen, die einträchtig Hand in Hand gingen, sich umschlangen und sich nicht darum kümmerten, wer da pikiert zur Seite schaut.
Charles Baudelaire bezeichnet man als Erfinder der Prosalyrik. Nun, wer immer noch meint, dass Gedichte sich auf Teufel-Komm-Raus reimen müssen, der wird an diesem Werk keine Freude haben. Wer sich auf die kurzen Texte einlässt und sich Wortwucht erfreuen kann, kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus.
Der Titel „Der Spleen von Paris“ ist vielleicht ein wenig irreführend. Denn so spleenig sind die Pariser auch wieder nicht. Jede Stadt, jedes Land hat seine Eigenarten – das nennt man Kultur. Das Bild von Baudelaires Kunst wird durch diesen Band abgerundet und in gewisser Weise abgeschlossen. Wieder entdeckte Gedichte genießen denselben Stellenwert wie Gedichte, die ihm zugeordnet werden sowie seine frühen Werke und die namensstiftenden Gedichte, die unter dem Titel „Le Spleen de Paris“ bekannt wurden. In ihnen eingeschlossen sind das Stück „Idéolus“ und „Die Fanfarlo“, eine Novelle, die persönlicher kaum sein kann.
Wer sich in die Seiten vertieft, kommt unweigerlich in Gedanken in der französischen Hauptstadt an, auch ohne sie je besucht zu haben. Parkanlagen, dunkle Kemenaten und zwielichtige Bars sind das Terrain von Charles Baudelaire. Über fünfhundert Seiten – zweisprachig, was den Reiz des Lesens durchaus verstärkt, auch wenn man des Französischen nicht mächtig ist – ziehen den Leser in eine Welt, die seit mehr als hundert Jahren Geschichte ist. Heute ist Paris laut, überlaufen und Karneval der Eitelkeiten. Letzteres war es übrigens auch schon zu Baudelaires Zeiten. Wer sich die Mühe macht ein ruhiges Plätzchen in Paris zu suchen (schwer, aber nicht unmöglich – ganz früh auf den Stufen von Sacre coeur) und auch nur ein wenig die Augen über diese Zeile fliegen zu lassen, versteht warum beispielsweise Jim Morrison von den Doors einst Paris als letztes Exil sich suchte. Dank der Übersetzung von Simon Wehrle ist Paris, ist Baudelaire um ein Geheimnis ärmer. Aber der Leser um ein Vielfaches reicher geworden.