Die zerbrechliche Zeit

Wiederholt sich hier etwa Geschichte? Es ist lange her, dass Amanda ihre Mutter in den Abruzzen besucht hat. Das kleine Dorf war ihr schon in Kindertagen zu klein. Mailand – da gehörte sie hin. Dort ist sie nun, lebt ihr Leben. Bis zu ihrer Rückkehr. Das geschulte Mutterauge, vor allem aber das Herz, erkennt, dass etwas nicht stimmt. Doch Lucia schweigt. Nimmt es stoisch hin, wenn ihr Amanda das Haus und das Leben auf den Kopf stellt. Denn Lucia kennt dieses Gefühl. Es war damals…

… als die beiden Schwestern Virginia und Tania aus dem Leben gerissen wurden. Auf dem Campingplatz, der von Osvaldo verwaltet wurde, und dem Grund, der Lucias Vater gehörte. Bestialisch ermordet und vergewaltigt. Mitten im Nirgendwo, in den Bergen am dente del lupo, am Wolfszahn, wurden sie aus dem Leben gerissen, das eigentlich ihnen gehören sollte.  Ihre beste Freundin Doralice war an diesem denkwürdigen Tag mit den Schwestern Virginia und Tania unterwegs. In den Bergen, wo man bei guter Sicht die kroatischen Inseln sehen konnte. Wo die Natur ihr prächtiges Spiel entfaltet. Wo die Hektik der Welt nur ein Gespinst ist.

Ein Schuss, noch ein Schuss, Schreie. Und das Dorf? Es findet sich zusammen. Die Carabinieri sind vor Ort. Blaulicht. Eine unerfahrene Staatsanwältin. Ein Verdächtiger. Ein Täter. Ein Urteil. Dem Recht wurde genüge getan. Gerechtigkeit sieht anders aus.

Donatella di Pietrantonio gleitet wie eine gute Fee über das Dorf und seine unheilvolle Geschichte. Sie blickt in die Herzen der Menschen und legt ihre Seele frei, ohne das sie frieren müssen. Gefühlvoll baut sie eine Kulisse auf, die jedem droht, der hinter die Kulissen schauen will. Lucia hat das alles hinter sich gelassen, noch immer lebt sie an dem Ort, der ihr ganzes Leben bestimmt. Hier ist sie geboren, hat die schlimmste Zeit – durch einen Zufall – überlebt, sie blieb hier und wird hier auch einmal ihr Ende finden. Mutlos? Nicht im Geringsten! Wahrscheinlich ist die Entscheidung hier zu bleiben die mutigste in ihrem Leben.

Nach und nach schält die Autorin eine Episode aus dem Herzen der Hauptakteurin heraus, die noch immer sichtbare Narben trägt. Es muckert unter der Haut. Doch Lucia hat gelernt damit zu leben. Sie hat einen hohen Preis bezahlt. Alles auf einmal, Ratenzahlung nicht möglich. Kunstvoll, stilistisch einwandfrei, vehement voranschreitend nimmt sie den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Anklagen zwecklos. Das Herz spricht, wenn es sprechen will. Und das tut es in „Die zerbrechliche Zeit“ mit sanfter Stimme, die Risse hinterlassen wird.