Rio de Janeiro sollte es sein, als Özgür ihre türkische Heimat verließ. Das ist eine Zeit her. Und noch immer sorgt sich die Mutter daheim um die Tochter in der Ferne. In Istanbul fällt Schnee, während in Rio die Sonne erbarmungslos auf die Köpfe herniederbrennt. Irgendwo wird geschossen, wieder. Oder immer noch?! Özgür nimmt die hörbare Gefahr kaum noch wahr.
Die Favelas haben die Hügel der Stadt erobert. Drogenhandel, Mädchenhandel, Waffenhandel haben nicht dazu beigetragen Rio als Handelszentrum zu etablieren. Touristen werden allerorten und zu jederzeit auf die Gefahren der Stadt hingewiesen: Kein Schmuck, keine Wertgegenstände, Vorsicht AIDS. Der schönste Ort der Welt ist gelichzeitig einer der gefährlichsten. Und Özgür? Sie lebt hier, ja, Leben. Eines, das sie in ihrer Heimat nicht leben konnte.
Die Gestrandeten, die Geächteten, die Gepeinigten sind die nächsten Verwandten ihrer neuen Familie. Die Armut ist, was sie verbindet. Immer noch ist sie als Gringa, als Ausländerin zu erkennen. Und somit verstärkt den Begehrlichkeiten der zwielichtigen Gestalten ausgesetzt. Doch dieses Leben ist die Grundlage ihres Buches, das sie schreiben will. Ein Buch über eine Stadt, die sich in einem Umhang aus menschlichen Fasern hüllt. Ein Umhang, der modrig riecht wie das Leben. Ein Umhang, der Geborgenheit gibt, egal wie schäbig er aussieht. Ein Umhang – eine Pelerine.
Aslı Erdoğan bricht mit der Tradition, dass alles seine Ordnung haben muss. Ein sehr persönlicher Roman, der den Leser nicht in die türkische Heimat der Autorin führt, sondern ins paradiesische Rio de Janeiro. Paradies? Bei Weitem nicht. Wer hier im wahrsten Sinne des Wortes strandet, kommt nicht mehr von hier weg. Und Özgür (oder doch Aslı Erdoğan?) lässt die Stadt nicht mehr los. Die Gemeinsamkeiten Rios und Istanbuls werden nicht offen ausgesprochen, doch sie sind erkennbar. Riesenstädte, die aus allen Nähten platzen. Hoffnungsvolle Salbungen für alle Sinne. Orte, in die sich kein Tourist wagt. Beide Städte sind auf Gegensätzen errichtet. Das Eine kann nicht ohne das Andere. Und Özgür kann nicht ohne beides.
Das Werk von Aslı Erdoğan ist geprägt von fremden Kulturen und ihrem Verständnis für sie. Das brachte ihr mehr als einmal Ärger, aber 2010 auch den bedeutendsten Literaturpreis der Türkei. Seit August 2016 sitzt Aslı Erdoğan in türkischer Untersuchungshaft.